In den letzten Wochen hat nach der us-amerikanischen, der australischen und der irischen katholischen Kirche auch die bundesrepublikanische vor allem durch Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen von sich reden gemacht. So mussten auch meine Kinder feststellen, dass ihr Kaplan über Nacht verschwunden war, weil er wegen bestätigten schweren Missbrauchs in seiner Zeit als Alkoholiker überführt wurde. Ich selbst erfuhr vor einigen Jahren, dass mein Jugendkaplan in nicht allzuweit zurückliegender Vergangenheit wegen Missbrauchs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde: es reicht! Diese Kirche hat ihre Legitimation verloren, sich als Nachfolgegemeinschaft des Messias Jesu zu bezeichnen. Wie kann man in der gegenwärtigen Situation, wie der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz Zollitsch, sagen: „Sexueller Missbrauch von Kindern ist kein spezifisches Problem der katholischen Kirche. Es hat weder etwas mit dem Zölibat zu tun, noch mit Homosexualität, noch mit der katholischen Sexuallehre. Deshalb brauchen wir auch keinen Runden Tisch speziell für die katholische Kirche“.1
Natürlich ist es ein spezifisches Problem der katholischen Kirche – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Es ist ein Problem angesichts des hohen moralischen Anspruchs der Kirche, vor dem man sich nicht einfach dadurch verdrücken kann, dass man sagt, „wir sind ja auch nur Menschen“ und es ist in zweiter Linie deshalb ein Problem, weil das Ganze System hat. So gut wie jeder praktizierende Katholik weiß um den heruntergekommenen Zustand der Institution und des gesamten Apparates der Kleriker: Schwule Bischöfe, Generalvikare und Theologieprofessoren, alkoholkranke und psychisch labile Priester sind, wenn auch nicht der Normalzustand, so doch kein abseitiges Phänomen. Diese eigentlich unzulässige Aneinanerreihung sehr unterschiedlicher Phänomene wird dadurch legitim, weil sie konträr zum kirchlichen, öffentlich propagierten Selbstverständnis steht. Dieser Zustand ist ein Resultat des katholischen Klerikalismus und der ihm zugrundeliegenden Theologie.
Der brasilianische Befreiungstheologe José Comblin hat den Klerikalismus und die hierarchische Struktur der römisch-katholischen Kirche als diejenige Struktur bezeichnet, die während des II. Vatikanums nicht einmal im Ansatz diskutiert, geschweige denn reformiert worden wäre.2 Und das gilt bis heute: „Nun, im geltenden kanonischen Recht bedeutet der Priester immer noch alles und der Laie nichts, oder nur ein wenig mehr als nichts. Denn alle Richtungen, die in der Pastoral eingeschlagen werden, gehen vom Priester aus, entweder von den Diözesen oder von den Pfarreien. Die schönen Worte, mit denen die Rechtssätze in der neuen Ausgabe des Codex Iuris Canonici formuliert werden, ändern an dieser Situation überhaupt nichts.“3 Mit dem Klerikalismus steht und fällt der ganze existierende Apparat.
Eine Institution, die sich den totalen Zugriff und die Kontrolle über die Seelen anmaßt, macht auch vor den Körpern nicht halt
Priester sollen sich aus der Perspektive der Hierarchie als Hirten verstehen. Sie sind die vom Papst (Gott) eingesetzten „Hüter“ der „Herde“ (Gemeinde). Der Hirte sammelt, leitet und führt, er ist der „Retter“ der Herde, er sorgt für die Nahrung und „kennt das Ziel der Herde“. Er wacht und überwacht die Herde.4 Eine Geschichte der „Überwachung“ der Herde muss wohl noch geschrieben werden, sie besteht bis heute aus Elementen der politisch-herrschaftlichen Überwachung durch Dogmen, ethische Instruktionen, Implantierung sozialer Kontrollmechanismen und nicht zuletzt das „Geständnis“. Der Theologe Karl Rahner hatte das Pfarreisystem deshalb zu Recht mit Polizeirevieren verglichen.5 Die Schafe sind Besitz des Hirten, er führt und leitet nicht nur, er kontrolliert auch: Die Geschichte der Beichte ist auch die Geschichte des intimsten Zugriffes der Hirten auf das Leben der ihm Anempfohlenen: Wer sollte vor den Körpern halt machen, wenn ihm die Seelen schon gehören? Dieses System hat sich über die Jahrhunderte institutionell verdichtet und sich -bei aller sichtbar werdenden Brüchigkeit- offenkundig bis heute gehalten. In diesem Konstrukt der nie ausgesprochenen, aber immer noch existierenden Superiorität des „von Gott“ und nicht von der Gemeinde erwählten Hirtens ist wohl nicht zuletzt auch Raum genug für die übelsten Perversionen und schlimmsten Machtmissbräuche, die man denken kann: die gegen Kinder und Jugendliche. Insofern sind die Missbrauchsfälle tatsächlich kein Problem des Zölibats: Denn der Verzicht auf die hetero- oder homosexuelle Beziehung führt wohl kaum notwendig in deren Sublimierung durch Kindesmissbrauch. Es ist noch viel schlimmer: Der seelische und damit letztlich immer auch körperliche Missbrauch in der Kirche (als Ge-brauch, d.h. als objektivierende, inferiorisierende Behandlung) ist Teil ihres Selbstverständnisses.
Die Institution über allem
Zugleich immunisiert sich dieses Machtverhältnis vor sich selbst und seinen Irrwegen dadurch, dass deren Träger sich als Teil einer „heiligen Institution“ begreifen, die auch durch die abscheulichste Praxis in ihrer Sendung und Übergeschichtlichkeit nicht in Frage gestellt ist. Sprechen Sie einmal einen Priester auf den prekären Zustand der Kirche an, und sie werden mit Sicherheit zur Antwort bekommen: „Die Kirche hat 2000 Jahre überlebt, sie wird auch noch 2000 Jahre durchhalten“. Kirche hat mindestens für den Klerus nicht nur dort sakramentalen Charakter, wo sie Ausdruck ihres biblischen Auftrags ist, sie besitzt ihn grundsätzlich. So können auch die abstrusesten Praxen noch als dem Willen Gottes gemäß interpretiert werden. Und dabei geht es nicht nur um Kindesmissbrauch, der im schlimmsten Fall als Abweichung oder „nichtkirchlich-spezifisches“ Problem (Zollitsch) abgetan wird, sondern auch um die unerträgliche Anpassung an herrschende Verhältnisse, den Umbau von Kirchen in „Religionskonzerne“, Rationalisierungsprozesse gegen den Willen von Gemeinden oder das Festhalten an klerikalen Versorgungsstrukturen auch um den Preis des Zusammenbruchs und Auswanderns von vielen Katholiken aus der Kirche. Kirche wird als ein überweltliches Konstrukt verstanden, das im Verständnis ihrer „Heiligen“ durch keine wie auch immer geartete Wirklichkeit gefährdet ist.
Zölibat und Homosexualität
Insofern sind die Missbrauchsfälle tatsächlich kein Problem des Zölibats und der Homophobie der Kirche: Denn, wie gesagt, der Verzicht auf die hetero- oder homosexuelle Beziehung führt wohl kaum notwendig in deren Sublimierung durch Kindesmissbrauch. Es ist viel schlimmer: Der seelische und körperliche Missbrauch in der Kirche ist Ergebnis und Folge ihres Selbstverständnisses pastoraler Verwaltung eines sakramentalen, überweltlichen Apparates. Ich unterstelle allen Klerikern, die mehr oder weniger offen ihre Homosexualität oder auch Heterosexualität leben, genau dieses Verständnis. Jedenfalls jenen, die diesen Widerspruch zwischen eigener Existenz und kirchlichen Dogmen und sozialethischen Vorgaben nicht zum Problem machen und zugleich unverblümt und unverschämt die Reklerikalisierung der Kirche bei gleichzeitiger Unterwerfung unter die herrschenden Normen und Modernisierungsvorstellungen mitbetreiben und möglicherweise noch klandestin oder offen gegen die Wiederzulassung von Geschiedenen zur Eucharistie predigen und agieren. Aber das ist vielleicht der Preis von „oben“, von Gott-Vater-Papst, den sie für eine Karriere in einer Institution bezahlen müssen, die aus deren Perspektive „Gott sei dank“ mehr von Personalreferenten und volkswirtschaftlich geschulten Priestern hält, als von solchen, die kritisch die Frage nach dem Weg zum Reich Gottes stellen.
Was wiederum zeigt, wie das System im wahrsten Sinne „auf Teufel komm raus“ geführt werden kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen.
Zum Schluss: die Gemeinden
Aber natürlich würde dieses alles nicht funktionieren, wenn nicht auch die „Schafe“ mittun würden. Denn dem pastoralen Selbstverständnis des Klerus entspricht immer noch oft genug eine nicht unerhebliche Erwartungshaltung „von unten“. Da sind die einen, die quasi fundamentalistisch an diesem unmenschlich sakramental-klerikalen System trotz der Tatsache, dass immer weniger Männer Priester werden wollen, unbedingt festhalten. Da sind die anderen, die immer noch glauben, dass das Problem dadurch gelöst werden könne, wenn die zölibatär zu leben vorgebenden „Pastoren“ durch verheiratete Männer oder Frauen ersetzt oder ergänzt würden. Mich interessiert weder Sex noch Gender der Pastoren, mich interesiert nicht, ob sie verheiratet sind oder nicht: mich interessiert die Frage, wie und wo wir Menschen finden, deren Charisma, Offenheit und Ehrlichkeit Antworten auf die drängenden Fragen dieser Welt geben und inspirieren können: Arbeitslosigkeit, Zukunftsängste, globale Ungerechtigkeit etc. Und zu diesen Fragen gehört sicherlich nicht die nach dieser Institution um ihrer selbst willen. Schon gar nicht, wenn deren bundesdeutscher Repräsentant glaubt, er könne das Problem des massiven Missbrauchs durch selbsternannte Beauftragte „intern“, was doch wohl nichts anderes heißt, als unter den Klerikern selbst unter Ausschluss katholisch-gemeindlicher Öffentlichkeit lösen.6
M. Ramminger
1 Welt am Sonntag, 28.0.2. 2010.
2 José Comblin, Der unterbrochene Frühling – Das Projekt des II. Vatikanums in der Sackgasse“, edition ITP-Kompass, Münster 2006, 250 S., 16ff.
3 Ebd.
4 Hermann Steinkamp, Die sanfte Macht der Hirten, Mainz 1999, S. 25ff.
5 Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg i.Br. 1972, 115f.
6 Nachdem z.B. der Essener Domkapitular Rainer Alfs im Januar diesen Jahres wegen Missbrauchs an einem Sechszehnjährigen angeklagt wurde, waren am nächsten Tag sämtliche Informationen und Bilder des 66jährigen von der Bistums-webseite verschwunden.