Von offenen Türen und Hinausgehen an die Ränder. Eine kommentierende Lektüre von Evangelii Gaudium. Teil 4

Sandra Lassak/ Peru

Von offenen Türen und Hinausgehen an die Ränder – Ein Kommentar zu EG Kap. 1 (46-49)

Um die missionarische Umgestaltung der Kirche: Darum geht es im ersten Kapitel, in dem Papst Franziskus die missionarische und pastorale Neuausrichtung des von ihm geforderten „kirchlichen Aufbruchs“ anhand ekklesiologischer Wesensmerkmale aufzeigt. Über das kirchliche Selbstverständnis und den Ort von Kirche nachzudenken, bedeutet zwangsläufig auch, sich der Frage nach Mission zu stellen, denn Kirche ist nur als missionarische tatsächlich Nachfolgegemeinschaft Christi. Kirche muss sich jederzeit in diesem dynamischen „Zustand permanenter Mission“ (25) befinden und dies weltweit wie es bereits im Dokument der V. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe im brasilianischen Aparecida festgelegt wurde. Was es heißt, Kirche im permanenten Zustand der Mission zu sein, ist allerdings keine Erfindung von Aparecida, sondern wurde bereits in den 1940er Jahren von der Arbeiterpriesterbewegung in Paris gezeigt. In ihrer pastoralen Praxis, die in der Solidarisierung mit den Kämpfen der Arbeiter bestand, gaben die Arbeiterpriester ein Zeugnis dafür, dass eine missionarische Kirche sich immer wieder neu entsprechend den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der jeweiligen sozialen Gruppen inkarnieren, d.h. entwerfen und Gestalt annehmen muss. In diesem Verständnis von Mission geht es also nicht um die Frage nach Strategien zur Rück- oder Neugewinnung von Kirchenmitgliedern, sondern um präsent zu sein gerade an den Orten brennender Fragen der Zeit, wo (gutes) Leben verhindert und stattdessen todbringende Strukturen aufrecht erhalten werden. Als Christ_innen und als Kirche insgesamt sind wir aufgefordert, uns an diese unzähligen Orte aufzumachen. Die so entstehende Dynamik erfordert eine beständige Kontextualisierung der Botschaft und Formen ihrer Verkündigung. Sprache und Ausdrucksweisen müssen gefunden werden, die den jeweiligen sozialen und kulturellen Gruppen etwas sagen und die Botschaft somit verständlich machen, wenn wir uns dabei auch aller Begrenztheit bewusst sein müssen. Was eine Kirche im Zustand permanenter Mission bedeutet, erläutert Franziskus in dem mit nur vier Punkten (46-49) sehr kurzen Abschnitt. Darin ruft er dazu auf, die Begegnung mit den Armen zu suchen, denjenigen, die nicht unmittelbar in unseren Kirchen anzutreffen sind, zu suchen.

Mit dem Bild der „offenen Türen“ beschreibt er an erster Stelle die Haltung, die Kirche gegenüber anderen einnehmen muss. Für ihn heißt eine Kirche der offenen Türen eben nicht wie es oftmals auch verstanden wird, die Türen zu öffnen und die sogenannten „Fernstehenden“ in das Haus der Kirche einzuladen, sondern sich selbst in Bewegung zu setzen und hinauszugehen auf die Straße. Denn, um den Armen zu begegnen müssen wir gewohnte (Kirchen-)räume und die Grenzen des pfarrgemeindliche Territoriums verlassen und dorthin gehen, wo die alltäglichen (Überlebens-)Kämpfe stattfinden, wo es schmutzig und staubig ist, wo es lärmt, wo Menschen auch leben müssen. Auf die Straße zu gehen, kann aber auch in dem Sinn verstanden werden gegen Missstände und Unrecht aufzustehen, nicht zu schweigen, sondern prophetisch die Stimme zu erheben und laut „Nein“ zu sagen zu all den Situationen, wo Unrecht, Ausschluss und Ausbeutung geschehen. Möglicherweise bedeutet dies auch, sich Konflikte einzuhandeln, Privilegien, sozialen Status und Macht einzubüßen. Doch diese „verbeulte Kirche“ (49), eine Kirche also, die nicht zum gesellschaftlichen und ökonomischen Establishment gehört, sondern deren „Image“ gerade aufgrund ihres auf der Straße sein mit dem „Schlamm der Straße beschmutzt“ (45) beschmutzt ist, entspricht wohl mehr dem Geiste Jesu als diejenige, die sich mit Macht und Prunk als „eine Gruppe von Auserwählten“ (28) zeigt.

Das Bild der „offenen Türen“ wird ergänzt mit einer weitern Haltung die grundlegend für die Begegnungen auf der Straße sind: eine Haltung der offenen und leeren Arme wie sie der Vater gegenüber dem verlorenen Sohn zeigte, vergleicht sie Franziskus in Punkt 47. Ohne Urteile, ohne Forderungen schweigend und lediglich mit der Geste der offenen Arme nahm er diesen wieder auf, bedingungslos wurde er wieder in die familiäre Gemeinschaft integriert. Diese Haltung ist eine zutiefst missionarische. Dem anderen, demjenigen am Straßenrand zu begegnen ohne moralische Urteile, ohne individualisierte Schuldzuweisungen zu machen, sondern in der Haltung der offenen Arme, die Bereitschaft zur wirklichen Begegnung ausstrahlen und mit der Umarmung Zeichen von Gleichheit und Solidarität setzen. Diese missionarische Praxis wird gestärkt im liturgischen Leben der Kirche. Die Eucharistie darf nicht zu einem individualisierten Heilmittel verkommen, sondern indem sie erinnernde Präsenz an denjenigen ist, der für seine Mission und seinen Einsatz für eine andere Welt das Kreuz auf sich genommen hat, muss sie stärkend und anstiftend für eben diesen Einsatz sein. Und die Schwachen und Ausgeschlossenen stärken und eben nicht „Belohnung der Vollkommenen“ sein, wie dies in der hierzulande verbreiteten Praxis der Kommunionausteilung der Fall ist. Dabei werden nur die zum Tisch des Herrn gebeten, die wie es heißt „entsprechend vorbereitet sind“, d.h. konkret diejenigen, die die regelmäßige Beichte praktizieren. Und so beendet Franziskus den Punkt mit dem Hinweis darauf, dass der Auftrag der Kirche nicht darin besteht, wie eine „Zollstation“ moralische Kontrolle auszuüben, sondern vielmehr zum Haus des Vaters werden muss, in dem jeder mit seinem mühevollen Leben Platz hat. Durch die Begegnungen auf der Straße wird Kirche also selbst auch verändert.

Diese „missionarische Dynamik“, die Franziskus unter Punkt 48 von der ganzen Kirche fordert, ist verbunden mit ganz klaren Optionen. Die universale Botschaft des Evangeliums richtet sich an alle und schließt niemanden aus, dennoch gibt es Priorisierung. So sind es nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, diejenigen, die gesellschaftlich und kirchlich wohlsituiert sind oder sich zumindest in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche befinden, sondern die Armen, die am Rande stehen, ausgeschlossen sind. Von ihren Perspektive, ihren Erfahrungen und Alltagsrealitäten gilt es das Evangelium zu lesen, interpretieren und leben. Und diese Armen, die die Theologie der Befreiung zum eigentlich Subjekt der Theologie in den 1960er Jahren erklärte, haben viele Gesichter und sehen je nach Kontext anders aus. Hier in Peru wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Länder gehören dazu Menschen, deren Lebensorte durch Megaprojekte im Bergbau, in der Energieproduktion oder Ölgewinnung zerstört werden, ebenso wie die Menschen, die unter unwürdigen Lebensbedingungen in den Megastädten, abgedrängt, auf engem Raum ohne grundlegende Infrastruktur leben. In Europa sind es die Flüchtlinge, denen Lebensraum und -möglichkeiten verwehrt werden, die unter unmenschlichen Bedingungen abgeschoben oder erst gar nicht in die Festung Europa hineingelassen werden. Zu ihnen gehören Frauen, die weltweit immer noch mehrheitlich Gewalt und verschiedene Formen von Diskriminierung erleiden, MigrantInnen, Schwule und Lesben, indigene Völker, Behinderte sind weitere Subjekte der Armen heute, all diejenigen, die Opfer des kapitalistischen Systems und seinen Tod bringenden Strukturen sind. Dass Franziskus Mission und missionarischen Aufbruch eben nicht auf den engen Sinn der Wortverkündigung versteht, sondern als eine Umkehr, die sich in einer Praxis zeigt, die sich den sozialpolitischen Herausforderungen stellt.

Auf der Straßen und inmitten der Menschen sind also die Orte zu finden, an denen sich Kirche heute bewähren muss, wenn sie authentisch das Evangelium verkündigen will und diese Verkündigung gesellschaftliche Relevanz erlangen soll. Das bedeutet jedoch nicht, sich in einem blinden Aktionismus pastoraler Aktivitäten auszulassen, sondern sich wirklich einzulassen und einzutauchen in die Lebensrealitäten auf der Straße. Im Zuhören und Leben teilen mit den Menschen lässt sich herausfinden, was notwendig und angemessen ist, um Veränderungen anzustoßen. Mit einem „Brecht auf“ ruft Franziskus dazu im letzten Punkt appellativ auf. Zeug_innen Christi zu sein heißt das Leben Jesu Christi anzubieten und dies meint die Hoffnung der Auferstehung und damit Überwindung allen Todes, allen Leides und aussichtslosen Situationen zu verkünden. Im Wahrnehmen wirklicher und nicht hausgemachter Probleme und sich ernsthaft zu fragen, Stellungnahme und Handeln gefordert sind, kann Kirche eine Gemeinschaft werden, die den Menschen von heute etwas zu sagen hat und die mitwirkt an den Veränderungen dieser Welt und der bestehenden Unrechtsverhältnisse.

Wie es einst der brasilianische Bischof und Befreiungstheologe Pedro Casaldáliga mit seiner Aussage „Alles ist relativ außer Gott und der Hunger“ auf den Punkt brachte, so spitzt Franziskus auch am Ende des Kapitels zu, worum es eigentlich geht. Nämlich nicht darum, Normen und Strukturen um ihretwillen zu bewahren und selbstbezogen um hausgemachte Probleme zu kreisen, sondern die Augen zu öffnen und uns der „hungrigen Menge“ zuzuwenden. Sie aber nicht mit bloßen Worten abzufertigen, sondern ihr zu essen zu geben und die anzuklagen, die ihnen das Essen verwehren.

Lassen wir uns anstecken von diesem Aufruf und brechen auf an die zahlreichen Peripherien dieser Welt und unserer Gesellschaften, dort, wo das Geheimnis des Lebens, Tod und Auferstehung Christi konkrete Gestalt annimmt und christliche Hoffnungszeichen gesetzt werden können.

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Der Text

V. Eine Mutter mit offenem Herzen

46. Eine Kirche „im Aufbruch“ ist eine Kirche mit offenen Türen. Zu den anderen hinauszugehen, um an die menschlichen Randgebiete zu gelangen, bedeutet nicht, richtungs- und sinnlos auf die Welt zuzulaufen. Oftmals ist es besser, den Schritt zu verlangsamen, die Ängstlichkeit abzulegen, um dem anderen in die Augen zu sehen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeiten zu verzichten, um den zu begleiten, der am Straßenrand geblieben ist. Manchmal ist sie wie der Vater des verlorenen Sohns, der die Türen offen lässt, damit der Sohn, wenn er zurückkommt, ohne Schwierigkeit eintreten kann.

47. Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zeichen dieser Öffnung ist es, überall Kirchen mit offenen Türen zu haben. So stößt einer, wenn er einer Eingebung des Geistes folgen will und näherkommt, weil er Gott sucht, nicht auf die Kälte einer verschlossenen Tür. Doch es gibt noch andere Türen, die ebenfalls nicht geschlossen werden dürfen. Alle können in irgendeiner Weise am kirchlichen Leben teilnehmen, alle können zur Gemeinschaft gehören, und auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden. Das gilt vor allem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt, das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.51 Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.

48. Wenn die gesamte Kirche diese missionarische Dynamik annimmt, muss sie alle erreichen, ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevorzugen? Wenn einer das Evangelium liest, findet er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor allem die Armen und die Kranken, diejenigen, die häufig verachtet und vergessen werden, die »es dir nicht vergelten können« (Lk 14,14). Es dürfen weder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungen stand, die diese so klare Botschaft schwächen könnten. Heute und immer gilt: »Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums«,52 und die unentgeltlich an sie gerichtete Evangelisierung ist ein Zeichen des Reiches, das zu bringen Jesus gekommen ist. Ohne Umschweife ist zu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indiens lehren – ein untrennbares Band zwischen unserem Glauben und den Armen besteht. Lassen wir die Armen nie allein!

49. Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wiederhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Priestern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: »Gebt ihr ihnen zu essen!« (Mk 6,37).

Anmerkungen:

51 Vgl. Ambrosius, De Sacramentis, IV, 6, 28: PL 16, 464: »Ich muss ihn immer empfangen, damit er immer meine Sünden vergibt. Wenn ich ständig sündige, muss ich immer ein Heilmittel haben«; ebd., IV, 5, 24: PL 16, 463: »Wer das Manna aß, starb; wer von diesem Leib isst, wird die Vergebung seiner Sünden erhalten.« Cyrill von Alexandrien, In Joh. Evang. IV, 2: PG 73, 584-585: »Ich habe mich geprüft und erkannt, dass ich unwürdig bin. Denen, die so reden, sage ich: Und wann werdet ihr würdig sein? Wann werdet ihr also vor Christus erscheinen? Und wenn eure Sünden euch hindern, näherzukommen, und wenn ihr niemals aufhört zu fallen – wer bemerkt seine eigenen Fehler, sagt der Psalm – werdet ihr schließlich nicht teilhaben an der Heiligung, die Leben schenkt für die Ewigkeit?«

52 Benedikt XVI., Ansprache anlässlich der Begegnung mit den brasilianischen Bischöfen in der Kathedrale von São Paulo, Brasilien (11. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 428.