Von Dr. Ferdinand Kerstiens, kath. Pfarrer, Marl
Das Memorandum der Theologieprofessorinnen und -professoren hat vielfältige Kritik erfahren. Einige markante Kritikpunkte möchte ich aufgreifen, da ich sie für unangemessen halte.
1. Hinter der Kirchenkrise verbirgt sich die Gotteskrise. Das haben die Theologen nicht bedacht. So Kardinal Walter Kasper und Professor Jürgen Manemann. Was die Kirchenkrise bedeutet, erfahre ich jeden Tag. Was aber heißt „Gotteskrise“? Eine Krise Gottes selbst? Das kann doch nicht gemeint sein. Das Wort „Gotteskrise“ ist also irreführend. Sicher gibt es eine Krise unseres Gottesbildes und des Glaubens an Gott, auch eine Krise des Glaubenswissens. Diese Krisen haben vielfältige Ursachen, soziologische, religionssoziologische und psychologische Gründe, die Erfahrung von Auschwitz und von vielfältigen Katastrophen, von der Ungerechtigkeit in unserer Welt, die so viele Menschen zu Opfern macht. Diese Krise ist durch eine bloße Kirchenreform nicht zu bewältigen. Dennoch: Verdunkelt nicht auch die selbstgemachte Kirchenkrise den Glauben an Gott? Die Kirche muss sich doch immer wieder fragen, wie sie jeweils heute die Kirche Jesu Christi sein kann. Nur wenn die Kirche die Menschenfreundlichkeit Gottes widerspiegelt, wenn sie glaubwürdig dem Leben und der Würde der Menschen dient und wie Jesus auf der Seite der Opfer steht, wenn sie sich nicht im internen Machtgerangel, in der Vertuschung der eigenen Fehler verliert, wenn sie sich nicht über die anderen Kirchen erhebt und ihnen das wahre Kirchesein aberkennt, dann steht sie dem Glauben an Gott, wie Jesus ihn gelebt hat, nicht im Wege. Den Glauben an Gott kann die Kirche nicht „machen“, aber sie kann ihm dienen oder auch ihm im Wege stehen. Die „Gotteskrise“ und die Kirchenkrise sind nicht identisch, hängen aber doch miteinander zusammen. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Deswegen scheint mir die Berufung auf die „Gotteskrise“ im Zusammenhang mit dem Memorandum ein Ablenkungsmanöver zu sein, um sich den akuten Fragen der selbstgemachten Kirchenkrise nicht zu stellen.
2. Den Kritikern wird vorgeworfen, es mangele ihnen an dem „sentire cum ecclesia“, dem „Mitfühlen und Mitdenken mit der Kirche“. So Bischof Josef Algermissen. Ich habe den Eindruck, dass Bischof Algermissen die „ecclesia“ mit der Hierarchie identifiziert. Sonst könnte er diesen Vorwurf nicht erheben. Die ecclesia ist jedoch nach dem Vatikanum II das wandernde Volk Gottes. So stelle ich fest, dass die Kritik der Theologen im wahrsten Sinn des Wortes ein „sentire cum ecclesia“ ist, ein Mitdenken und Mitfühlen mit den Sorgen des wandernden Gottesvolkes. Das erfahre ich täglich in der Seelsorge, gerade auch angesichts der XXL-Pfarreien, zu denen bereits fusionierte Gemeinden noch mal zwangsfusioniert werden, wie wir es jetzt in der Diözese Münster erleben. Ein „sentire cum ecclesia“ muss gerade die Sorgen der „Kleinen“ ernst nehmen, die Gott erwählt hat, um die Großen zu beschämen (vgl. 1 Kor 1). So aber rückt die Kirche in ihrer institutionellen Gestalt immer weiter von den Menschen weg und die Priester werden Leiter von mittelständischen Betrieben mit oft um die 200 Angestellten.
3. Das Zölibat der Weltpriester ist ein so kostbares Gut, dass es nicht aufgegeben werden darf. So Bischof Felix Genn und Kardinal Reinhard Marx. Die frei gewählte Ehelosigkeit ist sicher ein kostbares Zeichen der Liebe zu Gott und der Hingabe an den Dienst für die Menschen. Doch die Zwangsverbindung mit dem Priestertum ist geschichtlich geworden und kann und muss deswegen auch geschichtlich verändert werden, wenn sie dem Dienst an den Menschen, an den Gemeinden im Wege steht. Die Kirche kann es doch nicht verantworten, durch ihre Zulassungsbedingungen zum Priesteramt den Gemeinden die Feier der Eucharistie zu nehmen, die Jesus ihnen als Vermächtnis seiner Nähe hinterlassen hat. Denn es geht nicht um die Erreichbarkeit einer Eucharistie in so und so viel Autominuten, sondern um die Feier des Glaubens am Ort des Lebens der Gemeinde, zumal viele alte und fußkranke Menschen eine ferne Eucharistiefeier gar nicht erreichen können. Das gilt auch weltweit. Über der Hälfte der Gemeinden in der Welt kann nicht am Sonntag nach der Ordnung der Kirche Eucharistie feiern. Übrigens werden diese Gemeinden vorwiegend von Frauen geleitet, die auch mit ihren Gemeinden Gottesdienst feiern, aber keine Eucharistie feiern dürfen.
4. Die evangelische Kirche hätte ja viele der Forderungen des Memorandums erfüllt, aber der gehe es noch schlechter. So Kardinal Walter Kasper. Abgesehen von der Überheblichkeit dieses Urteils ist das kein Argument gegen notwendige Änderungen der eigenen Kirche, die sich aus dem Evangelium und den Zeichen der Zeit ergeben. Dem sollte sich Kardinal Kasper stellen, sonst ist der Verweis auf die Situation der evangelischen Kirche auch nur ein Ausweichmanöver. Dass das Memorandum allerdings zu wenig die ökumenische Frage in den Blick nimmt, bleibt ein Defizit.
Ich möchte an die Rede von Professor Joseph Ratzinger 1966 über den deutschen Katholizismus nach dem Konzil auf dem Katholikentag in Bamberg erinnern. Darin heißt es: „Der christliche Glaube ist für den Menschen aller Zeiten ein Skandal: dass der ewige Gott sich um uns Menschen annimmt und uns kennt, dass der Unfassbare in dem Menschen Jesus fassbar geworden , dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten hat, dass uns Sterblichen Auferstehung und ewiges Leben verheißen ist: Das zu glauben ist für den Menschen eine aufregende Zumutung…. Aber wir müssen hinzufügen: dieser primäre Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum aufheben will, ist in der Geschichte oft genug überdeckt worden von den sekundäre Skandalen der Verkünder des Glaubens, der durchaus nicht wesentlich ist für das Christentum , aber sich allzu gerne mit dem Grundskandal verwechseln lässt und sich in der Pose des Martyriums gefällt, wo man in Wahrheit nur das Opfer der eigenen Engstirnigkeit ist…. Sekundärer, selbstgemachter und so schuldhafter Skandal ist es, wenn unter dem Vorwand, die Unabänderlichkeit des Glaubens zu schützen, nur die eigene Gestrigkeit verteidigt wird: nicht der Glaube selbst, der längst vor jenem gestern und seinen Formen war, sondern eben die Form, die er sich einmal aus dem berechtigten Versuch heraus verschafft hat, in seiner Zeit zeitgemäß zu sein, aber nun gestrig geworden ist und keinerlei Ewigkeitsanspruch erheben darf. Sekundärer, selbstgemachter und so schuldhafter Skandal ist es auch, wenn unter dem Vorwand, die Ganzheit der Wahrheit zu sichern, Schulmeinungen verewigt werden, die sich einer Zeit als selbstverständlich aufgedrängt haben, aber längst der Revision und der neuen Rückfrage auf die eigentlich Forderung des Ursprünglichen bedürften. Wer die Geschichte der Kirche durchgeht, wird viele solche sekundärer Skandale finden – nicht jedes tapfer festgehaltene Non possumus war ein Leiden für die unabänderlichen Grenzen der Wahrheit, so manches davon war nur die Verranntheit in den Eigenwillen, der sich gerade dem Anruf Gottes widersetzte, der aus den Händen schlug, was man ohne seinen Willen in die Hand genommen hatte.“ Wortlaut der ganzen Rede in: Herderkorrespondenz 20 (1966), hier S. 351
Das Memorandum der Theologinnen und Theologen bezieht sich präzise auf die Überwindung der hier von Professor Ratzinger genannten „sekundären, selbstgemachten und so schuldhaften Skandale“. Nur so kann der Weg freigemacht werden für das eigentlich Provozierende der Botschaft Jesu, für sein Kreuz und seine Auferstehung, für sein unbedingtes Eintreten für die Würde und das Leben, für das Heil eines jeden Einzelnen, vor allem der „Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes Nr.1), und für das Reich Gottes und seinen Schalom, seine Gerechtigkeit, die ein menschenwürdiges Leben aller ermöglichen und schon jetzt inmitten unserer zerrissenen Welt etwas von seinem endgültigen Reich zum Vorschein bringen will. Das wird sie nie voll erreichen. Sie ist immer mit Schuld beladen, in der Geschichte und in der Gegenwart. Aber wie sie jeweils mehr Kirche Jesu Christi werden kann, dazu bedarf es des Dialogs in Augenhöhe, vielleicht auch des geschwisterlichen Streites, zwischen den Gläubigen an der Basis, den Theologen und der Kirchenleitung. Die Botschaft Jesu bleibt provozierend und sperrig. Aber gerade als solche ist sie heute wichtig in einer globalisierten Welt der Macht und der freiwilligen oder erzwungenen Anpassung. Dieser Botschaft hat die Kirche, haben die christlichen Kirchen miteinander zu dienen.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
erstveröffentlicht in: Münsteraner Forum für Theologie und Kirche 02/2011