Paulo Suess
UNTERSCHEIDUNG DER GEISTER
Stichworte zu einer nachkonziliaren Agenda der Kirche
Einführung
Eine nachkonziliare Agenda wird ganz davon abhängen, wie wir die gegenwärtige Situation in Gesellschaft und Kirche beurteilen. Als am ersten Abend dieses Symposions Riolando Azzi über die ultramontane Situation der Kirche sprach, die dem II. Vatikanum vorausging, haben wir uns über die Lieder und die Mentalität dieser Epoche lustig gemacht: Wie komisch waren doch unsere Vorfahren! Aber gleichzeitig spürten wir, dass er, als er über den autoritären Zentralismus, den Klerikalismus und den Spiritualismus dieser Zeit sprach, zugleich auch über die vierzig Jahre nach dem Konzil mit all ihren regressiven Phasen sprach.
In ihrem Symbolwert ist die Zahl 40 sehr vielseitig. Haben wir den Berg Gottes schon erreicht, wie Elija, der vierzig Tage und vierzig Nächte wanderte, um seinen Frieden zu finden? Befinden wir uns noch mit Mose in der Wüste oder gar mit Israel im babylonischen Exil? Und sollten wir von diesem vierzigjährigen Weg wieder nach Jerusalem zurückkehren, werden wir dann den Exilierten Israels nacheifern und Mauern um den Tempel und die Heilige Stadt bauen? Brauchen wir zur Sicherung unserer Identität Mauern des Legalismus, Kleiderordnungen und rubrizistisch festgefahrene Liturgien? Befinden wir uns auf diesem riesigen Ozeandampfer Kirche, von dem Dom Cláudio Hummes am Eröffnungsabend sprach, auf diesem Ozeandampfer nur um ihn zu reinigen und ihn mittels einer konservativen Modernisierung, die überall ein wenig frische Farbe aufträgt ohne an die Strukturen zu rühren, auf Vordermann zu bringen? Oder gibt es doch irgendeine Möglichkeit, die Kommandobrücke zu besetzen, die mit sieben Schlüsseln nicht durch einen jungen Schweizergardisten, sondern durch ältere Repräsentanten der römischen Kurie bewacht wird? Welche realistische Möglichkeit hat das Volk Gottes, das Ruder dieses Ozeandampfers in die Hand zu nehmen und ihn in südliche Richtung zu steuern?
Vielleicht ist es möglich, von diesen und anderen Fragen her, die hier gestellt wurden, einige Unterscheidungen zu treffen, die es ermöglichen, ortskirchlich greifende Prioritäten für eine Agenda der Kirche aufzustellen, beispielsweise für die fünfte lateinamerikanische Bischofskonferenz in Aparecida oder für ein zukünftiges Konzil einer Kirche, die sich wirklich als Volk Gottes versteht, in seiner christologisch-pneumatologisch vermittelten Kontinuität mit Israel. Allerdings ist ein zukünftiges Konzil nicht nur eine Frage des Heiligen Geistes, sondern auch eine Frage von rückwärts gewandten und angstbesetzten Sperrminoritäten unter den Bischöfen und von kreativen pastoralen Baustellen des Kirchenvolkes. Wenn Konzilsbeschlüsse a posteriori durch die jeweilige Gegenpartei administrativ blockiert werden können, hat ein neues Konzil keinen Sinn.
I. Verluste und Trauerarbeit
Den Gewinnen, die der Kairos des II. Vatikanums hervorbrachte, entsprechen in der zweiten Phase seiner Umsetzung Verluste und Ängste, vor allem Verlustängste, die manchmal schlimmer sind als die wirklichen Verluste. Da war die Angst, den hegemonialen Mythos, die große Erzählung, nicht mehr aufrechterhalten zu können. Dazu kam die Furcht vor dem Verlust von Identität. Schließlich kamen alte Ängste wiederum zum Vorschein, die Angst vor erwachsenen Gläubigen, vor Laien, vor den Armen, den Anderen und den Frauen. Die notwendige Trauerarbeit ist im Umkreis von vier grundlegenden Verlusten angesiedelt, um den Verlust von Mut, Realitätsbezug, Erinnerung und Glaubwürdigkeit.
1. Mut
Es war der Mut von Johannes XXIII. und den Konzilsvätern, die das Konzil auf den Weg brachten. Angst ist der Verlust von Mut. Die selbstständigen Laien und Erwachsenen, die demokratische Erfahrungen darin haben, dass es möglich ist, sich an der Mitgestaltung der Welt zu beteiligen, rufen die Angst vor Machtverlust hervor. Die Armen repräsentieren eine bestimmte Bedrohung des Besitzes und der „Privatsphäre”: Sie kommen immer zu ungünstigen Zeiten und wollen immer etwas haben. Ihre Anwesenheit auf der Kommandobrücke würde mit Sicherheit Prioritäten verschieben. Die Bedrohung, welche die Anderen darstellen, ist der Verlust der Identität. Und hinter dem Ausschluss der Frauen von den Leitungsstrukturen steht die Angst vor dem Körper. Der Angst vor Verlusten von Macht, Gütern, Identität und Männerwirtschaft entspricht spiegelbildlich der Ausschluss der Laien, der Armen, der Anderen und der Frauen. Sie verschwinden nicht aus den folkloristischen Bereichen der Kirche, wo sie eine Legitimationsfunktion besitzen, sondern aus dem Horizont von Entscheidungsinstanzen. Die Domestizierung des Anderen durch kompensatorische Maßnahmen, wie z. B. das permanente Diakonat anstelle der viri probati und ein durch Lehenseid gebundener Klerus, macht diese Angst noch virulenter und verringert die Fähigkeit, Zeichen der Hoffnung und des Sinns in einer absurden Welt zu sein. Die Angst führt zu einem fortschreitenden Realitätsverlust, einem Verlust der Erinnerung und der Glaubwürdigkeit.
2. Realitätsbezug
Hier einige Szenarien, die den Realitätsverlust charakterisieren:
In Santo Domingo (1992), der III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates, war ein Ringen um den Ort und die Bedeutung der Wirklichkeit wahrzunehmen. Es wurde bald deutlich, dass bestimmte Sektoren, die aus Rom gekommen waren, um diese Konferenz zu überwachen, die Methode des Sehens-Urteilens-Handelns nicht weiter akzeptierten. Seitdem erzwangen sie zunehmend eine realitätsferne Theologie (teologia perennis), die es erlaubt, die Wirklichkeit auf „pastorale Herausforderungen” zu reduzieren.
Diese Realitätsferne zeigt sich bis heute als Widerstand gegen die Inkulturation. In den lateinamerikanischen Ausgaben des „Katechismus der Katholischen Kirche” erscheint „Inkulturation” nicht mehr im Stichwortverzeichnis. Aber es war gerade das Apostolische Mahnschreiben „Catechesi Tradendae” (1979), das auf Bitten der Bischofssynode von 1977 in der katholischen Kirche das Paradigma der „Inkulturation” offiziell einführte. Inkulturation bedeute, so die Brasilianische Bischofskonferenz, vor allem „die Angst vor den Symbolen der Kultur zu verlieren, in der diese Katechese sich vollzieht.”
Als Beispiel für die Zerstörung dieses Paradigmas der Inkulturation seien die Salzburger Hochschulwochen von 1992 genannt. Der zu diesem akademischen Anlass eingeladene Dom Erwin Kräutler, Bischof von Altamira/PA, wurde auf Intervention des Bischofs von Salzburg durch Joseph Ratzinger ersetzt, der in seiner Ansprache folgendes bekräftigte:
„An sich sollten wir nicht mehr von Inkulturation, sondern von einer Begegnung der Kulturen, oder, wenn wir es denn in einem Fremdwort ausdrücken wollen, von Interkulturalität sprechen”.
Damit wird in der Frage um die Inkulturation eine Handlung mit Akteuren (Inkulturation) durch einen Seins-Zustand (Interkulturalität) ersetzt. Diese Distanzierung von Kontexten empfindet man in den Ortskirchen als eine Geiselnahme der eigenen Stimme und als Normierung von Ämtern und Riten.
Dom Helder Câmara bemerkte bereits am zweiten Tag des Konzils, dass
„wahrscheinlich das Latein als offizielle Sprache abgeschafft werden würde: Eine große Zahl von Bischöfen versteht es nicht, vor allem nicht das Latein der Deutschen und der Franzosen … Danach werden die wesentlicheren Kämpfe um die Veränderung der Schemata kommen.”
Jetzt kehrt das Latein, das die Liturgien dem Volk entfremdet hat, zurück. Der Vorschlag 36 der kürzlich veranstalteten Synode über die Eucharistie lautet:
„Um die Einheit und Universalität der Kirche besser auszudrücken, wird für die Eucharistiefeiern bei internationalen Treffen, die es heute immer häufiger gibt, vorgeschlagen:
• zu empfehlen, dass die (Kon-)Zelebration der Heiligen Messe auf Latein vollzogen wird (außer den Lesungen, der Predigt und den Gebeten der Gläubigen). Auch sollten die Gebete der Tradition der Kirche und eventuell Auszüge aus Teilen der gregorianischen Gesänge auf Latein vorgetragen werden;
• zu empfehlen, dass die Priester schon in der Ausbildung darauf vorbereitet werden, die heilige Messe auf Latein zu verstehen und zu zelebrieren, und darüber hinaus lateinische Gebete zu benützen und die gregorianischen Gesänge schätzen zu lernen;
• nicht die Möglichkeit zu vernachlässigen, die Gläubigen selbst in diesem Sinne zu erziehen.”
Auf der Synode über die Eucharistie (2005) zeigte eine Kirche ihr Gesicht, die sich mehr und mehr auf sich selbst zurückzieht, eine endogame Kirche. Einer gewissen Bürokratisierung und Überbewertung innerkirchlicher Tagesordnungspunkte entspricht die Abtrennung sozialer Fragen von der kirchlichen Gesamtverantwortung und die Auslagerung wirklich brennender Probleme an pastorale Splittergruppen. Vor den großen Fragen des Jahres 2005 erscheinen die Ergebnisse der Römischen Weltsynode über Eucharistie narzisstisch.
3. Erinnerung
Der Realitätsverlust produziert Erinnerungslücken und Wahrheitsverlust. Die Angst vor der Begegnung mit der Wirklichkeit wirft lange Schatten auf die Hermeneutik der Geschichte. Die Annahme des Prinzips der Wirklichkeit, die in der Blindenheilung, dem letzten Wunder Jesu, symbolisch zum Ausdruck kommt, erschöpft sich nicht in der Aufklärung über die jeweiligen Verhältnisse hier und jetzt. Auch die biographisch-geschichtliche Vergangenheit gehört zum Realitätsprinzip. In seinen geschichtsphilosophischen Thesen sagt Walter Benjamin treffend:
„In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. (…) Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.”
„Gedächtnis” und „Erinnerung” sind in der jüdisch-christlichen Tradition nicht zu trennen von der Wahrheitsfrage. Die Sklaven, die Mose aus Ägypten befreite, wanderten nicht durch den Lethe, den Fluss des Vergessens, durch den die Toten in der griechischen Mythologie hindurch müssen, sondern durch das Rote Meer, das zum Gedächtnis der Befreiung wird, Wasser des Nicht-Vergessens, wie die Taufe, Gedächtnis vom Beginn eines befreienden Weges. Wenn Lethe Vergessen bedeutet, dann bedeutet A-lethe Erinnerung. A-lethe, aletheia aber bedeutet in der Sprache Sokrates’: „Wahrheit”. Was „Wahrheit” und „Lüge”, „Schuld” und „Gnade” bedeuten, hat einen historischen Kern, der an der Geschichte der Befreiung der Sklaven aller Zeiten aufgezeigt werden kann. Was „Gift” und was „Heilmittel”, was „Heilung” und „Verdammnis” ist, kann man, angesichts der Leiden der Menschheit, nicht „an sich”, mittels dogmatischer Definitionen, wissen. Was eine Mauer ist, kann man nur im historischen Kontext wissen. Es gibt Mauern, die schützen, und solche, die ausschließen; es gibt Mauern, die verhüten sollen, dass jemand hereinkommt, und andere, die dazu da sind, niemand herauszulassen.
Wahrheit ist keine feste Größe, sondern ein Beziehungsverhältnis. Sie wird durch den Nächsten und die Erinnerung und Linderung seines Leidens vermittelt. Die Arbeit der Wiedergewinnung traumatisierter Erinnerung, die durch den Schmerz der Wiedererinnerung des Leidens und der eigenen oft unterlassenen Verantwortung geht, enthält auch den Keim der Wiedergutmachung durch „gefährliche Erinnerung”, die den systematischen Versuchungen des Konformismus widersteht. Erinnerung und Hoffnung sind Teil des Prinzips der Wirklichkeit.
4. Glaubwürdigkeit
Indem das Lehramt mit zwei verschiedenen Zeichensprachen spricht, einer ad extra, im ökumenischen und interreligiösen Dialog, und einer anderen ad intra, im sog. Identitätsdiskurs, verwirrt es das Volk Gottes. Die Erklärung Dominus Jesus sucht beispielsweise den Weizen, der die Kirche repräsentiert, von der Spreu anderer Religionen und Konfessionen zu trennen, durch die Behauptung, dass es in der katholischen Kirche Menschen gebe, die den faktischen Pluralismus mit einem rechtmäßigen Pluralismus verwechseln (vgl. Dominus Iesus, 4a). Der Pluralismus der Religionen, der de facto existiert, habe in der Katholischen Kirche keinen Rechtsstatus. Der faktische Pluralismus innerhalb eines laizistischen Staates müsse als legal hingenommen werden, innerhalb der katholischen Kirche jedoch sei er illegitim und verlogen, da seine Legitimität nur dann behauptet werden könne, wenn er auf die Wahrheitsfrage positiv antworten könne. Im religiösen Pluralismus aber könne sich nie und nimmer die eine Wahrheit finden lassen. Aufgrund der Asymmetrien zwischen der Katholischen Kirche und den nicht-christlichen Religionen gebe es auch, immer nach Dominus Jesus, eine grundlegende Asymmetrie zwischen den Anhängern der katholischen Kirche und denen anderer Religionen. Die Katholiken hätten einen „theologalen Glauben”. Die Nicht-Katholiken folgten nur einer zweifelhaften „inneren Überzeugung” (vgl. Dominus Iesus, 4a, 7c). Glauben heiße die aus Gnade geoffenbarte Wahrheit annehmen, während die Gläubigkeit der Anderen sich in der Sphäre des kulturellen Eigensinns abspiele und daher als eine menschliche Konstruktion betrachtet werden müsse (ebd.).
Heute gibt es einen „Konsens der Gläubigen” (vgl. LG 12a) darüber, dass es lächerlich wäre, wenn ein Papst dem Dalai Lama sagen würde, dass seine Religion schlichtweg falsch sei. Ebenso lächerlich wäre es, wenn die Missionare bei dem Stamm der Yanomami sagen würden, dass ihre Religion heilsgeschichtlich irrelevant sei oder dass ihre Geschichte keine Heilsgeschichte sei, sondern dass sie sich die wahre Heilsgeschichte von Israel und den Christen ausleihen müssten. Die „Wahrheit”, die nicht gesagt oder nur einer bestimmten internen Öffentlichkeit von Eingeweihten verkündet werden kann, entspricht nicht den elementarsten Kriterien von Wahrheit, die mit Einheit, Beziehungsvielfalt, Universalität, Öffentlichkeit und Einfachheit annähernd umschrieben werden könnten.
II. Rekonstruktion von Kontexten und Relevanz
unter den Bedingungen des Neoliberalismus
Aus der internen Trauerarbeit darüber, dass man die Zeichen der Zeit nicht genügend ernst genommen hat, kann eine neue gesellschaftskritische Aufmerksamkeit erwachsen, die über kluge Hermeneutik hinaus praktische Schritte einklagt.
1.
Der Großgrundbesitz und die von ihm verursachte Armut sind keine konjunkturellen Phänomene, die von menschenfreundlichen NROs oder durch Palliativpolitik gelöst werden können. Armut, Ungleichheit und soziale Exklusion stellen keine residuelle Entstellung lateinamerikanischer Wirklichkeit dar, sondern sind Teil eines Modells, dessen bestimmender Faktor die Konzentration von Reichtum und Vermögen ist, der von anderen Faktoren, wie Lohndumping, struktureller Arbeitslosigkeit, Privatisierung von Bildung, Gesundheit und Kommunikationsmitteln begleitet wird. Die Abwesenheit garantierter sozialer Grundrechte wie Wohnraum, Einkommen, Arbeit, Gesundheit und Ernährung, die Deregulierung der Ökonomie und die Flexibilisierung der Sozialsysteme sind formal legal, gleichzeitig jedoch extrem ungerecht. Weil Gerechtigkeit jeder formalen Legalität vorgelagert ist, muss es in einer solchen Situation ein Recht auf legalen Widerstand geben.
2.
Die Legalität in ihrer neoliberal kapitalistischen Gestalt, welche die demokratischen Institutionen ihren Imperativen und ihrer Ethik des Profits untergeordnet hat, kann nur von wenigen für sich in Anspruch genommen werden. Sie stützt die Privilegien der Eliten auf Kosten der Mehrheit des Volkes. Sie schützt die Konzentration von Reichtum, Einkommen, Recht und Macht in den Händen einer kleinen Elite. Der Horizont einer Welt, in der alle Platz haben, der Horizont der Verteilungsgerechtigkeit, liegt jenseits liberaler Legalität. Der Neoliberalismus überlagert alles menschliche Handeln mit einer Kosten-Nutzen-Logik. Es handelt sich dabei um eine Logik der Ausbeutung und der Ausschließung der Mehrheit und um eine Logik des Vergnügens und Konsums der Wenigen. Die neoliberale Welt arbeitet mit nur zwei Kategorien: Kunden und Waren. Die Menschen, die Menschheit, wir alle werden nur in Betracht gezogen als mögliche Gewinnfaktoren und Kunden. Die Welt, die Schöpfung Gottes und die kulturellen Erfindungen der Menschheit, die öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit, Verkehr und Wohnen, Arbeit und Freizeit werden wie Waren behandelt, Konsumgüter und Gewinnfaktoren. Diese Logik ruft, vor allem in den ökonomisch und politisch schwachen Ländern, gewalttätige Mechanismen des sozialen Ausschlusses und der Umweltzerstörung hervor, vom kulturellen Mimetismus auf Weltebene ganz abgesehen.
3.
Die Globalisierung als ökonomische Expansion und als Dispens des politisch-finanziellen Systems von sozialer Verantwortung – dies alles eint die Menschheit nicht. Ganz im Gegenteil, es verschärft Spaltung, Trennung und Ausschlussmechanismen. Der Neoliberalismus lässt uns eine Scheinwelt „ohne Grenzen” mit der realen maßlosen Welt verwechseln, in der Rentabilität und Profit Normen, Werte und Perspektiven bestimmen. Die Epoche der maßlosen Welt ist die Epoche des „Nach allem” (post-geschichtlich, post-industriell, post-metaphysisch, post-modern, post-territorial, post-utopisch). Der Herr dieser Zeit ist der Dollar: time is money. Dieser Herr lässt die Gegenwart mit der Zukunft zusammenfallen. Daher gibt es keine Zukunft. Die maßlos entgrenzte Zeit und die Zeit des „Nach-allem” haben eine Welt geschaffen, die zwischen den „Habenichtsen” und den „Alles-Habenden” aufgespalten ist. Die Globalisierung ist eine untrennbare Partnerschaft mit dem Neoliberalismus eingegangen. Daher handelt es sich bei „Globalisierung” um ein semantisch negativ gekennzeichnetes Konzept. Es erscheint daher angebracht, von der Universalität der Hoffnung und nicht von ihrer Globalisierung zu reden. Weil die Utopie des Reiches Gottes weit über den Erdball hinausgeht, ist sie nicht global, sondern universal.
4.
Wenn wir Universalität als weltweite Präsenz in Kontexten der unter die Räuber gefallenen Menschheit und als kosmische Verantwortung verstehen, dann wird sie zur Alternative der sozio-kulturellen Kontextblindheit der Globalisierung und zum hoffnungsvollen Blick über den Tellerrand der Erde hinaus. Diese Alternative basiert erstens auf dem fundamentalen Prinzip des Evangeliums, der Praxis der größeren Liebe und der Verkündigung des Reiches Gottes als „Befreiung aus der Knechtschaft der Korruption”, mit seinem regulativen und anti-systemischen Horizont. Und zweitens basiert die Alternative auf der Verzahnung der verschiedenen Projekte lokalen Lebens, mit unterschiedlichen Horizonten universaler Verantwortlichkeit für die Gesamtheit der Menschheit und des Planeten Erde, Horizonte, die weder ausgrenzend noch funktional komplementär sind.
5.
Historisch haben die Armen genauso sehr unter diesem zu Globalisierung transmutierten Universalismus der hegemonialen Mächte wie auch unter dem kurzsichtigen Kontextualismus der Nationalstaaten und der kleinbürgerlich-parochialen Verfasstheit vieler Ortskirchen gelitten. Die Armen und Ausgeschlossenen sind gegenüber jedweder politischen, kulturellen oder religiösen Hegemonie sehr sensibel. Es gibt nichts, was in seinen Auswirkungen kontextueller und in seiner Verursachung universeller wäre als das Leiden der Armen. Im Handlungsansatz, der diese universelle Kontextualität im Blick hat, liegt die Möglichkeit des guten Lebens. Die weltweit solidarische Existenz beginnt stets am Fluss des eigenen Dorfes. Das hegemoniale Projekt, das ganz bestimmte Werte, Ziele und regionale Horizonte aufoktroyiert, ist der Feind kontextueller Universalität. Die kontextuelle Universalität der Werte erlaubt die Verankerung in einem gemeinsamen Projekt der Menschheit. Ohne dieses gemeinsame Projekt, das durch universell anerkannte Werte wie Solidarität, Gleichheit, Freiheit, Partizipation und Toleranz vermittelt ist, verlieren auch historische Projekte bestimmter ethnisch-sozialer Gruppen den Charakter eines universellen Anliegens, einer universellen Sache, die von allen verteidigt werden könnte. Der Auszug aus der globalisierten Markt-Welt, oder wie im Fall vieler indigener Völker der Nicht-Eintritt in diese Welt, verweisen auf eine Art der Exterritorialität gegenüber dem hegemonialen System. Diese Exterritorialität klagt radikale Transformationen ein, welche die universale Dimension, die beispielsweise der Sache der Landlosen oder indigenen Völker innewohnt, retten. Die Allianz der Anderen mit den Armen ist anti-hegemonial. Sie zielt im Gegensatz zu einer ausschließenden Globalisierung auf eine Universalität als Partizipation aller.
6.
Das religiöse Feld, also auch die Kirche, hält keine Lösungen bereit, die sich außerhalb der Modernität finden ließen. Ein vormoderner Fundamentalismus z. B., der dazu neigt, demokratische, verfassungsmäßige und rationale Ordnungen durch autoritäres Verhalten und Appelle an die Hausheiligen zu ersetzen, kann sicherlich keine historischen Lösungen anbieten. Das Evangelium als fundamentale Orientierung der Kirche inspiriert uns jedoch dazu, Horizonte, Prioritäten und Optionen des Handelns zu entdecken, die für ein soziales Zusammenleben wichtig sein können, vor allem, weil sie die große Erzählung des Marktes von der „natürlichen Ungleichheit” radikal in Frage stellen.
7.
Der neoliberale Markt treibt die Dynamik der Moderne voran, aber wir dürfen ihn nicht mit ihr verwechseln. Der Kampf der Christen für Gerechtigkeit lehnt sich an die Errungenschaften der Moderne an. Aber viele dieser Errungenschaften sind nichts als Embleme aufgeklärter Eliten (Demokratie, Rechtsgleichheit, Bürgerrechte) ohne reale Basis. Das Evangelium ist selber solch ein Emblem auf der Suche nach einem realen Ort. Befreiung artikuliert sich immer in der Eroberung eines realen Ortes. Die Embleme, Vorschläge, Inspirationen, Prioritäten und Optionen stellen eine Möglichkeit dar, historisch in die großen Erzählungen einzugreifen und Unterbrechungen zu schaffen. Embleme, als symbolische Materialisierung von Utopien, können zur Transformation der Wirklichkeit beitragen: Am Anfang eines langen Marsches steht sein Horizont.
8.
Gegen die Gewalttätigkeit der „großen Erzählung” jeder Epoche – die von Hierarchien, Sekundärtugenden (Gehorsam, Sauberkeit, Pünktlichkeit) und Exklusion gekennzeichnet ist – könnte die Rolle der institutionellen Kirche verstanden werden als Vernetzung von Gemeinden, die auf Grund ihres Glaubens jeder Form von Hegemonie widerstehen und denjenigen, die den Räubern in die Hände gefallen sind (Lk 10,25ff.), Beistand leisten. Den Weg zu einem „Leben in Fülle” kann man nur durch Solidarität mit den Opfern vermitteln. Der Raum der Gratuität ist durch die uneigennützige Solidarität abgesteckt. Ausgehend von der Befreiung am Kreuz verstehen wir auch die Inkarnation Jesu von Nazareth als Modell der Solidarität (GS 32), der Präsenz und Nachfolge.
9.
Versöhnung ist möglich und nur möglich durch eine nicht-ideologische Praxis des Christentums. Versöhnung auf der Grundlage des Evangeliums bedeutet, Migration und Exklusion zu verwandeln in einen Marsch gegen die Ungleichheiten und das Exil in einen Exodus, um ein neues Lebensprojekt zu realisieren. Dieses Projekt strebt weder eine einfache Reintegration in ein bankrottes Projekt einer vom Neoliberalismus fragmentierten Gesellschaft an, noch hat es die Perspektive eines „mehr”, d. h. einer quantitativen Dimension. Vielmehr hat es die qualitative Dimension eines Lebens, das durch die Gratuität der österlichen Erfahrung strukturiert ist. Die Flüchtlinge und die Ausgeschlossenen wollen nicht in eine Heimat zurückkehren, welche die gleiche ist, die sie ausgeschlossen hat. Wenn die Migration keine transformierende Kraft über die Mechanismen hätte, die sie hervorruft, wäre sie lediglich der Umlauf eines Riesenrades, eine unterwürfige Rückkehr zur bestehenden Situation.
Die Kriterien einer missionarischen Gemeinschaft sind dynamisch und qualitativ. Ausgehend von einer neuen „Vision” sucht sie nicht den Besitz von Gütern oder von Seelen, sondern baut neue menschliche Beziehungen auf. Sie will nicht das „Objekt” ihrer Wünsche, Gott, besitzen, sie will es von Angesicht zu Angesicht sehen. Die radikale Alterität Gottes garantiert die Anerkennung der Alterität des Anderen. Das „missionarische Begehren” sucht kein Eigentum, sondern eine offenbarende Alterität. Man geht nicht auf „Mission”, um Häuser zu eröffnen, sondern um Wege zu erschließen. Der Besitz ist das Ende des Weges. Er besetzt und versklavt. Die formale und materielle Bedingung der Offenbarung des „gewünschten Objekts” ist der Weg. Um Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, müssen wir nicht eine Zielgerade überqueren. Er ist präsent in der sanften Brise des Weges, leuchtet auf in den traurigen und fröhlichen Augen des Armen, kehrt bei uns ein in der Gestalt von fremden Besuchern oder Wanderern nach Emmaus. Wege, Beziehungsverhältnisse und die Armen sind Indikatoren des in Jesus Christus geoffenbarten, nicht domestizierbaren Gottes.
10.
Die missionarische Gemeinschaft vertraut auf die Anziehungskraft ihres freien Zeugnisses. Sie verzichtet auf Werbung und Waffen. Pilgern im Geist Jesu bedeutet aufrecht gehen in Einfachheit und Armut. Pilgerschaft ist der Ort der Option für die Armen. Die Migranten und Obdachlosen, die der Straße ausgesetzt sind, erinnern die christlichen Gemeinden daran, dass das Auf-dem-Weg-Sein die radikalste Form des Miteinander-Teilens ist. Die Gaben Gottes vermehren sich in dem Maße, wie sie verbraucht werden. „Als ich euch ohne Beutel, ohne Tasche und ohne Schuhe hinausgeschickt habe, fehlte euch da irgendetwas?” (Lk 22,35). Der Eros ist nach Platon der Sohn des Mangels und des Überflusses. Im Loslassen auf dem Weg liegt seine Fülle. Das Teilen verweist auf Grundkonflikte der Monopolgesellschaft: auf das Teilen des Wortes, der Weg-Gelegenheiten und der Güter – nicht durch eine noch so soziale und demokratisch an die Kandare genommene Marktwirtschaft, sondern durch die Armen selbst. Das Teilen auf dem Weg setzt Zeichen der Gerechtigkeit und Hoffnung. Es belebt jene Ahnung, dass alles auch ganz anders sein könnte, dass Fremdbestimmung mit der Natur des Menschen nichts zu tun hat und dass die instrumentelle Vernunft als eine historische Fehlform der Vernunft durchschaut werden kann.
11.
Gegenüber der „Anpassungsfähigkeit” an eine vom Tauschprinzip beherrschte Welt schafft der „Geist der Versöhnung” ethische Empörung, Unangepasstheit und Widerstand gegen instrumentelle Machtstrukturen. Die Essenz dieser Empörung braucht nicht verbal zu sein. Das Evangelium ermuntert dazu, diese Empörung positiv auszudrücken, als konkrete Hilfe für die Opfer und als Unterbrechung. Die Nähe zu den Opfern verhindert, dass das Evangelium zu einer „großen Erzählung” im Dienst einer herrschenden Klasse oder Kultur wird. Sie bringt einen gegenüber jedem triumphalistischen oder hegemonialen Diskurs andauernd kritischen Geist hervor. Das Evangelium kennt im Gegensatz zu menschlichen Revolutionen nur einen Triumph: den Triumph des Lebens über den Tod, der in der Auferstehung Christi angekündigt ist. Die Unangepasstheit an die Welt lässt die historische Zeit immer wieder auch als Kairos erfahren und die verkrüppelte Menschheit als Hereinbrechen des Reiches erfahren (vgl. Mt 19,16 u. Lk 10,25). Die Annäherung an den Armen und den Anderen versetzt die Kirche in einen „Zustand der Gnade”. Gotteserfahrung ereignet sich unterwegs in der Entdeckung des Anderen als Nächstem.
III. Eine nachkonziliare Agenda
Das II. Vatikanum hinterließ theologisch-pastorale Wegweisungen als Ausgangspunkt für eine Kirche, die sich von ihrem Wesen her als missionarische verstand und sich als Volk Gottes definierte, als universales Sakrament des Heils und als Mysterium. Man kann im Arbeitsprozess, aus dem das Dekret Ad Gentes hervorging, eine Verschiebung von „Missionen als Besitzstände” zu „Mission als Seinszustand” beobachten: die Verschiebung des Selbstverständnisses einer Kirche, die territoriale Missionen hat, für die man Kollekten abhält und betet, um die nicht-christliche Menschheit in die katholische Kirche integrieren zu können, zu einer Kirche, in der das missionarische Sein eine fundamentale Orientierung all ihrer Aktivitäten darstellt. Und dieses missionarische Wesen bedeutet „Verantwortung für die Welt” (AG 36b). Verantwortung, Stellvertretung, Solidarität übernimmt diese Kirche als wanderndes Volk Gottes, das „auf dem schmalen Weg des Kreuzes voranschreitet” (AG 1c), auf der Seite der Verlierer.
1.
Die Agenda der Kirchen ist die Agenda des Volkes Gottes in seiner Gesamtheit. Eine Bischofssynode, an der in keinster Weise das Volk beteiligt ist, weder durch einen Vorschlag von Themen, die behandelt werden sollen, noch durch eine Auswahl von Delegierten, die ein Abstimmungsrecht haben, ist lediglich eine Bischofssynode in der Kirche, aber keine Synode der Kirche des Volkes Gottes.
2.
In der Theologie muss die Vorstellung von Kirche als Volk Gottes vertieft werden und in der Pastoral muss es zu einer signifikanten Beteiligung des Gottesvolkes kommen. Wegen der im Evangelium als unabdingbar vorgesehenen Geschwisterlichkeit muss die Zusammenarbeit mit denjenigen Sektoren der Kirche überprüft werden, die das konstantinisch-tridentinische Modell immer noch stark machen und die Spaltung des Volkes Gottes in Führung und Adressaten vertiefen.
3.
In neuen theologisch-pastoralen Praktiken, die das klerikale Leitungsmonopol hinterfragen, muss auch die Sache der Frauen und ihre Partizipation in der Kirche miteinbezogen werden. Die Enzyklika Pacem in Terris, aus dem Jahr 1963, hat die Emanzipation der Frauen als ein Zeichen Gottes in unserer Zeit bezeichnet. Diese Emanzipation gilt natürlich auch für die Frauen in der Kirche. Partizipation kann Wege öffnen, die eines Tages zur Durchführung eines neuen Konzils führen, angestoßen von einem Papst, der seine Schlüsselgewalt vor allem als Möglichkeit zur Eröffnung neuer Wege versteht, der, wie Johannes XXIII. es tat, zur Basilika des Hl. Paulus außerhalb der Mauern pilgert, am Tag der Bekehrung des Apostel-Märtyrers und Völkermissionars Paulus. Eine so starke Symbolik, die Mission in den Zusammenhang von „aus den Mauern herausgehen” und „Bekehrung” stellt, würde sicher auch von einem Konzil als Ermutigung zu längst anstehenden Veränderungen auf der sozio-kulturellen Ebene verstanden werden.
4.
Der Kampf um die Aufteilung kirchlich-klerikalen Besitzstandes vollzieht sich zugleich mit dem Engagement in den sozialen Kämpfen für eine Umverteilung von Land, Kapital, Wissen und Kommunikationsmitteln. Die theologisch-pastorale Agenda der Kirchen begleitet wegen ihrer diakonalen Verfassung die Agenda der sozialen Bewegungen. Die parochialen Hausagenden jeder Ortskirche sind der Agenda des armen Volkes untergeordnet, das für Arbeit und Überleben kämpft. Diese Artikulation der Agenden ist ein konkreter Ausdruck der Option für die und mit den Armen.
5.
In den drei fundamentalen Predigttexten der Synagoge von Nazareth (Lk 4), der Seligpreisungen und des letzten Gerichts (Mt 25) ist Jesus sehr deutlich. Der zentrale Kern seines Projektes ist das Reich Gottes und die Protagonisten dieses Projekts sind die Opfer (Arme, Gefangene, Blinde, Hungrige, Unterdrückte, Fremdlinge, Kranke). Aber die Opfer sind nicht nur die Protagonisten oder die Adressaten des Projektes Gottes, sie sind zugleich die Repräsentanten Gottes in der Welt. Als solche verweisen sie auf eine andere Welt, die notwendig, möglich und real ist. Den Armen als hartem Kern des Gottesvolkes sollte in den Kirchen immer das Beste vorbehalten sein: der beste Platz und die beste Zeit der Tagesordnung. Das Volk Gottes, das nicht nur am allgemeinen Priestertum aller Gläubigen teilhat (vgl. LG 10), sondern auch an der Unfehlbarkeit „im Glauben” (LG 12), konstituiert sich von den Kleinen, den Armen und Ausgeschlossenen aus. In der Logik des Reiches sind die Anderen, die Armen und diejenigen, die auf der Schattenseite dieser Welt leben, Wege der Wahrheit und Tür zum Leben.
6.
Es gibt eine Verbindung zwischen „Wahrheit” und „Armut”. In einem schönen Text zitiert der ehemalige Kardinal Ratzinger aus der Apologie des Sokrates. Dieser hält sich gerade deshalb für glaubwürdig, weil er einen Gott verteidigt, dessen Verteidigung ihm keinen sozialen oder materiellen Vorteil einbringt: „Ich aber habe einen hinreichenden Zeugen für die Wahrheit meiner Aussage: meine Armut.” Im Christentum ist dieser Zeuge die Armut Gottes selbst, die Armut der kenosis, der Inkarnation, der Krippe, des Kreuzes und des eucharistischen Brotes. Bürge der absoluten Wahrheit Gottes ist die Armut und nicht seine Effizienz. „Die Armut ist die göttliche Erscheinung der Wahrheit,” schrieb Ratzinger, und aus der Perspektive der lateinamerikanischen Theologie fügen wir hinzu: die Armut in der konkreten Gestalt der Armen. Ort der Erscheinung Gottes sind in herausragender Weise die in der Geschichte Gekreuzigten, diejenigen, die unter die Räuber fielen, die Lepra- und Aidskranken, die Hungernden und die geringsten Schwestern und Brüder Jesu. In ihnen erkennt die Kirche „das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war” (LG 8c).
7.
Die Subjekte und Protagonisten des Evangeliums Jesu geben einen Hinweis auf die wichtige Aufgabe der Auswahl und Ausbildung von Führungskräften einer Kirche, die sich wirklich als Volk Gottes versteht. Wer den theologisch-pastoralen Dienst als einen Weg zum Aufbau der Kirche als Volk Gottes denkt, muss an die Ausbildung junger Führungskräfte und zukünftiger Generationen überhaupt denken. Dabei kann es sich nicht nur um Priesterseminare handeln. Es geht um die Ausbildung von dialogfähigen Frauen und Männern in einem permanenten, dialektischen Prozess, der strategisch mit dem säkularen Projekt einer Welt für alle, das die Sozialbewegungen voranzutreiben versuchen, vieles gemeinsam hat. Was die Universität Florestan Fernandes für die Bewegung der Landlosen (MST) bedeutet, könnte Cesep – neben den vielen anderen Ausbildungszentren – für unsere Kirchen sein.
8.
Die Kirche des Volkes Gottes braucht nicht gegen die Priester oder die Bischöfe durchgesetzt zu werden, sondern kann, wie dies vielfach in Ortskirchen der sog. Dritten Welt reibungslos geschieht, in spezifischer Zusammenarbeit und durch ein theologisches Grundverständnis von der Gleichrangigkeit aller vorangetrieben werden. Ein neues Einverständnis darüber, dass Laien nicht nur Flickschuster für Passagiere erster Klasse auf dem Ozeandampfer Kirche sind, sondern auch Steuermänner und Steuerfrauen, könnte für alle Beteiligten eine große Entlastung bedeuten. Die kulturelle Vielfalt der lokalen Kirchen muss ihren Ausdruck finden können in sehr unterschiedlichen Ämterstrukturen und Theologien. Die kirchlich orientierten Ausbildungszentren müssen die theologischen, politischen, historischen soziokulturellen Felder in einer nicht endenden interdisziplinären Makroökumene vernetzen.
9.
Handlungsorientierungen einer Agenda, welche die verschiedenen Befreiungskämpfe in argumentativer Rationalität miteinander in Beziehung bringt, dürfen nicht auf Kosten der Gefühle und Kreativität der Beteiligten durchrationalisiert werden. Sie werden auch umso mehr an Gestaltungsmöglichkeit gewinnen, je mehr sie in einer dialektisch engagierten Mystik verwurzelt sind, einer Mystik des Glaubens, die sich vertieft inmitten der Diskreditierten, einer Mystik lebendiger Hoffnung, die sich in Situationen der Hoffnungslosigkeit bewährt, und einer Mystik der Liebe zu den Armen und unter ihnen, welche die Verachtung auf sich nimmt, die diese erleiden, weil sie mit dem Rücken zum gegenwärtigen hegemonialen Projekt leben. Eine solche Mystik hält die Zeit an, schlägt Schneisen und bereitet tiefere Brüche vor.
10.
Die Kirche des Volkes Gottes lebt ihre Mission inmitten von Konflikten. Folglich bewegen wir uns als Theologen und Theologinnen auf dem verminten Feld einer prophetischen Mission. Indem wir an der Konstruktion des Projektes Gottes mitarbeiten, denunzieren wir den Ist-Zustand des neoliberalen Antiprojekts und schlagen Brüche vor, die auch unser eigenes immer mehr systemisch angekoppeltes Theologietreiben in Frage stellen. Die prophetische Dimension des Christentums entzieht dem kapitalistischen System seine angemaßte Legitimation. Es reicht nicht aus, Missbräuche des Kapitals zu verurteilen oder es humanisieren zu wollen, unabhängig von unseren eigenen Verstrickungen in universitäre Strukturen mit ihren vom Neoliberalismus diktierten Vorgaben. Prophetische Theologie ist Sand, nicht Öl im Getriebe des Antiprojektes. Das Antiprojekt ist das Reich des nichtgeteilten Brotes, der Macht, die sich nicht als Dienst an den Schwächeren versteht, der Privilegien, die ihre Wurzeln zumeist in materieller Akkumulation haben, und des Prestiges, das sich mit Prunk und Show im Tempelvorhof zufrieden gibt, anstatt Transformationsprozesse zu artikulieren. In den Versuchungsgeschichten des Evangeliums ist das Antiprojekt, das um die Achsen von Macht, Privileg und Prestige kreist, eindruckvoll beschrieben (Lk 4,1). Die Kirchen haben damit bis heute ihre Plage.
11.
All das, was wir in den letzten Tagen diskutierten, setzt ein Projekt voraus. Unser Projekt gestaltet sich als eine Antwort auf das Antiprojekt mit seiner Kosten-Nutzen-Logik, die alle menschlichen Aktivitäten strukturiert, seiner Konzentration von Land, Kapital, Kommunikationsmitteln und instrumentalisierter Wissenschaft und seinen Ausschlussmechanismen. Die traurige Botschaft der Globalisierung ist ihre Blindheit und kontextuelle Gleichgültigkeit, ihre globale Exklusion und kulturelle Einebnung. Die historische und kontextuelle Vermittlung des Projektes Gottes macht aus der Geschichte und dem Kontext ein Sakrament. Das Evangelium erinnert an zwei Episoden, in denen die Gesprächspartner Jesu das Reich durch religiöse Praxis ohne geschichtliche Vermittlung erlangen wollen: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?” (Mt 19,16; Lk 10,25) fragten in je unterschiedlichen Zusammenhängen der reiche Jüngling, der alles hatte, und der Gesetzeslehrer, der alles wusste. Und Jesus lädt den ersten ein, seine Güter mit den Armen zu teilen, den zweiten, in der Parabel vom barmherzigen Samariter, auf den, der unter die Räuber gefallen war, zuzugehen und ihm zu helfen.
12.
Auf dem Feld der Evangelisierung wird die „kulturelle Nähe” durch das Paradigma der Inkulturation eingebracht, nicht als eine Alternative zu den Kulturen, sondern als deren tiefe Verwirklichung. In der Inkulturation verflechten sich Ziele und Methode, die universale Dimension von Erlösung mit der kulturellen Partikularität des Daseins. Das Inkulturationsparadigma bemüht sich, den politisch-kulturellen Kolonialismus und den religiösen Fundamentalismus abzubauen. Inkulturation ist die Fortsetzung des aggiornamento, das Johannes XXIII. in das vorkonziliare Gespräch eingeführt hat und das dann von den Konzilsvätern als strukturierendes Prinzip einer theologischen Lektüre aufgenommen wurde, die sich auf Raum und Zeit einlässt. Aus Raum und Zeit, geprägt von einer oft nur im Glauben wahrnehmbaren Gegenwart Gottes, erwächst eine gestalterische Aufgabe für eine neue missionarische Ethik in der Welt.
13.
Die Basisarbeit, die uns mit dem „Realitätsprinzip” (Freud) konfrontiert, erlaubt es uns, eine Brücke zum „Prinzip Hoffnung” (Bloch) zu bauen. Weil wir Hoffnung nicht haben als Besitz, sondern als Seinszustand, daher sind wir Hoffnung in den unscheinbaren Zeichen unserer Präsenz, unseres Zeugnisses, in zeichenhafter Solidarität, in Dienst und Erinnerung an das Reich Gottes unter uns. Pilgerschaft in der Utopie des Reiches ist die radikalste Form des Teilens.
Die Verknüpfung der Wirklichkeit mit der Hoffnung stellt uns vor große und immer neue Herausforderungen, lässt uns aber gleichzeitig inmitten dieser Herausforderungen und inmitten der Risse des Systems Zeichen von etwas Neuem erkennen, die auf die Möglichkeiten einer anderen Welt verweisen. Die Basisarbeit, das Eintauchen in den Kontext der Anderen und der Armen erlauben uns die Rekonstruktion der Erinnerung, der Glaubwürdigkeit und des Mutes, oder besser, bekräftigen uns in der Furchtlosigkeit vor der Endlichkeit des Lebens. Umsonst war der Kampf nicht und wird es auch in Zukunft nicht sein. Theologisch gesprochen bedeutet dies, die Gerechtigkeit der Auferstehung in den verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten zu verkündigen. Eine solche Verkündigung geschieht aus unserem eigenen kirchlichen Kontext heraus, der uns trotz aller persönlichen und institutionellen Ambivalenz immer wieder in die Lage versetzt, Zeichen der Gerechtigkeit zu setzen und Bilder der Hoffnung in oft sehr groben Umrissen auszumalen.
14.
Der Heilige Geist ist Gott im Gestus der Gabe (Augustinus). Er verweist auf die zwei Alternativen angesichts der Kosten-Nutzen-Logik: schenken und teilen. Auf-dem-Weg-Sein ist die radikalste Form des Teilens. Die Pilgerschaft befreit uns von infantilen Anhänglichkeiten und versklavender Abhängigkeit von überflüssigen Dingen. Und gerade darin liegt die Möglichkeit der Fülle: Die Gaben Gottes vermehren sich in dem Maße, in dem sie verbraucht werden.
Geschenktheit ist die große Herausforderung aller Institutionen. Daher verweist das Evangelium der Gnade immer auf einen niedrigen Institutionalisierungsgrad. Geschenktheit als theologische Inspiration regt notwendigerweise institutionelle Einfachheit an. In der Welt des Wettbewerbs und der Exklusion, wo alles nur durch seinen Marktpreis einen Wert hat, zielt alles, was für das Christentum wesentlich ist, auf die Niederlage des Reichs der Notwendigkeit und auf die Wiedergewinnung eines alternativen Raums der Gratuität ohne Markt. Die Wiedergewinnung von Räumen der Gratuität verlangt von Christen unentgeltliche Präsenz und Aktion. Auf die Komplexität der Welt antwortet das Christentum mit Einfachheit. Veränderung und Heilung werden nicht das Ergebnis von komplizierten Apparaten, sondern von einfachen Lebensweisen sein.
Der Raum der Unentgeltlichkeit ist in der Geschenktheit der Erlösung am Kreuz vorgezeichnet. Aus der Perspektive des Kreuzes verzichtet das Christentum nicht nur auf andere Erlösungsopfer, sondern weist aktiv jede Macht zurück, die menschliche Opfer schafft. Das nachösterliche „Opfer” ist „Erinnerung”, „Danksagung” (Eucharistie) und „Solidarität mit den Geopferten” bis an die Grenzen der Welt. Das Evangelium der Gnade ist überall da anwesend, wo Leben geschenkt wird: im geduldigen Dialog, in stiller Präsenz, im Zeugnis, in Kontemplation und Aktion, in Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Die Gründung der Kirche am Pfingstfest und die Geschenktheit der Erlösung verbinden missionarische Aktion und Verkündigung auf eine besondere Weise mit dem Heiligen Geist als Unterpfand der Einheit eines Projektes in der Verschiedenheit der Kulturen und sozio-politischen Anliegen. Die Geschenktheit konkretisiert sich im Widerstand gegen die hegemoniale Kosten-Nutzen-Logik (vgl. Eph 2,8f.). Weil die einseitige Gerechtigkeit der Gratuität jede Markt-, Gesetzes- und Vergeltungslogik sprengt, ist sie die Bedingung der Möglichkeit einer Welt für alle, die, weit über gesetzlich verordnete Gewaltlosigkeit hinaus, den Frieden suchen.
aus: A. da Silva Moreira/M. Ramminger/A. M. Ligorio Soares (Hg.), Der unterbrochene Frühling. Das Projekt des II. Vatikanums in der Sackgasse, Münster (edition ITP-Kompass) 2006.