Der frühere Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, starb am Freitag, den 31. August 2012 nach langer Krankheit. Er war eine der prägendsten Figuren in der italienischen Kirche. Zeitweise galt er als aussichtsreicher Kandidat für das Papstamt.
Kurz vor seinem Tod, am 8. August 2012 gab er Georg Sporschill SJ, der ihn auch in den „Jerusalemer Nachtgesprächen“ interviewt hatte, zusammen mit Federica Radice ein Interview: „Eine Art spirituelles Testament. Kardinal Martini hat den Text gelesen und genehmigt.“
Frage: Wie sehen Sie die Situation der Kirche?
Kard. Martini: Die Kirche im wohlhabenden Europa und Amerika ist müde. Unsere Kultur ist alt geworden, die Kirchengebäude sind groß, aber leer und der bürokratische Apparat der Kirche bläht sich auf. Unsere Rituale und die Gewänder sind pompös. Sagt das aus, was wir heute sind? … Der Wohlstand lastet schwer. Wir sind in der Situation des reichen Mannes, der traurig weggeht, als Jesus ihn ruft, sein Jünger zu werden. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, alles zurückzulassen. Aber wir könnten wenigstens nach Menschen suchen, die frei und den Mitmenschen nahe sind, so wie Bischof Romero und die Jesuiten-Märtyrer von El Salvador. Wer sind die Helden und Vorbilder, die uns motivieren und inspirieren? Wir dürfen sie nicht durch institutionelle Grenzen beschränken.
Frage: Wer kann der Kirche heute helfen?
Kard. Martini: Pater Karl Rahner nutzte oft das Bild von der Glut unter der Asche. Ich sehe in der heutigen Kirche so viel Asche über den Kohlen, dass mich oft Hilflosigkeit überfällt.
Wie können wir die Asche entfernen, so dass die Flamme der Liebe neu aufflackern kann? Zunächst müssen wir nach diesem Feuer suchen. Wo sind die Menschen, die helfen wie der gute Samariter? Die glauben wie der römische Hauptmann? Die begeistert sind wie Johannes der Täufer? Neues versuchen wie Paulus? Vertrauen wie Maria Magdalena?
Ich rate dem Papst und den Bischöfen, zwölf außergewöhnliche Menschen zu suchen, die über die Richtung entscheiden. Menschen, die nah bei den Armen und von jungen Leuten umgeben sind und die Dinge in neuer Weise angehen. Wir brauchen die Herausforderung von außergewöhnlichen Menschen, damit der Geist überall wirken kann.
Frage: Was braucht es, um die Müdigkeit der Kirche zu bekämpfen?
Kard. Martini: Ich empfehle sehr nachdrücklich drei Instrumente: Das Erste ist die Umkehr, die Bekehrung. Die Kirche muss ihre Fehler anerkennen und dem Weg einer radikalen Umkehr gehen, angefangen beim Papst und bei den Bischöfen. Der Skandal um die sexualisierte Gewalt gegen Kinder drängt geradezu zu einem Weg der Umkehr. Die Frage der Sexualität und das Verhältnis zum Körper sind ein Beispiel. Sie sind für jeden wichtig, manchmal sogar zu wichtig. Wir müssen uns selbst fragen, ob die Menschen überhaupt noch auf den Rat der Kirche in sexuellen Fragen hören. Ist die Kirche überhaupt noch eine Authorität auf diesem Gebiet oder nur noch eine Karrikatur in den Medien?
Das Zweite ist das Wort Gottes. Das II. Vatikanische Konzil hat den Katholiken die Bibel zurück gegeben. … Nur wer in seinem Herzen dieses Wort spürt, kann bei der Erneuerung der Kirche vielleicht noch helfen und die persönlichen Fragen richtig entscheiden. Das Wort Gottes ist einfach und sucht als Ziel das hörende Herz. … Weder der Klerus noch das Kirchenrecht kann die persönliche Entscheidung ersetzen. Alle äußeren Regeln, Gesetze, Dogmen sind uns als Hilfe gegeben, damit wir Entscheidungen treffen und die Geister unterscheiden können.
Für wen sind die Sakramente? Sie sind ein drittes Heilsmittel auf dem Weg. Die Sakramente sind keine Werkzeuge zur Disziplinierung, sondern eine Hilfe für Menschen an kritischen Punkten, wenn das Leben schwer wird. Bringen wir denjenigen die Sakramente, die neue Kraft benötigen? Ich denke an die geschiedenen Menschen und die wiederverheirateten Paare und ihre Familien. Sie benötigen besonderen Unterstützung. Die Kirche hält an der Unauflöslichkeit der Ehe fest. Es ist Gnade und Geschenk, wenn Ehe und Familie gelingt … Die Art, mit der wir auf diese Patchwork-Familien umgehen, entscheidet auch über das Verhältnis der Kinder zur Kirche. Eine Frau wird von ihrem Mann verlassen und findet einen neuen Partner, der sich um sie und ihre drei Kinder sorgt. Diese zweite Liebe gelingt. Wenn man diese Familie diskriminiert, wird sich nicht nur sie, sondern werden auch die Kinder abgewiesen. Wenn sich die Eltern außerhalb der Kirche fühlen und dort keine Unterstützung finden, wird die Kirche auch die zukünftige Generation verlieren. Vor der Kommunion beten wir: „Herr, ich bin nicht würdig…“ Wir wissen, dass wir nicht fehlerlos sind Liebe ist ein Geschenk, eine Gnade … Die Frage, ob Geschiedene die Kommunion empfangen können, muss umgedreht werden. Wie kann die Kirche durch und mit den Sakramenten zur Hilfe für schwierige Familiensituationen werden?
Frage: Was treibt Sie persönlich an?
Kard. Martini: Die Kirche ist 200 Jahre zurückgeblieben. Warum rüttelt das nicht auf? Haben wir Angst. Angst statt Mut? Glaube ist das Fundament und der Ursprung der Kirche – Glaube, Vertrauen, Mut. Ich bin alt und krank und abhängig von der Hilfe anderer. Die guten Menschen um mich herum ermöglichen mir die Erfahrung von Liebe. Diese Liebe ist stärker als das Gefühl der Entmutigung, das mich manchmal bei Blick auf die Kirche in Europa befällt. Nur die Liebe besiegt die Müdigkeit. Gott ist Liebe. Ich habe eine Frage an dich: „Was kannst du für die Kirche tun?“
Übersetzung: Ludger Weckel
Quelle: Corrierre della Sera vom 1.9.2012, aus: http://www.corriere.it/cronache/12_settembre_02/le-parole-ultima-intervista_cdb2993e-f50b-11e1-9f30-3ee01883d8dd.shtml (3.9.2012).