Pastorale Umkehr – das Programm des Franziskus-Pontifikats
Vortrag von Norbert Arntz, ITP-Münster,1
vor dem Münchner Kreis, der Gemeinde-Initiative und Wir sind Kirche München am 9. Oktober 2013. Der Vortrag ist auch als Broschüre bei Wir sind Kirche und kann hier bestellt/ heruntergeladen werden.
Lassen Sie mich Ihnen zunächst einmal sagen, wie wunderbar ich es finde, dass wir Grauköpfe uns hier treffen…. Gott sei Dank gibt es auch ein paar Jüngere unter uns, herzlich willkommen. Aber es ist nicht von ungefähr, dass wir Grauköpfe uns hier wiederfinden. Warum? Natürlich treibt uns das Konzil!
Wir lassen uns dieses Stück Lebensgeschichte, das wir alle erlebt haben, nicht austreiben, obwohl man es uns 40 Jahre lang hat austreiben wollen. Bereits kurz nach dem Konzil hat man begonnen zu behaupten, das Konzil ist nur die Kontinuität alles dessen, was vorher war; das Konzil hat eigentlich nichts Neues gebracht, es hat nur das Alte ein bisschen neuer ausgesagt!
Und jetzt erleben wir plötzlich eine Art „Bruch“, dass da jemand „vom Ende der Welt“ kommt und sich als Konzilspapst erweist, obwohl er nie auf dem Konzil war. Uns darüber auszutauschen, ist, glaube ich, von höchster Bedeutung. Warum? Wir treiben heute Abend keine Papolatrie.2 Papolatrie wäre Papstgötzendienst. Wir treiben keine Papstverehrung heute Abend, sondern wir bemühen uns darum, den Papst Franziskus zu verstehen, damit wir den offenen Raum, den er uns zur Verfügung stellt, aktiv nutzen und damit eben auch, wenn es geboten erscheint, uns einer geschwisterlichen Kritik befleißigen können. Denn wir haben inzwischen gelernt, wer Stellvertreter Christi auf Erden3 wirklich ist: „Er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte den Seinen: Wer ein solches Kind aufnimmt, nimmt mich auf und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (vgl. Mk 9,35 par). Das Kind ist der Stellvertreter Gottes auf Erden. Jedes Kind, auch das Kind, das wir einmal waren. „Was Ihr den geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt Ihr mir getan.“ (vgl. Mt. 25, 31-46). Die geringsten Geschwister sind Stellvertreter Christi auf Erden. Das vertritt auch Papst Franziskus, als er vor annähernd vier Wochen sagte, die Ordensgemeinschaften dürfen ihre leerstehenden Klöster nicht den Hotelgesellschaften zur Verfügung stellen, damit diese daraus teure Hotels machen. Diese Häuser gehörten dem Fleisch und Blut Christi. Und wer war für ihn das Fleisch und Blut Christi? Die Flüchtlinge. Ja, ist das nicht wunderbar, dass man so etwas inzwischen vom Papst selbst hört?
Ich wollte damit nur andeuten: Wir fangen an zu begreifen, dass Papst Franziskus uns einen Raum eröffnet. Aber ich fürchte, dass wir alle zu sehr darin stecken bleiben, uns die Anekdoten von Franziskus zu erzählen, also z.B. dass er immer noch in der Casa Santa Marta, dem Gästehaus des Vatikans, lebt und da wie jeder andere Gast auf dem Tablett sein Essen holt, und sich dann an den Tisch neben die anderen Gäste setzt. Eines Tages kommt dann der Kardinal von Manila, Tagle, auch mit seinem Tablett und fragt: Heiliger Vater, darf ich mich neben Sie setzen? Da antwortet Franziskus: Heiliger Sohn, Du siehst, da ist noch Platz. – Verstehen Sie? Auf diese Weise unterläuft er alles das, was wir an künstlicher Sakralisierung geschaffen haben.
Heute Abend jedoch wollen wir nicht in den Anekdoten stecken bleiben, die einzelnen Gesten jetzt nicht nur als den Einfall des Individuums Jorge Mario Bergoglio vor Augen haben, sondern zu begreifen versuchen, dass darin Programm steckt und welches das Programm ist. Dazu ist dieser Abend gedacht.
Ich würde dieses Bemühen gerne mit Ihnen in drei Schritten vornehmen:
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im ersten Schritt die pastorale Umkehr zur samaritanischen Kirche an beispielhaften Texten aus der Generalversammlung von Aparecida im Jahre 2007 aufweisen;
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im zweiten Schritt am konkreten Beispiel darlegen, wie Bergoglio die Zensurmaßnahmen des Vatikans überlistet;
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im dritten Schritt „Sieben programmatische Herausforderungen des Papstes Franziskus“ für die Pastorale Umkehr zur samaritanischen Kirche formulieren.
Ich habe dafür auch drei Textblätter vorbereitet. Ich hoffe, dass Sie davor nicht zurückschrecken, so viel lesen zu müssen. Wir müssen das jetzt auch gar nicht alles lesen. Mit Hilfe dieser Textauswahl will ich Sie nur gerne auf die Spur bringen. Sie können die Textblätter mit nach Hause nehmen und – wenn Sie mögen – auch noch einmal mit anderen durchsprechen. Papst Franziskus handelt mit seinen Gesten, mit seinen Symbolen, mit seinen Worten so, wie er es tut, nicht, weil er ein so netter Pastor ist und weil ihm das gerade einfällt. Sondern er handelt vielschichtiger. Das möchte ich in diesen verschiedenen Schritten deutlich machen, vor allem mit Hilfe des Dokumentes von Aparecida.
1. Pastorale Umkehr zur samaritanischen Kirche – Textauswahl aus dem Dokument von Aparecida
Vielleicht hat der eine oder die andere von Ihnen schon mal von Aparecida gehört? Wer davon nicht gehört hat, fühle sich nicht beschämt. Aparecida ist nämlich für die meisten von uns in Europa ein völlig unbekannter Ort, 40.000 Einwohner, in der Nähe von Sao Paulo in Brasilien. Dieses Aparecida mit 40.000 Einwohnern hat eine Kathedrale, in der 40.000 Menschen Platz haben. Gehen die etwa mit Mann und Maus alle in die Kirche? fragt man sich dann, wenn man das hört. Brauchen die so eine große Kathedrale? Nein, Aparecida ist ein Wallfahrtsort geworden. An jedem Wochenende kann man da 120.000 Menschen antreffen. An jedem Tag mindestens 1.000. Im Jahr mehr als 8 Millionen. Aparecida ist das Nationalheiligtum Brasiliens. Was ist der Kern dieser Riesenkathedrale? Ein 30 cm großes Marienbild! Darüber hat Papst Franziskus bei seinem Besuch in Brasilien in seiner Ansprache vor den Bischöfen eine sehr anrührende Meditation gehalten. Daraus will ich ein paar Sätze zitieren:
In Aparecida hat Gott Brasilien seine eigene Mutter geschenkt. Aber in Aparecida hat Gott auch eine Lehre über sich selber erteilt, über sein Sein und Handeln. Eine Lehre über die Demut, die als ein wesentliches Merkmal zu Gott gehört und die in der DNA Gottes verankert ist. Es gibt etwas Immerwährendes, das man in Aparecida über Gott und über die Kirche lernen kann; eine Lehre, die weder die Kirche in Brasilien, noch das Land Brasilien selbst vergessen dürfen.
Am Anfang des Geschehens von Aparecida steht die Suche der armen Fischer. Viel Hunger und wenig Ressourcen. Das Volk braucht immer Brot. Die Menschen gehen immer von ihren Bedürfnissen aus, auch heute.
Sie haben ein brüchiges, ungeeignetes Boot; sie haben schlechte, vielleicht auch beschädigte, unzureichende Netze.
Zuerst ist da die Mühe, vielleicht die Müdigkeit aufgrund des Fischens, und doch ist das Ergebnis dürftig: Ein Scheitern, ein Misserfolg. Trotz der Anstrengungen sind die Netze leer.
Und dann, wann Gott will, ist er selbst in seinem Geheimnis plötzlich da. Die Wasser sind tief, und doch bergen sie immer die Möglichkeit Gottes in sich; und er ist überraschend angekommen, möglicherweise als man nicht mehr auf ihn wartete. Die Geduld derer, die auf ihn warten, wird stets auf die Probe gestellt. Und Gott ist auf neue Weise gekommen, denn Gott ist Überraschung: ein Bild aus zerbrechlichem Ton, eingedunkelt von den Wassern des Flusses, gealtert auch durch die Zeit. Gott tritt immer im Gewand der Spärlichkeit (der Unwichtigkeit/Bedeutungslosigkeit) herein.4
Warum hat dieser Ort Aparecida für Jorge Mario Bergoglio solch eine große Bedeutung? Weil in Aparecida im Jahr 2007 die 5. Generalversammlung der Bischöfe aus Lateinamerika und der Karibik stattgefunden hat. Und Jorge Mario Bergoglio hat als Vorsitzender der Argentinischen Bischofskonferenz hier eine entscheidende Rolle gespielt. Er war 1998 zum Erzbischof von Buenos Aires ernannt worden, 2001 zum Kardinal, 2005 Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz, 2007 wird er mit 250 anderen Leuten, Männern, Frauen, Katholiken, Juden, evangelischen Christen, die diese Versammlung von Aparecida ausmachen, Delegierter. Und die Versammlung beauftragte Jorge Mario Bergoglio dafür zu sorgen, dass aus diesem Zusammensein ein Dokument entstehe.
Anno 2007 war die 5. Generalversammlung. Da muss es vorweg ja vier andere gegeben haben?! 1992 war die 4. in Santo Domingo. Da ging es – wie Sie sich vorstellen können – um das Thema „500 Jahre…“ – Ja, was jetzt: 500 Jahre Evangelisierung oder 500 Jahre Eroberung und Widerstand? Wie soll man das „Jubiläum“ nun bezeichnen – das war damals 1992 der Streit. Die 3. Generalversammlung hat stattgefunden 1979 in Puebla in Mexiko. Dorthin hat Johannes Paul II. seine erste Auslandsreise gemacht. In Puebla ging es um den Streit über die Kirche der Armen, um die Option für die Armen. Vom Vatikan aus war Puebla dazu gedacht, die 2. Generalversammlung, die 1968 stattgefunden hatte, zu korrigieren. Das war nämlich die Generalversammlung in Medellin, im kolumbianischen Medellin. Bestimmte Kräfte im Vatikan und unter den lateinamerikanischen Bischöfen wollten korrigiert sehen, was 1968 in Medellin passiert war. In Medellin 1968 ist die koloniale Kirche tatsächlich in Wort und Tat vom hohen Ross gefallen, vom kolonialen Ross – und hat in Medellin die Option für die Armen getroffen5. In Puebla wollte man das als einseitig korrigieren. Dann haben aber diejenigen, die 1968 dabei waren und 1979 auch noch da waren, dafür gesorgt, dass das nicht geschah. Sie haben vielmehr dagegen vertreten: Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Wir müssen nicht nur eine Option für die Armen treffen, sondern wir müssen erkennen, dass die Armen es sind, die uns näher an das Evangelium heranführen. Im Dokument von Puebla haben sie das als „evangelisatorisches Potenzial der Armen“ bezeichnet6.
An diesen wenigen Stichworten merken Sie bereits, dass sich eine ganze kirchengeschichtliche Epoche hinter der Person Jorge Mario Bergoglio`s verbirgt. Und nun kommt der Jorge Mario Bergoglio 2007 in die fatal-glückliche Lage, das Dokument von Aparecida7 an entscheidender Stelle mitschreiben zu können/müssen, je nachdem. Aus heutiger Sicht müssen wir sagen „glückliche Lage“, denn dabei ist er auch sozialisiert worden. Er hat nämlich gelernt, wie man verschiedene Strömungen innerhalb der Kirche zuammenführen und ihnen das Wort geben kann. Er hat nicht nur das gelernt, sondern noch mehr. Er erzählt immer wieder: Für mich war das Bewegendste in Aparecida, dass wir uns ausgerechnet in den Katakomben der Kathedrale trafen. Über uns waren die Pilger. Wir hörten deren Gesänge und deren Gebete. Wir hatten also keine Versammlung, die sich sozusagen hinter verschlossenen Türen in einem abgeschlossenen Raum abspielte, sondern waren bei unseren Beratungen täglich mitten in das Pilgergeschehen einbezogen.
Ich war damals in Aparecida als Beobachter mit anwesend, hatte täglich Zugang zum Pressesaal und manchmal auch in die Versammlungsräume, durfte also ständig erleben, wie sich die Versammlung entwickelte. In der Tat, es war bewegend zu erleben, wie nach Puebla und Santo Domingo, wo sich die Bischöfe in einem abgeschlossenen Kirchenraum bzw. in einem abgeschlossenen Priesterseminarsraum trafen und mit dem einfachen Volk gar nicht in Berührung kamen, nun in Aparecida nach der Messe morgens die Leute die Bischöfe festhielten und sagten: Padrecito, segne mich, bendigame, oder segne mein Kind, das ist krank usw…., so dass die Bischöfe ständig mit der realen Not der einfachen Leute konfrontiert waren. Das Dokument, das aus diesem Prozess hervorging, ist für Jorge Mario Bergoglio das Programm seines Pontifikats geworden.
Ich will Ihnen das gleich an zwei Stichworten deutlich machen, an den beiden Stichworten: „Pastorale Umkehr“ und „Samaritanische Kirche“. Im Auftrag des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz habe ich an der Übersetzung des Dokuments von Aparecida ins Deutsche mitgewirkt. Daher bin ich damit sehr vertraut. Es ist ein eindrucksvolles, auch sprachlich eindrucksvolles Dokument eines Ereignisses, von dem ich jetzt nur ein paar Szenen kurz geschildert habe.
Ich gebe Ihnen ein Arbeitsblatt an die Hand8. Wir lesen nicht jeden einzelnen Abschnitt. Ich möchte Sie nur gerne darauf aufmerksam machen, dass diese beiden Stichworte: „pastorale Umkehr“ und „samaritanische Kirche“, die Sie oben in der Überschrift finden, die Schlüsselworte von Aparecida sind. Und wenn Jorge Mario Bergoglio jetzt als Papst Franziskus jedem seiner Besucher das Dokument von Aparecida in die Hand gibt, dann gibt er damit zu verstehen: Wer die Art und Weise meines Papstamtes verstehen will, muss Aparecida lesen. – Verstehen sie? Sie werden wahrscheinlich ganz schnell an den Formulierungen bemerken, dass in vielen Reden, Predigten in vielerlei Variationen Gedanken aus dem Dokument von Aparecida wiederkehren. Pastorale Umkehr meint nicht, mehr Leute in die Maiandacht oder zur Beichte zu bringen. Oder mehr Messen bzw. mehr Wortgottesdienste anzubieten oder ähnliches. Das bliebe in dem stecken, was Papst Franziskus die sich um sich selbst drehende, die „selbstreferentielle“ Kirche nennt. Nein! Pastorale Umkehr heißt, wie das die Nummer 365 sagt: Die morsch gewordenen Strukturen aufgeben! oder die Nr. 366: Auf die Zeichen der Zeit achten! Oder die Nr. 367: Die heutigen gesellschaftlichen, kulturellen Transformationsprozesse ernst nehmen! (Gehört zu den Zeichen der Zeit.) Oder die Nr. 368: „Die Umkehr bringt uns Hirten dazu, immer mehr die Spiritualität von Kommunion und Partizipation zu leben“, d.h. auf gleicher Augenhöhe in Gemeinschaft der Gläubigen und gegenseitiger Ernstnahme leben. Oder die Nr. 369: „Das Modell für die Erneuerung unserer Gemeinden finden wir in den ersten christlichen Gemeinden“ und nicht in den Provinzfürstentümern, die jetzt gerade im deutschen Kirchenraum als sog. „Strukturreformen“ organisiert werden, damit viele kleine Provinzfürsten das Sagen haben. – Aber hier in Nr. 369 wird dann auch gesagt: „Dazu motivieren uns auch die Communio-Ekklesiologie (also die Lehre von der kirchlichen Gemeinschaft) des 2. Vatikanischen Konzils, die Synodenpraxis der Nachkonzilszeit und die vorangegangenen Generalversammlungen des Episkopats“. Sie stellen sich selber also in eine große Geschichte hinein. Und das alles dient dazu, wie es im nächsten Abschnitt Nr. 371 heißt: „wirksam auf die Herausforderungen der Welt von heute (zu) reagieren!“. Mit diesen Stichworten, die fett gedruckt hervorgehoben sind, wollte ich Sie ganz kurz aufmerksam machen auf Stil und Inhalt des Dokuments von Aparecida. Wer sich dann das Buch besorgen will, kann sich an die Deutsche Bischofskonferenz wenden. Dazu habe ich auf dem Textblatt auch die Quellenangabe angegeben.
Im Grunde wird hier im Dokument von Aparecida auf eine große, einzigartige Geschichte zurückgegriffen. Keine andere Kontinentalkirche – weder die von Europa, noch von Asien oder Afrika – hat eine solche Nach-Konzilsgeschichte aufzuweisen. Und Jorge Mario Bergoglio ist Repräsentant dieser Geschichte. Der ist auch selber durch die Militärdiktatur von Argentinien gegangen. In unserer Presse ist häufig verbreitet worden, dass er während der Militärdiktatur als Jesuitenprovinzial zwei Jesuiten nicht genügend beschützt oder gar verraten habe, die entführt und gefoltert wurden. Bergoglio hat in seinem Interview mit den Jesuitenzeitschriften9 vom August 2013 zugestanden, dass er als Provinzial Fehler gemacht habe. Jedoch ist inzwischen ein Buch erschienen, das auch in Deutschland erscheinen wird, und zwar unter dem Titel: „Bergoglios Liste“. Dieser Titel lässt den Filmtitel anklingen „Schindlers Liste“. „Bergoglios Liste“ hat eine ähnliche Funktion wie „Schindlers Liste“. In diesem Buch werden viele Fälle erwähnt, bei denen Bergoglio hilfreich tätig war. Also darf man nicht immer so tun, als ob wir jetzt kommen und darüber urteilen könnten, ob sich jemand während der Militärdiktatur die Finger schmutzig gemacht hat oder nicht. Nein, der Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel sagt: Jorge Mario Bergoglio war auch als junger Jesuitenprovinzial kein Kollaborateur, kein Komplize der Militärdiktatur. Er war mehr Mitläufer, hat sich nicht offen dagegen aufgelehnt, aber auch nicht kollaboriert, sondern im Stillen zu wirken versucht. Er hat die danach folgenden Irrungen und Wirrungen der Demokratisierungsphasen mit durchlebt, hat erlebt, wie das Volk bei der neoliberalen Schuldenpolitik in Argentinien verelendete und ist dann selber in die Elendszonen gezogen; hat als Bischof die Priester in den ersten Priesterjahren dazu verpflichtet, in die Elendsviertel zu gehen. Die bekamen keine andere Pfarrei, die mussten erst mal in die Elendsviertel.
So hat er die ganze Geschichte selber auch mitgemacht. Damit deute ich nur an, was es bedeutet, dass ein Lateinamerikaner zum Papst gewählt wird. Das ist nicht einfach eine geographische Feststellung, jetzt ist mal ein anderer Kontinent dran, der kommt jetzt vom „Ende der Welt“. Diese rein geographische Zuordnung wird dem Vorgang nicht gerecht. Hinter „Lateinamerika“ steht vielmehr diese ganze Geschichte. Davon habe ich ja jetzt nur mit ein paar Strichen erzählt. Ich habe noch gar nicht von den Auseinandersetzungen geredet, die der Weg der lateinamerikanischen Kirche von Medellín bis Aparecida nach sich gezogen hat, noch gar nichts gesagt von den Märtyrern. Einen der bekanntesten Märtyrer kennen Sie, Oscar Arnulfo Romero, den Erzbischof von San Salvador, der 1980 am Altar von einer Todesschwadron erschossen wurde. Ich habe noch nicht die Jesuiten von El Salvador erwähnt, Ignacio Ellacuría und seine Gefährten, die ermordet wurden, als wir auf der Berliner Mauer tanzten. Diese Märtyrer sind nicht ohne Mit-Schuld des Vatikans umgebracht worden10. Durch Vatileaks und Wikileaks – und wie die Leaks alle heißen mögen – ist das ja alles ans Licht gekommen.
An diesen weltbekannten Menschen Romero und Ellacuría lässt sich gut verfolgen, was vielen unbekannten Menschen in Lateinamerika in den 80er und 90erJahren geschehen ist. Und von dieser Geschichte ist Jorge Mario Bergoglio mitgeprägt: Von der Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie. Und jetzt wird er zum Papst gewählt und tut genau das, was sie in den Basisgemeinden immer getan haben, nämlich die Bibel im Kontext der konkreten alltäglichen Erfahrungen zu lesen. Und die Option für die Armen zu treffen. Option für die Armen heißt ja nicht: die reichen Deutschen, z.B. der reiche Priester Norbert Arntz in der reichen Diözese Münster in der reichen Bundesrepublik muss jetzt was für die Armen tun, sondern Option für die Armen heißt etwas anderes. Es lässt sich am besten aus dem Spanischen erklären, wo es ja auch herkommt. „Opción por los pobres“ – „por“ heißt nicht einfach „für“, da tut einer was für die anderen, sondern da muss etwas getan werden, weil etwas so und so ist. „por los pobres“ heißt also: weil es Arme gibt, müssen wir uns umentscheiden. Um der Armen willen müssen wir eine Option treffen. Und unter anderem gehört dazu, mit den Augen der Armen die Bibel lesen. Das macht Bergoglio immer noch. Darum kann man nicht sagen, er ist kein Befreiungstheologe, aber man kann auch nicht einfach sagen, er ist ein Befreiungstheologe nach der Art wie Ignacio Ellacuría oder nach der Art wie Leonardo Boff oder Gustavo Gutiérrez Befreiungstheologen sind, sondern mit der eigenen Geschichte, die er in Argentinien durchlebt hat, ist er ein Theologe, der das Zusammenspiel von befreiender Botschaft des Evangeliums und gesellschaftlichen Herausforderungen immer neu zu bedenken sich veranlasst sieht. Darum genügt es, wenn wir jetzt vom Textblatt die anderen unter den Sternchen stehenden drei Abschnitte nur kurz streifen, z.B. die Nr. 26: „Wir fühlen uns durch Leid, Unrecht und Kreuz herausgefordert, als samaritanische Kirche zu leben“.
Sie erinnern sich alle an die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Das ist sozusagen das Modell, das dahinter steht. Im nächsten Abschnitt Nr. 135 heißt es: „…müssen wir in die Dynamik des barmherzigen Samariters eintreten, indem wir so handeln wie Jesus“. Also, in den heutigen Verhältnissen genau das Gleiche tun, was Jesus tat. Dazu gehört dann – und das ist der Abschnitt Nr. 537, der letzte auf dem Blatt: „Wege zur Zivilisation der Liebe eröffnen“. Es genügt nicht, dem unter die Räuber Gefallenen die Wunden zu verbinden, man muss verhindern, dass es Straßen gibt, auf denen Menschen unter die Räuber fallen. Das heißt: Zivilisation der Liebe, „gerechte Strukturen schaffen“. Ich lasse es bei diesen Zitatverweisen auf das Dokument von Aparecida bewenden. Die beiden Grundlinien des Pontifikats von Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus „Pastorale Umkehr“ und „Samaritanische Kirche“ sind sichtbar geworden. Sie sind bestimmend und tauchen in allen Anekdoten und in allen Verhaltensweisen wieder auf. Das werden wir gleich an ein paar Stellen aus seinen Ansprachen und Reden als Papst noch genau verfolgen können.
2. Der Streit um die Kirche der Armen. Oder: Wie Bergoglio die Zensurmaßnahmen des Vatikans überlistet…
Ich möchte Ihnen ein Beispiel vorlegen für den Streit um die Kirche der Armen und ihre Theologie der Befreiung, das zwar nicht so brisant ist wie der Konflikt um Romero oder Ellacuría, aber dennoch erhellend, vor allem im Hinblick auf das Verhalten von Bergoglio als Papst. Da geht es nämlich um einen Streitpunkt, in den Bergoglio selber verwickelt war. Und dazu möchte ich Ihnen jetzt ein 2. Textblatt an die Hand geben11.
Also, wir haben jetzt eben auszugsweise ganz grob Einblick genommen in das Dokument von Aparecida. Und jetzt muss ich Ihnen eine Geschichte zu diesem Dokument erzählen. Ähnliche Geschichten lassen sich zum Dokument von Puebla und zum Dokument von Santo Domingo erzählen. Jedes Mal wurde ein Dokument erarbeitet und am Ende verabschiedet. Und jedes Mal wurde das Dokument erst dem Papst übergeben und dann ein paar Wochen später veröffentlicht. Wenn man dann die beiden Dokumente – das verabschiedete und das von Rom veröffentlichte – miteinander vergleicht, dann lassen sich erhebliche Eingriffe in den Text feststellen. Jedes Mal waren mindestens 120 Eingriffe zu verzeichnen. Aber ich beschränke mich jetzt auf das Aparecida-Dokument. In der letzten Pressekonferenz vor dem Abschluss der Versammlung von Aparecida hatte ich den Vorsitzenden der Versammlung, Kardinal Errázuriz von Santiago de Chile, gebeten, er möge uns, den Journalisten und Beobachtern, doch bitte das heute verabschiedete Dokument schon mal in die Hand geben. Da sagte er mir: „Solche Fragen kann nur ein aufmüpfiger Deutscher stellen. Wir sind gehorsame, freundliche Mitarbeiter des Papstes und wir übergeben erst dem Papst unser Dokument und zeigen ihm, was wir beschlossen haben; dann soll der Heilige Vater das lesen und billigen. Danach bekommen wir es wieder zurück und dann veröffentlichen wir es.“ Das hört sich alles so nett und lieb an. Aber wir Beobachtende wussten ja bereits: Wenn sie im Vatikan den Text haben, werden sie rausschneiden, was ihnen nicht passt. Wer veranlasst das? Das sind möglicherweise diejenigen, die sich im Vatikan für den Glauben verantwortlich fühlen. Die List des Heiligen Geistes hilft dabei, die Spuren zu sichern. Es ist ja immer so, dass es junge Leute gibt, die sich mit USB-Sticks auskennen. Die haben dafür gesorgt, dass das am 30. Mai beschlossene Dokument in elektronischer Fassung in unsere Hände gelangte. Außerdem erhielten alle Delegierten ein ausgedrucktes Exemplar in die Hand, und das konnten sie natürlich auch mitnehmen, sodass wir es fotokopieren konnten. Damit hatten wir das am 30. Mai beschlossene Dokument in doppelter Fassung zur Verfügung. Als dann am 11. Juli das Dokument vom Vatikan veröffentlicht wurde, haben wir es durch die wunderschönen Vergleichsprogramme in Word durchlaufen lassen und dann alle Veränderungen in roter Farbe hervorgehoben präsentiert bekommen. Der ganze Text war durchzogen von roten Anmerkungen. An einer einzigen Nummer will ich jetzt diesen Vergleich mit Ihnen durchexerzieren. Warum? Weil das hier angesprochene Thema bei Jorge Mario Bergoglio immer wieder auftaucht. Auf der ersten Seite des Textblattes sehen Sie die beiden Spalten, die den unmittelbaren Vergleich des Textes vom 30. Mai 2007, der von der Versammlung beschlossen wurde, mit dem Text vom 11. Juli, der vom Vatikan veröffentlicht wurde, gestattet. Das Wort „Klerikalismus“ wird gestrichen; „dass es keinen Sinn für Selbstkritik …gibt“, wird gestrichen; „Moralismen, die die zentrale Bedeutung Jesu Christi abschwächen“ wird gestrichen. Man muss es schon als eine List des Heiligen Geistes betrachten, dass ausgerechnet die Stichworte „Klerikalismus“ – „Selbstkritik“ und „Moralismen, die die frohe Botschaft verdunkeln“ in nahezu allen Ansprachen von Papst Franziskus eine Schlüsselrolle spielen. Das lässt sich an der Ansprache von Papst Franziskus vor dem CELAM, dem Lateinamerikanischen Bischofsrat, d.h. vor jenem Organisationsorgan, das immer die Lateinamerikanischen Bischofsversammlungen organisiert hat, gut verfolgen. Er hat sich mit dem CELAM bei seiner Brasilienreise getroffen und ihm eine Ansprache gewidmet, aus der ich einen Abschnitt als 2. Text auf diesem Textblatt abgedruckt habe. Darin sagt er: „Der Klerikalismus ist ebenfalls eine sehr aktuelle Versuchung in Lateinamerika. Seltsamerweise handelt es sich in der Mehrheit der Fälle um eine sündige Komplizenschaft. Der Pfarrer klerikalisiert und der Laie bittet ihn höflich, ihn zu klerikalisieren. […]“
Dagegen steht die Erfahrung der Bibelgruppen und Basisgemeinden:
„Der Entwurf der Bibelgruppen, der kirchlichen Basisgemeinden und der Pastoralräte geht in die Richtung der Überwindung des Klerikalismus und eines Anwachsens der Verantwortung der Laien.“ Ich glaube, an diesem Text lässt sich gut erkennen, dass Jorge Mario Bergoglio sich über den Eingriff in „seinen“ Text, den er zusammen mit den Bischöfen formuliert hatte, so geärgert hat, dass er jetzt ständig das Andere herausholt und das Andere betont.
Ich wollte gerne deutlich machen, einerseits die Eingriffe in das Schlussdokument von Aparecida, andererseits wie Papst Franziskus damit umgeht und schließlich, wie jetzt drei alte Bischöfe aus Brasilien daüber urteilen. Das ist der dritte Textauszug, den Sie auf diesem Blatt finden. Aus dem Brief der drei emeritierten Bischöfe Pires, Balduino und Casaldáliga in Brasilien, den sie am 15.08. dieses Jahres geschrieben haben: „Der von Papst Franziskus denunzierte Klerikalismus ist dabei, dem Verständnis von Kirche die zentrale Bedeutung des Volkes Gottes zu rauben, obwohl doch ihre Mitglieder durch die Taufe zur Würde von Priestern, Propheten und Königen erhoben wurden. Ebenso verhindert dieser Klerikalismus die führende Rolle der Männer und Frauen im Laiendienst, indem er dem Weihesakrament eine Vorrangstellung gibt vor dem Sakrament der Taufe und vor der radikalen Gleichheit aller getauften Frauen und Männer in Christus“. Das schreiben drei alte Bischöfe, die inzwischen pensioniert sind.
Nun aber zum dritten Schritt:
3. Sieben programmatische Herausforderungen des Papstes Franziskus für die pastorale Umkehr zu einer samaritanischen Kirche.
Franziskus hat ein Programm zur Veränderung der Kirche. Er will eine pastorale Umkehr hin zu einer samaritanischen Kirche. Das Motiv hat er bereits in seiner Fünf-Minuten-Ansprache während des Vor-Konklave formuliert. Ich will Ihnen nur gerne zwei Sätze aus dieser Fünf-Minuten-Ansprache zitieren. Das ist nämlich auch eine schöne Geschichte, die auf der einen Seite deutlich macht, wie Bergoglio handelt, auf der anderen Seite, wie er in der Kirche wirkt. Dieser Text ist kein Geheimtext, weil das Vorkonklave keine geheime Sache ist. Das Konklave wird zur geheimen Sache, aber davon wissen wir inzwischen ja auch, weil es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Wir bleiben beim Vorkonklave. Da haben sich viele Kardinäle zu Wort gemeldet, über die Situation der Kirche und die Anforderungen an den neuen Papst gesprochen. Unter anderem meldet sich auch Jorge Mario Bergoglio und sagt:
Evangelisieren, dazu ist die Kirche da.
Evangelisieren setzt voraus, dass die Kirche freimütig aus sich selbst herausgeht. Die Kirche ist dazu aufgerufen, aus sich selber heraus und an die Peripherien zu gehen, nicht nur an die geographischen, sondern auch an die existentiellen Peripherien. […] Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um zu evangelisieren, bleibt sie nur bei sich selbst und wird krank […]. Die Missstände, die sich im Laufe der Zeit in den Institutionen der Kirche gezeigt haben, haben ihren Grund in dieser Selbstbezüglichkeit, in einer Art theologischem Narzissmus.
Den Narzissmus haben die Psychoanalytiker als eine Krankheit bezeichnet, in der sich die Menschen nur um sich selbst drehen. Das hätte mal vor zwei Jahren ein Theologe über die Kirche sagen müssen, der wäre dreikantig rausgeflogen.
Wenn die Kirche auf sich selbst bezogen ist, ohne es zu bemerken, glaubt sie, sie selbst besäße das Licht; dann verliert sie ihr „mysterium lunae“ und verfällt der so schrecklichen Misere spiritueller Weltlichkeit.
Ich muss das Zitat noch einmal unterbrechen, weil da wieder so ein spezifischer Begriff verwendet wird. „mysterium lunae“ – was ist das? Das Mysterium des Mondes. Das ist ein Bild, das die alten Kirchenväter verwendet haben: So wie der Mond nur leuchten kann, wenn er von der Sonne beschienen wird, so kann die Kirche nur leuchten, wenn sie von der Sonne Christus beschienen ist und im Lichte Jesu Christi wandelt. Wenn die Kirche das Mysterium des Mondes verliert, dann glaubt sie, sie besäße selber das Licht und geht in die Irre, verfällt der so schrecklichen Misere der spirituellen Weltlichkeit. Dieses Wort „spirituelle Weltlichkeit“ muss man mal auf das pyramidale Gebäude der Kirche beziehen. Das bezieht sich nicht nur darauf, dass der Herr Tebartz-van Elst da jetzt so einen Prunkbau errichtet, sondern es bezieht sich auch auf die langen Schleppen, die Kardinal Frings und Döpfner noch trugen, auf den weißen Hermelin, den sie bei der Eröffnung des Konzils noch umhatten. Das bezieht sich auch auf die feudalistische Gesellschaft, nach der unsere Kirche organisiert ist. Das ist spirituelle Weltlichkeit, weil sie nämlich nichts anderes reproduziert als das, was sie in der Feudalgesellschaft vorgefunden hat.
Weiter Bergoglio am 9. März 2013: Um es vereinfacht zu sagen: Es gibt zwei Ansichten von der Kirche: die evangelisierende Kirche, die aus sich herausgeht […] und die verweltlichte Kirche, die in sich, aus sich und für sich selber lebt. Diese Erkenntnis kann uns die Augen öffnen für mögliche Veränderungen und Reformen, die notwendig sind.
Kardinal Ortega von Havanna (auf Kuba) bat Bergoglio, den Text in der Kirchenzeitung in Kuba veröffentlichen zu dürfen. Nach der Papstwahl und nach dem Konklave ist Kardinal Ortega nach Havanna zurück und hat dann am Gründonnerstag der Karwoche diesen Text in seiner Kirchenzeitung veröffentlicht. Dadurch ist der Text der ganzen Welt bekannt geworden. Die Veröffentlichungskanäle des Vatikans wurde umgangen.
Als drittes Textblatt gebe ich Ihnen nun noch die Auszüge aus Papstreden in diesen letzten 6 Monaten12. Daran können Sie verfolgen, was wir jetzt gerade bedacht haben. Ich biete Ihnen nur Auszüge. Die gesamten Texte aller zitierten Reden können Sie auch in deutscher Übersetzung im Internet finden13.
Bevor wir uns den Texten zuwenden, lassen Sie mich noch eine kleine Anekdote erzählen: Kardinal Oskar Rodriguez Maradiaga, das ist der Koordinator der „Achterbande“ der G-8-Kardinäle, hat erzählt, dass Bergoglio am 14. März bereits die Idee von dieser Achtergruppe hatte. Am 13. März wurde er gewählt, am 14. März hatte er die Idee zur Achtergruppe. Die Idee von der Achtergruppe wird aber erst am 13. April veröffentlicht. Wen er zum Staatssekretär machen wollte, wusste er am 17. März. Der Name wird aber erst am 28. August veröffentlicht. Auch das muss man sich noch einmal klarmachen. Bergoglio verwendet eine lange Vorlaufzeit zwischen Entscheidung und Veröffentlichung. Offenbar bearbeitet er die Entscheidungen immer gründlich, damit er nicht so schnell aus den Schuhen geschlagen werden kann.
Nun aber zum Textblatt: Am 16. März bei der ersten Pressekonferenz verwendet er den Satz: „Wie sehr wünschte ich eine arme Kirche für die Armen“. Damit knüpft er an das an, was Johannes XXIII. vor Beginn des Konzils als seine Vision formuliert hatte, an das, worum im 2. Vatikanischen Konzil gerungen wurde, an den Katakombenpakt und an die gesamte lateinamerikanische Geschichte, die er selbst miterlebt hat.
Seine scharfe Kapitalismuskritik im 2. Textabschnitt hat man in dieser Gestalt noch in keinem Dokument der Katholischen Soziallehre gefunden. Er sagt nämlich, die Finanzkrise und die Wirtschaftskrise, das sind eigentlich keine Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern eine anthropologische Krise, eine Krise des Menschenbildes. Nicht mehr der Mensch ist für den Menschen das höchste Wesen, sondern das Geld ist das höchste Wesen für den Menschen.
Die Anbetung des Goldenen Kalbes aus der Antike (vgl. Ex 32, 15-34) hat ein neues und herzloses Bild im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur der Wirtschaft ohne menschliches Antlitz und ohne echte menschliche Zielsetzung gefunden.
„Fetischismus des Geldes“ ist ein Begriff, den Karl Marx verwendet. Und dann Lampedusa. Am 5. Juli hat er als Papst die Enzyklika Lumen Fidei (29. Juni 2013) veröffentlicht. Und alle bezeichnen sie als die Enzyklika mit vier Händen. Im wesentlichen war es ein Text von Papst Benedikt. Franziskus hat ein paar Sätze zu Beginn und zum Ende beigefügt, sonst hätte er den Text ja nicht als Enzyklika veröffentlichen können. Drei Tage später pilgert er nach Lampedusa. Pater Bernd Hagenkord von Radio Vatikan sagt zu Recht: Das ist Enzyklika auf zwei Beinen. In Lampedusa gedenkt Franziskus der vielen Namenlosen im Meer Umgekommenen und analysiert die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“.
Für Jorge Mario Bergoglio bedeutet Enzyklika nicht ausschließlich große Texte. Sondern seine Enzyklika, könnte man sagen, sind auch die drei Interviews, die er inzwischen gegeben hat. Die Leute in der Kirche, die sozusagen eher einem traditionellen Standpunkt nahestehen, sind ganz beunruhigt und sagen: Diese Interviews, was ist das für eine Kategorie von kirchlichem Lehramt? Ist das Privatmeinung von Jorge Mario Bergoglio, ist das eine amtliche Aussage des Papstes, wie muss man das deuten? Ich glaube, er arbeitet wieder mal daran, dass die Einstellung sich ändert. Er verändert nicht Dogmen, sondern unsere klerikalisierte Einstellung oder unsere kolonialisierten Seelen. Wenn wir die ändern, dann werden wir auch das ganze Glaubensgut, das durch die Jahrtausende weitergegeben worden ist, anders lesen können.
Das 3. Zitat habe ich zwar wieder aus dem Dokument von Aparecida genommen, aber deshalb hier eingefügt, weil es das Originalzitat aus einer Predigt von Jorge Mario Bergoglio ist, die er in Aparecida gehalten hat. Eine solch treffende und sprachlich überwältigende Kennzeichnung der gesellschaftlichen Lage muss man in der Kirchlichen Soziallehre lange suchen.
Im 4. Zitat behandelt Bergoglio, was die arme Kirche sein sollte. Es ist nicht eine Kirche, die im Elend steckt, sondern es ist die Kirche, die einfach mit den einfachen Leuten lebt und in der keine Funktionäre und Staatskleriker das Sagen haben.
Im 7. Abschnitt wird deutlich, dass er Nähe und Begegnung als die entscheidenden Verhaltensweisen für die pastorale Umkehr ansieht. In der vorletzten Zeile dieses Abschnitts liest man wieder ein Wort, das man aus dem Munde eines Papstes noch nie gehört hat: „Man ignoriert [in der klerikalisierten Kirche] die Revolution der Zärtlichkeit, die die Inkarnation des Wortes auslöste“. Das Entscheidende am Gottesglauben ist die Revolution der Zärtlichkeit. Die Christen und Christinnen müssten Revolutionäre und Revolutionärinnen der Zärtlichkeit sein. Das muss man erst mal als pastorale Umkehr bei uns begreifen. Weihnachten feiern und politisch zärtlich werden!
Gott ist eben nicht katholisch, hat Papst Franziskus gesagt. Gott ist auch nicht evangelisch oder orthodox oder Jude, sondern Gott ist Gott. Und das heißt, es gibt niemanden mehr, der behaupten kann: Wir haben Gott. Diejenigen, die bei uns hier ständig über die Gotteskrise reden, haben allen anderen die Gotteskrise angedichtet, aber nie selber dafür Verantwortung übernommen, dass es eine Gotteskrise gibt. Sie haben nämlich Gott katholisch vereinnahmt. So kann man auch mit der Bibel umgehen, dass sie erneut zum Handwerkszeug und zum Zitatenschatz für ideologische Systeme wird, die mit der Menschenfreundlichkeit nicht das Geringste zu tun haben. Dadurch sind unsere Seelen kolonialisiert. Und jetzt kommt es darauf an, dass wir unsere Seelen entkolonialisieren, dass wir die Bibel entkolonialisieren, dass wir die Kirche entkolonialisieren und damit allen Gottesbesitzern die Legitimation entziehen. Dazu verhilft uns der entkolonialisierte Papst, der schließlich die Frucht einer Kolonialgeschichte ist.
Und wenn ich für mich selber die Nachfolgerschaft Jesu ernst nehme, dann darf ich nicht nur auf den Franziskus gucken, dann brauche ich nur die Lazarus-Geschichte und nur die Samariter-Geschichte wieder zu lesen. Die kenne ich von Kindesbeinen an. Was tue ich dann? Ich glaube, dass Franziskus auf diese Frage antworten würde: Du musst nicht alles jetzt gleich tun, was Du als richtig erkannt hast, sondern bleib auf dem Weg. Auf dem Weg findest Du Gott. Und diesen Weg kannst Du gehen in dem Vertrauen, dass Gott größer ist als Deine eigene Sünde. Und wenn Franziskus von Sünde spricht oder vom Teufel, dann meint er ja nicht die privaten schwarzen Flecken, die wir mit unserem Tun und Lassen in uns selber entdecken, sondern mit der Sünde meint er, dass wir einverstanden sind mit den Unrechtsverhältnissen der Welt, in die wir verwickelt sind. Das heißt, zur Armut gehört diese Bereitschaft, sich mit solchen Verhältnissen auseinander zu setzen. Bischof Helder Camara hat einen schönen Gedanken formuliert, der uns helfen kann, uns den Herausforderungen zu stellen, ohne uns zu überfordern. Der Gedanke lautet: „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum, wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ Vielleicht können wir diesen Text als Lied zum Schluss jetzt auch singen.
1 Bei der Verschriftlichung des Tonbandmitschnitts wurde der Vortragsstil leicht überarbeitet, aber im wesentlichen beibehalten.
2 In Anlehnung an den Begriff Idolatrie (Götzendienst), der menschengemachte Dinge, Institutionen, oder auch mächtige Menschen bewusst oder unbewusst mit göttlicher Macht ausstattet und verehrt.
3 Als Kinder haben wir im Katechismus gelernt, Stellvertreter Christi auf Erden sei der Papst. So steht es bis jetzt auch immer noch im Kanonischen Recht. (can 331 CIC)
4 Aus der Ansprache bei der Begegnung mit den brasilianischen Bischöfen am 27. Juli 2013: http://www.vatican.va/holy_father/francesco/speeches/2013/july/documents/papa-francesco_20130727_gmg-episcopato-brasile_ge.html
5 Vgl. das Kapitel 14 „Armut der Kirche“. In: Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla. Stimmen der Weltkirche Nr. 8. Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn o.J., S. 115
6 Vgl. Dokument von Puebla Nr. 1147. a. a. O. S. 329
7 „Aparecida 2007 – Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, in: Stimmen der Weltkirche Nr. 41. Hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz – Bonn 2007.
8 Vgl. Anhang: Textblatt 1 „Pastorale Umkehr“ zur „samaritanischen Kirche“ – Texte aus dem Dokument von Aparecida 2007
9 http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=3906412
10 Vgl. Carl Bernstein/Marco Politi: Seine Heiligkeit. Johannes Paul II. und die Geheimdiplomatie des Vatikans. München 1997; sowie John L. Allen: Josef Ratzinger – Eine Biographie. Düsseldorf 2005
11 siehe Anlage: Textblatt 2 „Wie Bergoglio die Zensurmaßnahmen des Vatikans überlistet…“ – Beispiel „Klerikalismus“
12 siehe Anhang: Textblatt 3: „Pastorale Umkehr“ zur „samaritanischen Kirche“. Sieben programmatische Herausforderungen des Papstes Franziskus.
13 http://www.vatican.va/phome_ge.htm
„Pastorale Umkehr“ zur „samaritanischen Kirche“ – Texte aus dem Dokument von Aparecida 2007* Textblatt 1
(365) […] Ausnahmslos jede Gemeinschaft sollte sich mit all ihren Kräften entschieden auf den ständigen Prozess missionarischer Erneuerung einlassen und die morsch gewordenen Strukturen, die der Weitergabe des Glaubens nicht mehr dienen, aufgeben. (366) Die persönliche Umkehr weckt die Fähigkeit, alles dafür zu tun, dass das Reich des Lebens errichtet werde. Wir alle – Bischöfe, Priester, Ständige Diakone, Ordensmänner und Ordensfrauen, Frauen und Männer im Laienstand – sind gemeinsam aufgerufen, pastoral immer neu umzukehren, indem wir auf die Zeichen der Zeit, durch die Gott sich offenbart, aufmerksam hören und erkennen, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,29). (367) Die Pastoral der Kirche darf den historischen Kontext nicht ignorieren, in dem ihre Mitglieder leben. Sie leben in sehr konkreten soziokulturellen Kontexten. Die heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse stellen natürlich neue Herausforderungen dar für die Sendung der Kirche, das Reich Gottes aufzubauen. Deshalb muss sich die Kirche – dem Heiligen Geist folgend, der sie leitet – durch spirituelle, pastorale und auch institutionelle Reformen erneuern. (368) Die Umkehr bringt uns Hirten auch dazu, immer mehr die Spiritualität von Kommunion und Partizipation zu leben […]. Die pastorale Umkehr verlangt, dass die kirchlichen Gemeinschaften sich um Jesus Christus, den Meister und Hirten, versammeln und so zu Gemeinschaften von missionarischen Jüngern werden. Hier entstehen Offenheit, Dialog und Bereitschaft, allen Gläubigen immer mehr Mitverantwortung im Leben der christlichen Gemeinden zu geben und sie immer effektiver mitbestimmen zu lassen. […] (369) Das paradigmatische Modell für die Erneuerung unserer Gemeinschaft finden wir in den ersten christlichen Gemeinden (vgl. Apg 2,42–47). Sie hatten es verstanden, nach neuen Formen zu suchen, um den Kulturen und den gesellschaftlichen Umständen entsprechend zu evangelisieren. Dazu motivieren uns auch die Communio-Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Synodenpraxis der Nachkonzilszeit und die vorangegangenen Generalversammlungen des Episkopats aus Lateinamerika und der Karibik. […] (370) Die pastorale Umkehr unserer Gemeinschaften verlangt, von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral überzugehen. […] (371) Das Pastoralprojekt der Diözese als Weg zu einer organischen Gesamtpastoral soll bewusst und wirksam auf die Herausforderungen der Welt von heute reagieren mit „konkreten programmatischen Züge(n) […], die es der Verkündigung Jesu Christi erlauben, die Personen zu erreichen, die Gemeinschaften zu formen und durch das Zeugnis in die Gesellschaft und die Kultur tief einzuwirken. Zu diesen programmatischen Zügen gehören |
Arbeitsziele und -methoden, Ausbildung und Förderung der Mitarbeiter sowie die Suche der notwendigen Mittel“. Die Laien sollen im Prozess der Beurteilung, bei den konkreten Entscheidungen, bei der Planung und bei der Ausführung aktiv mitbestimmen können. […] (26) Von Christus erleuchtet fühlen wir uns durch Leid, Unrecht und Kreuz herausgefordert, als samaritanische Kirche zu leben (vgl. Lk 10,25–37) und erinnern uns dabei, „dass sich die Evangelisierung immer zusammen mit der Förderung des Menschen und der wahren christlichen Befreiung entfaltet hat“(Papst Benedikt, Eröffungsansprache). (135) Wenn wir seinem Ruf entsprechen wollen, müssen wir in die Dynamik des barmherzigen Samariters (vgl. Lk 10,29–37) eintreten. Sie verpflichtet uns, vornehmlich für alle Leidenden Nächste zu werden und eine Gesellschaft ohne Ausgeschlossene zu gestalten, indem wir so handeln wie Jesus, der mit Zöllnern und Sündern isst (vgl. Lk 5,29–32), die Kleinen und Kinder zu sich kommen lässt (vgl. Mk 10,13–16), die Aussätzigen heilt (vgl. Mk 1,40–45), die Sünderin befreit und ihr vergibt (vgl. Lk 7,36–49; Joh 8,1–11), mit der Samariterin spricht (vgl. Joh 4,1– 26). (537) Lateinamerika und die Karibik sollen nicht nur der Kontinent der Hoffnung sein, sondern darüber hinaus Wege zur Zivilisation der Liebe eröffnen. […] Damit unser gemeinsames Zuhause ein Kontinent der Hoffnung, der Liebe, des Lebens und des Friedens sein kann, müssen wir als barmherzige Samariter die Not der Armen und der Leidenden sehen sowie „gerechte Strukturen“ schaffen, „ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist“. Über diese Strukturen sagt [Papst Benedikt] weiter: „Weder entstehen sie noch funktionieren sie ohne ein moralisches Einvernehmen der Gesellschaft über die Grundwerte und über die Notwendigkeit, diese Werte mit dem nötigen Verzicht, selbst gegen das persönliche Interesse, zu leben“. Diese gerechten Strukturen entstehen und funktionieren, wenn die Gesellschaft erkennt, dass Mann und Frau – nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen – eine unverletzliche Würde besitzen. Dieser Würde sollen die grundlegenden Werte dienen, die das menschliche Zusammenleben bestimmen. Dementsprechend müssen sie konzipiert und verwirklicht werden. Der moralische Konsens und die Veränderung der Strukturen sind wichtig, um die verletzende Ungleichheit heute auf unserem Kontinent zu verringern, und zwar sowohl durch politische Maßnahmen und durch gut investierte Sozialausgaben als auch durch die Kontrolle der unverhältnismäßigen Gewinne großer Unternehmen. Die Kirche ermutigt dazu, sich mehr in der „Phantasie der Liebe“ zu üben, die wirksame Lösungen möglich macht. *Aparecida 2007. Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz – Bonn 2007 (Stimmen der Weltkirche Nr. 41) |
Wie Bergoglio die Zensurmaßnahmen des Vatikans überlistet… Textblatt 2
1. Im Aparecida-Dokument (DA):
In der vom Vatikan veröffentlichten Version wird die selbstkritische Klage über den Klerikalismus,
die Notwendigkeit der Selbstkritik überhaupt und die Kritik am Moralismus gestrichen:
Nr. 109
Wir beklagen einen gewissen Klerikalismus und Bestrebungen, |
Nr. 100b
Wir beklagen Bestrebungen, zu einer gewissen Art von Ekklesiologie und Spiritualität zurückzukehren, die der Erneuerung durch das II. Vatikanische Konzil widersprechen bzw. die konziliare Erneuerung reduktionistisch deuten und verwenden. Wir beklagen, dass es keinen authentischen Gehorsam und keine dem Evangelium entsprechende Autoritätsausübung gibt,… |
2. Papst Franziskus vor dem CELAM, Rio de Janeiro 28. Juli 2013 „Der Klerikalismus ist ebenfalls eine sehr aktuelle Versuchung in Lateinamerika. Seltsamerweise handelt es sich in der Mehrheit der Fälle um eine sündige Komplizenschaft: Der Pfarrer klerikalisiert, und der Laie bittet ihn höflich, ihn zu klerikalisieren, weil es sich im Grunde für ihn als bequemer erweist. Das Phänomen des Klerikalismus erklärt weithin den Mangel an Reife und christlicher Freiheit in einem Teil des lateinamerikanischen Laientums. […] Es gibt in unseren Ländern eine Form von Freiheit der Laien durch Erfahrungen auf der Ebene der einfachen Leute: der Katholik als einer unter den kleinen Leuten. Hier ist eine größere, im allgemeinen gesunde Autonomie zu beobachten, die grundsätzlich in der Volksfrömmigkeit ihren Ausdruck findet. Das Kapitel des Dokuments von Aparecida über die Volksfrömmigkeit beschreibt diese Dimension gründlich. Der Entwurf der Bibelgruppen, der kirchlichen Basisgemeinden und der Pastoralräte geht in die Richtung der Überwindung des Klerikalismus und eines Anwachsens der Verantwortung der Laien.“ 3. Aus dem Brief der drei emeritierten Bischöfe Pires, Balduino und Casaldáliga vom 15. 8. 2013 Der von Papst Franziskus denunzierte Klerikalismus ist dabei, dem Verständnis von Kirche die zentrale Bedeutung des Volkes Gottes zu rauben, obwohl doch ihre Mitglieder durch die Taufe zur Würde von „Priestern, Propheten und Königen“ erhoben wurden. Ebenso verhindert dieser Klerikalismus die führende Rolle der Männer und Frauen im Laiendienst, indem er dem Weihe-Sakrament eine Vorrangstellung gibt vor dem Sakrament der Taufe und vor der radikalen Gleichheit aller getauften Frauen und Männer in Christus. |
„Pastorale Umkehr“* zur „samaritanischen Kirche“* – Sieben programmatische Herausforderungen des Papstes Franziskus Textblatt 3
1. Wie sehr wünschte ich eine arme Kirche für die Armen!
- Johannes XXIII, das II. Vatikanische Konzil 1962-1965 und der Katakombenpakt 1965
- Medellín 1968 – Puebla 1979 – Santo Domingo 1992
2. Der Kapitalismus ist dringlich als gnadenlose Religion zu entlarven.
Eigentlicher Ursprung der Finanzkrise: „eine tiefe anthropologische Krise – die Negation des Primats des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des Goldenen Kalbes aus der Antike (vgl. Ex 32, 15-34) hat ein neues und herzloses Bild im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur der Wirtschaft ohne menschliches Antlitz und ohne echte menschliche Zielsetzung gefunden.”
(Ansprache vor Botschaftern von Antigua, Botswana, Kirgisistan und Luxemburg, Rom – 16. Mai 2013)
„Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des ‚Mit-Leidens‘ vergessen hat: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen! […] Bitten wir den Herrn um die Gnade, zu weinen über die Grausamkeit in der Welt, in uns, auch in denen, die in der Anonymität sozioökonomische Entscheidungen treffen, die den Weg bereiten zu Dramen wie diesem.“ (Lampedusa, 8. Juli 2013)
3. Im Zentrum die Armen, die Opfer der Kriege und der Zustand der Schöpfung.
„Eine Globalisierung ohne Solidarität wirkt sich negativ auf die ärmsten Schichten aus. Dabei geht es nicht allein um Unterdrückung und Ausbeutung, sondern um etwas Neues, um den gesellschaftlichen Ausschluss. Durch ihn wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft, in der man lebt, untergraben, denn man lebt nicht nur unten, oder am Rande bzw. ohne Einfluss, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht nur ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Überflüssige‘ und ‚menschlicher Abfall‘.“ (Dokument Aparecida Nr. 65)
4. Eine Kirche, die sich als Staat präsentiert, kann niemals eine arme Kirche sein.
„
Wie behandeln wir das Volk Gottes? Ich träume von einer Kirche als Mutter und als Hirtin. Die Diener der Kirche müssen barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten, wie der gute Samariter, der seinen Nächsten wäscht, reinigt, aufhebt. Das ist pures Evangelium. Gott ist größer als die Sünde. Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker.
[…] Was die Kirche heute braucht, ist die Fähigkeit, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht.“
(Interview mit Antonio Spadaro SJ – August 2013)
5. Reform der Römischen Kurie im Sinne einer armen Kirche für die Armen.
“Die zentrale Bürokratie reicht nicht aus: Ein Zuwachs an Kollegialität und an Solidarität ist nötig, und das wird ein wahrer Reichtum für alle sein. […] Es braucht ein Netzwerk regionaler ‚Zeugnisse‘, die die gleiche Sprache sprechen und so nicht etwa Einstimmigkeit überall, sondern vielmehr die wahre Einheit in der Vielfalt gewährleisten. […] Es ist also nützlich, das lokale und regionale Element in zunehmendem Maße zur Geltung zu bringen.“ (Vor den brasilianischen Bischöfen – 27. Juli 2013)
6. Die Gleichheit von Söhnen und Töchtern Gottes in Würde und Freiheit.
“Sind wir Hirten – Bischöfe und Priester – uns der Sendung der Laien bewusst und von ihr überzeugt; geben wir ihnen die Freiheit, die Sendung, die der Herr ihnen im Verlaufe ihres Jüngerseins anvertraut, auch selber erkennen/entdecken zu können? Unterstützen und begleiten wir sie, indem wir jegliche Versuchung zu Manipulation und unrechtmäßiger Unterwerfung überwinden? Sind wir immer offen, uns auf der Suche nach dem Wohl der Kirche und ihrer Sendung in der Welt hinterfragen zu lassen?” (Ansprache vor dem CELAM – Rio de Janeiro 28. Juli 2013)
7. Nähe und Begegnung – Kategorien pastoraler Umkehr.
“In Aparecida werden mit besonderer Relevanz zwei pastorale Kategorien angegeben, die aus der Ursprünglichkeit des Evangeliums selbst hervorgehen […]: Nähe und Begegnung. […] Sie stellen die Weise dar, in der Gott sich in der Geschichte offenbart hat. Er ist der ’nahe Gott‘ für sein Volk – eine Nähe, die ihren Höhepunkt in der Inkarnation erreicht. Er ist der Gott, der hinausgeht, seinem Volk entgegengeht. Es gibt in Lateinamerika und in der Karibik ‚ferne‘ Pastoralkonzepte, Formen einer Disziplinarpastoral, welche die Grundsätze, das Verhalten, die organisatorischen Vorgehensweisen bevorzugen… natürlich ohne Nähe, ohne einfühlsame Zuneigung, ohne Liebkosung. Man ignoriert die ‚Revolution der Zärtlichkeit‘, die die Inkarnation des Wortes auslöste.“ (Ansprache vor dem CELAM – Rio de Janeiro 28. Juli 2013)
Text-Collage: Norbert Arntz, Kleve, Okt. 2013
*vgl. Dokument von Aparecida NNr. 365-372 sowie NNr. 26 und 537