Die soziale Dimension des Evangeliums. Eine kommentierende Lektüre von Evangelii Gaudium. Teil 11

von Dr. Katja Strobel

Im Vierten Kapitel erläutert Papst Franziskus die soziale Dimension der Evangelisierung. Noch einmal stellt er hier an den Anfang die Definition: „Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen“ (176). Grund für die Ausführung dieses Kapitels ist die Sorge, die er zu Beginn zum Ausdruck bringt: dass die soziale Dimension vernachlässigt wird und dadurch die Gefahr entsteht, „die echte und vollständige Bedeutung des Evangelisierungsauftrags zu entstellen.“ (176)

Am Anfang steht denn auch die bemerkenswerte Aussage: „Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen.“ (177)

Ernst genommen bedeutet dieser Satz bereits einen Affront gegen das neoliberale Dogma, das unsere Kultur bestimmt: Dass jede sich selbst die nächste und nur für sich verantwortlich ist und für ihre engsten Angehörigen.

Zentrum der Gemeinde ist das diakonische Handeln

In einem längeren Abschnitt beschreibt Bergoglio, dass diese „Verbindung zwischen der Aufnahme der heilbringenden Verkündigung und einer wirklichen Bruderliebe“ (179) – leider muss mensch durchgehend die Schwestern dazudenken – sehr oft ein Lippenbekenntnis bleibt: „Es handelt sich um eine Botschaft, an die wir uns oft gewöhnen, sie fast mechanisch wiederholen, ohne uns jedoch klarumachen, dass sie sich in unserem Leben und in unseren Gemeinschaften real auswirken muss.“ (179) Franziskus führt biblische Beispiele dafür an, wie sehr der Dienst am Nächsten im Mittelpunkt des Glaubens steht, und dass die vorher behandelte missionarische Natur des Glaubens sich genau darin ausdrückt.

Konsequenz daraus wäre, die Arbeitsteilung zwischen Gemeinde und Diakonie, die in Deutschland besonders stark besteht, grundsätzlich in Frage zu stellen: Diakonische Aufgaben – das Kümmern um und Kämpfen mit Erwerbslosen, Flüchtlingen, arm Gemachten, Wohnungslosen, Gefangenen, wäre genuine Aufgabe der Gemeinden und Geemindemitglieder – eigentlich, die biblische jesuanische Nachfolgegemeinschaft noch mehr beim Wort genommen, stellen sie m.E. die Gemeinde dar, an ihren Bedürfnissen muss sich das Gemeindeleben orientieren.

Franziskus verdeutlicht daraufhin noch einmal, dass dieser Dienst am Nächsten nicht caritatives Handeln bedeutet, „eine Art ‚Nächstenliebe à la carte‘ […], eine Reihe von Taten, die nur darauf ausgerichtet sind, das eigene Gewissen zu beruhigen.“ (180) – denn es geht um nichts weniger als das Reich Gottes, und das heißt, Gott unter uns „herrschen zu lassen“ (vgl. 180). ‚Herr‘schen ist freilich ein problematischer Begriff, der sich allerdings deckt mit der konsequenten Rede des Papstes von der ‚Brüderlichkeit‘. Abgesehen von diesen androzentrischen Begrifflichkeiten, deren kritische Reflexion dem Papst zu wünschen wäre, würde sich m. E. in mancher Gemeindewirklichkeit viel ändern, wenn er beim Wort genommen würde: „Die wahre christliche Hoffnung, die das eschatologische Reich sucht, erzeugt immer Geschichte.“ (181)

Nach einem vagen Bezug auf die katholische Soziallehre folgt noch der wichtige Hinweis, dass jede Gemeinde die Aufgabe habe, die kontextuelle Situation zu analysieren und damit die Bereiche in denen ihr veränderndes Handeln notwendig ist.

Im Anschluss wendet sich der Papst zwei Bereichen konkret zu, der „gesellschaftlichen Eingliederung der Armen“ (II.) und dem „Frieden und sozialen Dialog“ (III.).

Zum Thema Armut widmet sich Franziskus etwas ausführlicher dem Begriff der Solidarität, dessen Abgenutztheit und falsche Interpretation er konstatiert. Anschließend benennt er Kriterien für solidarisches Handeln, die den Begriff zu seiner guten Bedeutung und Realisierung bringen sollen: „Es [das Wort ‚Solidarität‘] bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.“ (188)

Solidarität als Umverteilung

Der Papst definiert Solidarität zunächst als spontane Reaktion „dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz.“ Wenn er dann allerdings den Privatbesitzt so definiert, dass seine Vermehrung dem Gemeinwohl besser dient, dann ist das eine Wunschvorstellung, die der Realität zuwider läuft. Folgerichtig wiederholt er anschließend auch einen Satz aus dem Schreiben „Octogesima adveniens“ von Paul VI.: Die am meisten Begünstigten müssen auf einige ihrer Rechte verzichten, um mit größerer Freigebigkeit ihre Güter in den Dienst der anderen zu stellen.“ (Octogesima adveniens (14.5.1971, 23: AAS 63 (191), 418.)

Und diese Verpflichtung beziehungsweise deutliche Einschränkung der Rechtes der Reichen bettet Franziskus ein in die globale Dimension von Gerechtigkeit: Um zu beurteilen, wie ungleich Armut und Reichtum verteilt sind, muss man „den Schrei ganzer Völker, der ärmsten Völker der Erde […] hören […].“ (190) Es geht dem Papst auch hier nicht um caritatives Handeln und Spenden, sondern um strukturelle Veränderungen. Und es geht auch nicht nur darum, den Ärmsten ein Überleben zu sichern, sondern darum, dass alle einen Wohlstand erreichen, der Erziehung, Zugang zum Gesundheitswesen und das Recht auf Arbeit und gerechten Lohn einschließt (vgl. 192).

Der Papst greift hier m. E. immer noch zu kurz. Es kann nicht sein, dass Menschen Hunderttausende pro Monat verdienen um ein Luxusleben zu führen, während andere gerade einmal die Basis-Bedürfnisse befriedigen können. Ökonomisch ist es längst möglich, allen eine Partizipation am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Eine globale Aushandlung von Bedürfnissen müsste eine dementsprechend gerechte Beschneidung der Rechte und Freiheiten der Reichen zum Ziel haben, um allen diese Teilhabe zu gewährleisten. Sonst bleibt der Glaube an einen Gott, der „jeden einzelnen Menschen unendlich liebt und ihm dadurch unendlich Würde verleiht“ (178) ein leeres Versprechen.

Liebe Deinen Nächsten, denn du bist es“

Franziskus zitiert nun einige Bibelstellen, die den Vorrang der Armen erläutern, und bezieht sich ausgerechnet auf Johannes Paul II., den erbittertsten Gegner der Befreiungstheologie, um die vorrangige Option für die Armen zu bekräftigen. Im Anschluss zitiert er auch noch Josef Ratzinger, der den Kampf gegen die lateinamerikanischen BefreiungstheologInnen als Präfekt der Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II. anführte, um seinen Wunsch einer „armen Kirche für die Armen“ (198) zu begründen. Dies wirkt angesichts der vorherigen Schwerpunkte auf strukturellen Veränderungen befremdlich und nimmt dem Punkt einiges der politischen Brisanz. Andererseits führen seine spirituellen Überlegungen am Ende darauf hin, dass er, Thomas von Aquin zitierend, einen Gedanken aufgreift, der aus der individualistischen Spiritualität wieder völlig herausführt: Es geht um „eine aufmerksame Zuwendung zum anderen, indem man ihn ‚als eines Wesens mit sich selbst betrachtet‘ (Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 27, a. 2.).“ (199). Abgesehen vom philosophischen Hintergrund des Aufeinander-Verwiesen-Seins, den z.B. Levinas ausgeführt hat und der der neoliberalen Ideologie der Vereinzelung entgegensetzt ist, erteilt dieser Bezug jedem Paternalismus eine Absage: „Der Arme wird, wenn er geliebt wird, ‚hochgeschätzt‘ (ebd., I-II, q. 27,a.3.) und das unterscheidet die authentische Option für die Armen von jeder Ideologie, von jeglicher Absicht, die Armen zugunsten persönlicher oder politischer Interessen zu gebrauchen.“ (199) Gleichzeitig verbieten sich aus dieser Perspektive soziale Projekte, die nicht gleichzeitig strukturelle Veränderungen und letztlich die Befreiung aus und Beendigung der unterdrückenden Situation zum Ziel haben. Denn spätestens, wenn es um uns selbst geht, kann keiner daran gelegen sein, eine unterdrückende Situation fortzuführen und lediglich Symptome zu bekämpfen.

Folgerichtig fordert Franziskus anschließend alle in klaren Worten auf, ihre Verantwortung gegenüber den Armen wahrzunehmen: „Niemand dürfte sagen, dass er sich von den Armen fernhält, weil seine Lebensentscheidungen es mit sich bringen, anderen Aufgaben mehr Achtung zu schenken. Das ist eine in akademischen, unternehmerischen oder beruflichen und sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschuldigung.“ (201)

Die anschließenden Einlassungen zum politischen und ökonomischen System schwanken zwischen grundsätzlicher Systemkritik und der Bestätigung zum Beispiel der Notwendigkeit von Wachstum (vgl. 204). Insgesamt bleiben hier eine Menge Fragen offen, wie der Papst sich einen strukturellen Wandel politisch und ökonomisch vorstellt – er vermeidet das Wort ‚Kapitalismus‘ und grundsätzliche konkrete Infragestellungen, auch wenn seine Worte diese eigentlich implizieren.

Das krankhafte Misstrauen überwinden

Anschließend entfaltet Papst Franziskus visionäre kraft, wenn er zum Beispiel in Bezug auf Migration und Flüchtlinge das Bild von offeneren Ländern und Städten zeichnet, als sie zur Zeit existieren:

„Darum rufe ich die Länder zu einer großherzigen Öffnung auf, die, anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen zu schaffen. Wie schön sind die Städte, die das krankhafte Misstrauen überwinden, die anderen mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus dieser Integration einen Entwicklungsfaktor machen! Wie schön sind die Städte, die auch in ihrer architektonischen Planung reich sind an Räumen, die verbinden, in Beziehung setzen und die Anerkennung des anderen begünstigen!“ (210)

Frauen, Ungeborene und Natur – nur ‚weitere Ausprägungen von Armut‘?

Ein Mini-Absatz bemerkt die Diskriminierung und doppelte Armut von Frauen, allerdings direkt gepaart mit der Anrufung ihres „täglichen Heroismus im Schutz und in der Fürsorge für die Gebrechlichkeit in ihren Familien.“ (212) Auch wenn dies durchaus eine zutreffende Beschreibung ist und die Anerkennung von Sorge-Arbeit explizit macht, erinnert der Satz an die Ankündigung des Papstes, ein Papier zum ‚Wesen der Frau‘ schreiben zu wollen – zwar mit der Absicht ihrer Aufwertung, aber es lässt nichts Gutes im Sinne von Gleichbehandlung und der Thematisierung gerechter Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern erwarten, die nicht die Sorge-Arbeit weiterhin einseitig den Frauen anlastet.

Darauf folgen zwei ausführliche Abschnitte zum Schutz des ungeborenen Lebens und der Natur. Immerhin gibt der Papst hier zu, dass die Kirche wenig für schwangere Frauen in Konfliktsituationen getan; darüber hinaus schreibt er nichts neues, eine Öffnung in sexualmoralischen oder Verhütungs-Fragen ist nicht zu erkennen. In Bezug auf die Natur zitiert Franziskus ausführlich die philippinische Bischofskonferenz, die die Umweltzerstörung anschaulich anprangert.

Insgesamt wirken die Abschnitte zu Frauen, Ungeborenen und der Natur wie Anhängsel an diejenigen zu den ökonomisch Armen, und diese Art der Thematisierung stellt für mich keinen überzeugenden Umgang mit unterschiedlichen, untereinander verwobenen Herrschafts- und Ausbeutungsformen dar, um die es hier geht.

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Teil III behandelt nun den Bereich „Das Gemeingut und der soziale Frieden“. Frieden, so der steile Einstige, ist unabdingbar mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit verknüpft: Die sozialen Forderungen, die mit der Verteilung der Einkommen, der sozialen Einbeziehung der Armen und den Menschenrechten zusammenhängen, dürfen nicht unter dem Vorwand zum Schweigen gebracht werden, einen Konsens auf dem Papier zu haben oder einen oberflächlichen Frieden für eine glückliche Minderheit zu schaffen. Die Würde des Menschen und das Gemeingut gelten mehr als das Wohlbefinden einiger, die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen.“ (218)

Franziskus stellt vier Prinzipien vor, „[u]m mit dem Aufbau eines Volkes in Freiden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit fortzuschreiten“ (221): 1. Die Zeit ist mehr wert als der Raum, 2. Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt, 3. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee und 4. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet.

  1. Die Zeit ist mehr wert als der Raum

Der erste Punkt soll dazu dienen, den Horizont auf langfristige Prozesse zu lenken. Es verhindert, alle Probleme in der Gegenwart lösen zu wollen und „alle Räume der Macht und der Selbstbestätigung in Besitz nehmen zu wollen.“ (223) Dies beinhaltet die Forderung, über Legislaturperioden, ja über den eigenen Tod und die eigene Generation hinaus über die Zukunft menschlichen Zusammenlebens und die Konsequenzen für die Schöpfung nachzudenken und langfristiges Handeln anzustoßen.

  1. Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt

Zum zweiten Punkt sagt Franziskus deutlich, dass es nicht darum geht, den Konflikt zu vermeiden. Es gilt ihn einzugehen, aber nicht um des Konfliktes willen, sondern es geht darum, „den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen.“ (227)

  1. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee

Der dritte Punkt ist ein m. E. dringend notwendiger Apell zum Beispiel an universitäre Theologie: „Die Idee – die begriffliche Ausarbeitung – dient dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, zu verstehen und zu lenken. Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren oder definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement auslöst, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.“

  1. Das Ganze ist dem Teil übergeordnet

In dieser Wirklichkeitsorientierung, die der dritte Punkt beansprucht, ist es wichtig, den Blick für das Gesamte nicht aus den Augen zu verlieren – wie Punkt 2 schon andeutet. Es geht darum, „im Kleinen, mit dem, was in der Nähe ist, [zu arbeiten] jedoch mit einer weiteren Perspektive“. (235) Wenn die Pole, die Franziskus Globalisierung und Lokalisierung nennt, vereint sind, „verhindern sie in eines der beiden Extreme zu fallen: das eine, dass die Bürger in einem abstrakten und globalisierenden Universalismus leben, als angepasste Passagiere im letzten Waggon, die mit offenem Mund und programmiertem Applaus das Feuerwerk der Welt bewundern, das anderen gehört; das andere, dass sie ein folkloristisches Museum ortsbezogener Eremiten werden, die dazu verurteilt sind, immer dieselben Dinge zu wiederholen, unfähig, sich von dem, was anders ist, hinterfragen zu lassen und ei Schönheit zu bewundern, die Gott außerhalb ihrer Grenzen verbreitet.“ (234) Starke Bilder, an denen sich weiter diskutieren lässt!

Dialog – wie, warum, wozu?

Im letzten, dem III. Absatz, benennt Franziskus Kriterien für den sozialen Dialog als Beitrag zum Frieden. Hier bezieht er sich auf verschiedene Formen des Dialogs. Zu Beginn fordert er grundsätzlich die Bedingungen neu zu bedenken für ‚Dialog‘, der nicht bedeutungslos und oberflächlich wird – so wie die politischen Debatten oft von den Betroffenen empfunden werden, die kaum mit ihren Stimmen einbezogen werden, und wenn, dann meist ohne Konsequenzen: „Es ist Zeit, in Erfahrung zu bringen, wie man in einer Kultur, die den Dialog als Form der Begegnung bevorzugt, die Suche nach Einvernehmen und Übereinkünften planen kann, ohne sie jedoch von der Sorge um eine gerechte Gesellschaft zu trennen, die erinnerungsfähig ist und niemanden ausschließt.“

Franziskus widmet sich dann eher allgemein und unkonkret dem Dialog zu Glaube, Vernunft und Wissenschaft, bei dem es verwundert, dass die vorher so wichtigen ökonomischen Kriterien auf einmal keine Rolle mehr spielen, zumindest nicht explizit. Zum Beispiel ist nirgends die Rede von der Verantwortung für den Zusammenhang von Wissenschaft und Ethik, oder der politischen und ökonomischen Verantwortung von Wissenschaft.

Auch zum ökumenischen Dialog fällt der Kommentar sehr allgemein aus. Dagegen positioniert sich Franziskus deutlich sehr positiv zum Judentum und bekräftigt damit – nach Irritationen durch Benedikt XVI. – die Lehre des II. Vatikanischen Konzils und Johannes XXIII. In der Betonung der gemeinsamen Glaubens und bringt explizit sein Bedauern für vergangene und gegenwärtige Verfolgungen zum Ausdruck, „besonders, wenn Christen darin verwickelt waren“ (248). Allerdings würde ich mir hier eine noch stärkere Formulierung als ‚Bedauern‘ wünschen; gerade in Zeiten, da der Antisemitismus wieder stärker wird.

Zum interreligiösen Dialog stellt Franziskus das hilfreiche Kriterium auf, dass, indem wir „die anderen in ihrem Anderssein, Andersdenken und in ihrer anderen Art, sich auszudrücken“ (250) annehmen, die Voraussetzungen dafür schaffen, „gemeinsam die Verpflichtung [zu] übernehmen, der Gerechtigkeit und dem Frieden zu dienen, was zu einem grundlegenden Maßstab eines jeden Austauschs werden muss. Ein Dialog, in dem es um den sozialen Frieden und die Gerechtigkeit geht, wird über das bloß Pragmatische hinaus von sich aus zu einem ethischen Einsatz, der neue soziale Bedingungen schafft.“ (250) Auch wenn sicher nicht jede interreligiöse Begegnung einem politischen Zweck dienen muss, so stellt dieser Schwerpunkt auf die gemeinsame Verantwortung für ein egalitäres Zusammenleben doch sicher, dass soziale und ökonomische Probleme nicht zugunsten eines ‚kulturellen‘ Dialogs ignoriert und ihre Thematisierung unterdrückt werden.

Zusammenarbeit mit allen Menschen ‚guten Willens‘

Ebenfalls in der Tradition des II. Vatikanischen Konzils betont Franziskus auch die Würde der NichtchristInnen und Nicht-Religiösen, ja er sieht eine Nähe zu denjenigen, „die sich nicht als Angehörige einer religiösen Tradition bekennen, aber aufrichtig nach der Wahrheit, der Güte und der Schönheit suchen, die für uns ihren maximalen Ausdruck und ihre Quelle in Gott finden. Wir empfinden sie als wertvolle Verbündete im Einsatz zur Verteidigung der Menschenwürde, im Aufbau eines friedlichen Zusammenlebens der Völker und in der Bewahrung der Schöpfung.“ (257) Er bestätigt damit die Sinnhaftigkeit der Zusammenarbeit mit nicht-christlichen sozialen Bewegungen, die zum Beispiel als MigrantInnen-Selbstorganisationen für ihre Menschenrechte kämpfen oder als politische Netzwerke und Gruppen sich für eine andere politische und ökonomische Ordnung einsetzen. Für eine neue Gesellschaft, die für die Verwirklichung einer Solidarität steht, die Solidarität im Sinn ökonomischer Umverteilung, die Würde jedes Einzelnen, mehr in den Blick nehmen kann. Ein Beispiel dafür sind zur Zeit die europaweiten Bewegungen gegen die Krisenpolitik der Europäischen Union.

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Der Text:

DIE SOZIALE DIMENSION DER EVANGELISIERUNG

176. Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen. »Keine partielle und fragmentarische Definition entspricht jedoch der reichen, vielschichtigen und dynamischen Wirklichkeit, die die Evangelisierung darstellt; es besteht immer die Gefahr, sie zu verarmen und sogar zu verstümmeln.«140 Nun möchte ich meine Besorgnisse im Zusammenhang mit der sozialen Dimension der Evangelisierung mitteilen, und zwar deshalb, weil man, wenn diese Dimension nicht gebührend deutlich dargestellt wird, immer Gefahr läuft, die echte und vollständige Bedeutung des Evangelisierungsauftrags zu entstellen.

I. Die gemeinschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Kerygmas

177. Das Kerygma besitzt einen unausweichlich sozialen Inhalt: Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen. Der Inhalt der Erstverkündigung hat eine unmittelbare sittliche Auswirkung, deren Kern die Liebe ist.

VIERTES KAPITEL

Bekenntnis des Glaubens und soziale Verpflichtung

178. Einen himmlischen Vater zu bekennen, der jeden einzelnen Menschen unendlich liebt, schließt die Entdeckung ein, dass er »ihm dadurch unendliche Würde verleiht«141. Bekennen, dass der Sohn Gottes unser menschliches Fleisch angenommen hat, bedeutet, dass jeder Mensch bis zum Herzen Gottes erhöht worden ist. Bekennen, dass Jesus sein Blut für uns vergossen hat, hindert uns, auch nur den kleinsten Zweifel an der grenzenlosen Liebe zu bewahren, die jeden Menschen adelt. Seine Erlösung hat eine soziale Bedeutung, denn »Gott erlöst in Christus nicht nur die Einzelperson, sondern auch die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen«142. Bekennen, dass der Heilige Geist in allen wirkt, schließt die Erkenntnis ein, dass er in jede menschliche Situation und in alle sozialen Bindungen einzudringen sucht: »Der Heilige Geist verfügt über einen für den göttlichen Geist typischen unendlichen Erfindungsreichtum und findet die Mittel, um die Knoten der menschlichen Angelegenheiten zu lösen, einschließlich der kompliziertesten und undurchdringlichsten.«143 Die Evangelisierung versucht, auch mit diesem befreienden Wirken des Geistes zusammen zu arbeiten. Das Geheimnis der Trinität selbst erinnert uns daran, dass wir nach dem Bild der göttlichen Gemeinschaft erschaffen sind, weshalb wir uns nicht selber verwirklichen, noch von uns aus retten. Vom Kern des Evangeliums her erkennen wir die enge Verbindung zwischen Evangelisierung und menschlicher Förderung, die sich notwendig in allem missionarischen Handeln ausdrücken und entfalten muss. Die Annahme der Erstverkündigung, die dazu einlädt, sich von Gott lieben zu lassen und ihn mit der Liebe zu lieben, die er selbst uns mitteilt, verursacht im Leben des Menschen und in seinem Tun eine erste und grundlegende Reaktion: dass er das Wohl der anderen wünscht und anstrebt als etwas, das ihm am Herzen liegt.

179. Diese unlösbare Verbindung zwischen der Aufnahme der heilbringenden Verkündigung und einer wirklichen Bruderliebe kommt in einigen Texten der Schrift zum Ausdruck, und es ist gut, sie zu bedenken und aufmerksam zu verinnerlichen, um alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Es handelt sich um eine Botschaft, an die wir uns oft gewöhnen, sie fast mechanisch wiederholen, ohne uns jedoch klar zu machen, dass sie sich in unserem Leben und in unseren Gemeinschaften real auswirken muss. Wie gefährlich und schädlich ist diese Gewöhnung, die uns dazu führt, das Staunen, die Faszination und die Begeisterung zu verlieren, das Evangelium der Brüderlichkeit und der Gerechtigkeit zu leben! Das Wort Gottes lehrt uns, dass sich im Mitmenschen die kontinuierliche Fortführung der Inkarnation für jeden von uns findet: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Was wir für die anderen tun, hat eine transzendente Dimension: »Nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden« (Mt 7,2), und es ist eine Antwort auf die göttliche Barmherzigkeit uns gegenüber: »Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. Gebt, dann wird auch euch gegeben werden […] nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden« (Lk 6,36-38). Was diese Texte ausdrücken, ist die absolute Vorrangigkeit des „Aus-sich-Herausgehens auf den Mitmenschen zu“ als eines der beiden Hauptgebote, die jede sittliche Norm begründen, und als deutlichstes Zeichen, anhand dessen man den Weg geistlichen Wachstums als Antwort auf das völlig ungeschuldete Geschenk Gottes überprüfen kann. Aus diesem Grund »ist auch der Dienst der Liebe ein konstitutives Element der kirchlichen Sendung und unverzichtbarer Ausdruck ihres eigenen Wesens«.144 Wie die Kirche von Natur aus missionarisch ist, so entspringt aus dieser Natur zwangsläufig die wirkliche Nächstenliebe, das Mitgefühl, das versteht, beisteht und fördert.

Das Reich, das uns ruft

180. Aus einer Lektüre der Schrift geht außerdem klar hervor, dass das Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Beziehung zu Gott besteht. Und unsere Antwort der Liebe dürfte auch nicht als eine bloße Summe kleiner persönlicher Gesten gegenüber irgendeinem Notleidenden verstanden werden; das könnte eine Art „Nächstenliebe à la carte“ sein, eine Reihe von Taten, die nur darauf ausgerichtet sind, das eigene Gewissen zu beruhigen. Das Angebot ist das Reich Gottes (vgl. Lk 4,43); es geht darum, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. In dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann, wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Würde sein. Sowohl die Verkündigung als auch die christliche Erfahrung neigen dazu, soziale Konsequenzen auszulösen. Suchen wir sein Reich: »Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben« (Mt 6,33). Der Plan Jesu besteht darin, das Reich seines Vaters zu errichten; er verlangt von seinen Jüngern: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe« (Mt 10,7).

181. Das Reich, das unter uns vorweggenommen wird und wächst, betrifft alles und erinnert uns an jenes Unterscheidungsprinzip, das Paul VI. in Bezug auf die wahre Entwicklung aufstellte: »jeden Menschen und den ganzen Menschen«145 im Auge zu haben. Wir wissen, dass »die Evangelisierung nicht vollkommen [wäre], würde sie nicht dem Umstand Rechnung tragen, dass Evangelium und konkretes Leben des Menschen als Einzelperson und als Mitglied einer Gemeinschaft einander ständig beeinflussen«.146 Es handelt sich um das der Dynamik des Evangeliums eigene Kriterium der Universalität, da der himmlische Vater will, dass alle Menschen gerettet werden, und sein Heilsplan darin besteht, alles, was im Himmel und auf Erden ist, unter einem einzigen Herrn, nämlich Christus, zu vereinen (vgl. Eph 1,10). Der Auftrag lautet: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15), denn »die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes« (Röm 8,19). Die ganze Schöpfung – das heißt auch alle Aspekte der menschlichen Natur: »Der Missionsauftrag, die Gute Nachricht von Jesus Christus zu verkünden, bezieht sich auf die ganze Welt. Jesu Liebesgebot schließt alle Dimensionen des Daseins ein, alle Menschen, alle Milieus und alle Völker. Nichts Menschliches ist ihm fremd.«147 Die wahre christliche Hoffnung, die das eschatologische Reich sucht, erzeugt immer Geschichte.

Die Lehre der Kirche zu den sozialen Fragen

182. Die Lehren der Kirche zu den säkularen Angelegenheiten sind größeren und neuen Entwicklungen unterworfen und mögen Diskussionsgegenstand sein; wir können jedoch nicht vermeiden, konkret zu sein – ohne zu beanspruchen, in die Details zu gehen –, damit die großen sozialen Grundsätze nicht bloße allgemeine Hinweise bleiben, die niemanden unmittelbar angehen. Man muss die praktischen Konsequenzen aus ihnen ziehen, damit sie »auch die komplexen aktuellen Situationen wirksam beeinflussen können«148. Die Hirten haben unter Berücksichtigung der Beiträge der verschiedenen Wissenschaften das Recht, Meinungen über all das zu äußern, was das Leben der Menschen betrifft, da die Evangelisierungsaufgabe eine ganzheitliche Förderung jedes Menschen einschließt und verlangt. Man kann nicht mehr behaupten, die Religion müsse sich auf den Privatbereich beschränken und sie existiere nur, um die Seelen auf den Himmel vorzubereiten. Wir wissen, dass Gott das Glück seiner Kinder, obwohl sie zur ewigen Fülle berufen sind, auch auf dieser Erde wünscht, denn er hat alles erschaffen, »damit sie sich daran freuen können« (1 Tim 6,17), damit alle sich daran freuen können. Daraus folgt, dass die christliche Umkehr verlangt, »besonders […] all das zu überprüfen, was das Sozialwesen ausmacht und zur Erlangung des Allgemeinwohls beiträgt«.149

183. Folglich kann niemand von uns verlangen, dass wir die Religion in das vertrauliche Innenleben der Menschen verbannen, ohne jeglichen Einfluss auf das soziale und nationale Geschehen, ohne uns um das Wohl der Institutionen der menschlichen Gemeinschaft zu kümmern, ohne uns zu den Ereignissen zu äußern, die die Bürger angehen. Wer würde es wagen, die Botschaft des heiligen Franz von Assisi und der seligen Teresa von Kalkutta in ein Gotteshaus einzuschließen und zum Schweigen zu bringen? Sie könnten es nicht hinnehmen. Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen. Wir lieben diesen herrlichen Planeten, auf den Gott uns gesetzt hat, und wir lieben die Menschheit, die ihn bewohnt, mit all ihren Dramen und ihren Mühen, mit ihrem Streben und ihren Hoffnungen, mit ihren Werten und ihren Schwächen. Die Erde ist unser gemeinsames Haus, und wir sind alle Brüder. Obwohl »die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates […] zentraler Auftrag der Politik« ist, »kann und darf [die Kirche] im Ringen um Gerechtigkeit […] nicht abseits bleiben«.150 Alle Christen, auch die Hirten, sind berufen, sich um den Aufbau einer besseren Welt zu kümmern. Darum geht es, denn die Soziallehre der Kirche ist in erster Linie positiv und konstruktiv, sie bietet Orientierung für ein verwandelndes Handeln, und in diesem Sinn hört sie nicht auf, ein Zeichen der Hoffnung zu sein, das aus dem liebevollen Herzen Jesu Christi kommt. Zugleich vereint die Kirche »ihre eigenen Bemühungen insbesondere mit dem, was die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in theoretisch-reflexiver ebenso wie in praktischer Hinsicht im sozialen Bereich leisten«.151

184. Es ist hier nicht der Moment, auf all die schwerwiegenden sozialen Probleme einzugehen, von denen die heutige Welt betroffen ist – einige von ihnen habe ich im zweiten Kapitel kommentiert. Dies ist kein Dokument über soziale Fragen, und um über jene verschiedenen Themenkreise nachzudenken, verfügen wir mit dem Kompendium der Soziallehre der Kirche über ein sehr geeignetes Instrument, dessen Gebrauch und Studium ich nachdrücklich empfehle. Außerdem besitzen weder der Papst noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme. Ich kann hier wiederholen, was Paul VI. in aller Klarheit betonte: »Angesichts so verschiedener Situationen ist es für uns schwierig, uns mit einem einzigen Wort zu äußern bzw. eine Lösung von universaler Geltung vorzuschlagen. Das ist nicht unsere Absicht und auch nicht unsere Aufgabe. Es obliegt den christlichen Gemeinden, die Situation eines jeden Landes objektiv zu analysieren.« 152

185. In der Folge möchte ich versuchen, mich auf zwei große Fragen zu konzentrieren, die in diesem Augenblick der Geschichte grundlegend erscheinen. Ich werde sie mit einer gewissen Ausführlichkeit entwickeln, weil ich meine, dass sie die Zukunft der Menschheit bestimmen werden. Es handelt sich an erster Stelle um die gesellschaftliche Eingliederung der Armen und außerdem um den Frieden und den sozialen Dialog.

II. Die gesellschaftliche Eingliederung der Armen

186. Aus unserem Glauben an Christus, der arm geworden und den Armen und Ausgeschlossenen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft.

Gemeinsam mit Gott hören wir einen Schrei

187. Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen. Es genügt, in der Heiligen Schrift zu blättern, um zu entdecken, wie der gute himmlische Vater auf den Schrei der Armen hören möchte – »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien […] Und jetzt geh! Ich sende dich« (Ex 3,7-8.10) – und wie zuvorkommend er ihren Nöten gegenüber ist: »Als aber die Israeliten zum Herrn schrien, gab ihnen der Herr einen Retter« (Ri 3,15). Diesem Schrei gegenüber taub zu bleiben, wenn wir doch die Werkzeuge Gottes sind, um den Armen zu hören, entfernt uns dem Willen des himmlischen Vaters und seinem Plan, zumal dieser Arme »den Herrn gegen dich anruft und Strafe für diese Sünde über dich kommt« (Dtn 15,9). Und der Mangel an Solidarität gegenüber seinen Nöten beeinflusst unmittelbar unsere Beziehung zu Gott: »Verbirg dich nicht vor dem Verzweifelten und gib ihm keinen Anlass, dich zu verfluchen. Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels, auf sein Wehgeschrei hören« (Sir 4,5-6). Immer kehrt die alte Frage wieder: »Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?« (1 Joh 3,17). Erinnern wir uns auch, mit welcher Überzeugung der Apostel Jakobus das Bild des Schreis der Unterdrückten aufnahm: »Der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere« (5,4). 188. Die Kirche hat erkannt, dass die Forderung, auf diesen Ruf zu hören, aus der Befreiung selbst folgt, die die Gnade in jedem von uns wirkt, und deshalb handelt es sich nicht um einen Auftrag, der nur einigen vorbehalten ist: »Die Kirche, die dem Evangelium von der Barmherzigkeit und der Liebe zum Menschen folgt, hört den Ruf nach Gerechtigkeit und möchte mit allen ihren Kräften darauf antworten.«153 In diesem Rahmen versteht man die Aufforderung Jesu an seine Jünger: »Gebt ihr ihnen zu essen!« (Mk 6,37), und das beinhaltet sowohl die Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen. Das Wort „Solidarität“ hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.

189. Die Solidarität ist eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz. Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und eine solidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blut übergehen, öffnen sie den Weg für weitere strukturelle Umwandlungen und machen sie möglich. Eine Änderung der Strukturen, die hingegen keine neuen Einsichten und Verhaltensweisen hervorbringt, wird dazu führen, dass ebendiese Strukturen früher oder später korrupt, drückend und unwirksam werden.

190. Manchmal geht es darum, den Schrei ganzer Völker, der ärmsten Völker der Erde zu hören, denn »der Friede gründet sich nicht nur auf die Achtung der Menschenrechte, sondern auch auf die Achtung der Rechte der Völker«.154 Bedauerlicherweise können sogar die Menschenrechte als Rechtfertigung für eine erbitterte Verteidigung der Rechte des Einzelnen oder der Rechte der reichsten Völker genutzt werden. Bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit und der Kultur jeder einzelnen Nation muss doch immer daran erinnert werden, dass der Planet der ganzen Menschheit gehört und für die ganze Menschheit da ist und dass allein die Tatsache, an einem Ort mit weniger Ressourcen oder einer niedrigeren Entwicklungsstufe geboren zu sein, nicht rechtfertigt, dass einige Menschen weniger würdevoll leben. Es muss noch einmal gesagt werden: »Die am meisten Begünstigten müssen auf einige ihrer Rechte verzichten, um mit größerer Freigebigkeit ihre Güter in den Dienst der anderen zu stellen.«155 Um in angemessener Weise von unseren Rechten zu sprechen, müssen wir unseren Gesichtskreis erweitern und unsere Ohren dem Schrei anderer Völker oder anderer Regionen unseres Landes öffnen. Wir haben es nötig, in der Solidarität zu wachsen: »Sie muss es allen Völkern erlauben, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen«,156 so, wie »jeder Mensch gerufen [ist], sich zu entwickeln«.157

191. An jedem Ort und bei jeder Gelegenheit sind die Christen, ermutigt von ihren Hirten, aufgerufen, den Schrei der Armen zu hören. Dies haben die Bischöfe Brasiliens deutlich betont: »Wir möchten jeden Tag Freude und Hoffnung, Trauer und Angst des brasilianischen Volkes, besonders der Bevölkerungen der Stadtrandgebiete und der ländlichen Regionen auf uns nehmen, die – ohne Land, ohne Obdach, ohne Brot, ohne Gesundheit – in ihren Rechten verletzt sind. Da wir ihr Elend sehen, ihr Schreien hören und ihre Leiden kennen, empört es uns zu wissen, dass ausreichend Nahrung für alle da ist und dass der Hunger auf die schlechte Verteilung der Güter und des Einkommens zurückzuführen ist. Das Problem wird noch verstärkt durch die weit verbreitete Praxis der Verschwendung.«158

192. Wir wünschen uns jedoch noch mehr. Unser Traum hat noch höhere Ziele. Wir sprechen nicht nur davon, allen die Nahrung oder eine »menschenwürdige Versorgung« zu sichern, sondern dass sie einen »Wohlstand in seinen vielfältigen Aspekten« erreichen.159 Das schließt die Erziehung, den Zugang zum Gesundheitswesen und besonders die Arbeit ein, denn in der freien, schöpferischen, mitverantwortlichen und solidarischen Arbeit drückt der Mensch die Würde seines Lebens aus und steigert sie. Der gerechte Lohn ermöglicht den Zugang zu den anderen Gütern, die zum allgemeinen Gebrauch bestimmt sind.

Treue zum Evangelium, um nicht vergeblich zu laufen

193. Der Aufruf, auf den Schrei der Armen zu hören, nimmt in uns menschliche Gestalt an, wenn uns das Leiden anderer zutiefst erschüttert. Lesen wir noch einmal, was das Wort Gottes über die Barmherzigkeit sagt, damit es kraftvoll im Leben der Kirche nachhallt. Das Evangelium verkündet: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden« (Mt 5,7). Der Apostel Jakobus lehrt, dass die Barmherzigkeit den anderen gegenüber uns erlaubt, siegreich aus dem göttlichen Gericht hervorzugehen: »Redet und handelt wie Menschen, die nach dem Gesetz der Freiheit gerichtet werden. Denn das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht« (2,12-13). In diesem Text erweist Jakobus sich als Erbe des größten Reichtums der nachexilischen jüdischen Spiritualität, die der Barmherzigkeit einen speziellen Heilswert zuschrieb: »Lösch deine Sünden aus durch rechtes Tun, tilge deine Vergehen, indem du Erbarmen hast mit den Armen. Dann mag dein Glück vielleicht von Dauer sein« (Dan 4,24). Aus derselben Perspektive spricht die Weisheitsliteratur vom Almosen als einer konkreten Übung der Barmherzigkeit gegenüber den Notleidenden: »Barmherzigkeit rettet vor dem Tod und reinigt von jeder Sünde« (Tob 12,9). In noch plastischerer Weise wird das im Buch Jesus Sirach ausgedrückt: »Wie Wasser loderndes Feuer löscht, so sühnt Mildtätigkeit Sünde« (3,30). Zum gleichen Schluss kommt auch das Neue Testament: »Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander; denn die Liebe deckt viele Sünden zu« (1 Petr 4,8). Diese Wahrheit drang tief in das Denken der Kirchenväter ein und leistete als kulturelle Alternative einen prophetischen Widerstand gegen den hedonistischen heidnischen Individualismus. Wir erwähnen nur ein Beispiel: »Wie wir in der Gefahr eines Brandes eilen, um Löschwasser zu suchen […] so ist es auch, wenn aus unserem Stroh die Flamme der Sünde aufsteigen würde und wir darüber verstört wären: Wird uns dann die Gelegenheit zu einem Werk der Barmherzigkeit gegeben, freuen wir uns über dieses Werk, als sei es eine Quelle, die uns angeboten wird, damit wir den Brand löschen können.«160>>

194. Das ist eine so klare, so direkte, so einfache und viel sagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren. Die Reflexion der Kirche über diese Texte dürfte deren ermahnende Bedeutung nicht verdunkeln oder schwächen, sondern vielmehr helfen, sie sich mutig und eifrig zu Eigen zu machen. Warum komplizieren, was so einfach ist? Die begrifflichen Werkzeuge sind dazu da, den Kontakt mit der Wirklichkeit, die man erklären will, zu fördern, und nicht, um uns von ihr zu entfernen. Das gilt vor allem für die biblischen Ermahnungen, die mit großer Bestimmtheit zur Bruderliebe, zum demütigen und großherzigen Dienst, zur Gerechtigkeit und zur Barmherzigkeit gegenüber dem Armen auffordern. Jesus hat uns mit seinen Worten und seinen Taten diesen Weg der Anerkennung des anderen gewiesen. Warum verdunkeln, was so klar ist? Sorgen wir uns nicht nur darum, nicht in lehrmäßige Irrtümer zu fallen, sondern auch darum, diesem leuchtenden Weg des Lebens und der Weisheit treu zu sein. Denn »den Verteidigern der „Orthodoxie“ wirft man manchmal Passivität, Nachsichtigkeit und schuldhafte Mitwisserschaft gegenüber unerträglichen Situationen der Ungerechtigkeit und gegenüber politischen Regimen, die diese beibehalten, vor«.161

195. Als der heilige Paulus sich zu den Apos-teln nach Jerusalem begab, um zu klären, ob er sich vergeblich mühte oder gemüht hatte (vgl. Gal 2,2), war das entscheidende Kriterium für die Echtheit, das sie ihm vorgaben, dass er die Armen nicht vergessen sollte (vgl. Gal 2,10). Dieses große Kriterium, dass die paulinischen Gemeinden sich nicht vom individualistischen Lebensstil der Heiden mitreißen lassen sollten, besitzt im gegenwärtigen Kontext, in dem die Tendenz zur Entwicklung eines neuen individualistischen Heidentums besteht, eine beachtliche Aktualität. Die eigene Schönheit des Evangeliums kann von uns nicht immer angemessen zum Ausdruck gebracht werden, doch es gibt ein Zeichen, das niemals fehlen darf: die Option für die Letzten, für die, welche die Gesellschaft aussondert und wegwirft.

196. Manchmal sind wir hartherzig und starrsinnig, vergessen, vergnügen uns und geraten in Verzückung angesichts der unermesslichen Möglichkeiten an Konsum und Zerstreuung, die diese Gesellschaft bietet. So entsteht eine Art von Entfremdung, die uns alle trifft, denn »entfremdet wird eine Gesellschaft, die in ihren sozialen Organisationsformen, in Produktion und Konsum, die Verwirklichung dieser Hingabe und die Bildung dieser zwischenmenschlichen Solidarität erschwert«.162

Der bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes

197. Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass er selbst »arm wurde« (2 Kor 8,9). Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt. Dieses Heil ist zu uns gekommen durch das „Ja“ eines demütigen Mädchens aus einem kleinen, abgelegenen Dorf am Rande eines großen Imperiums. Der Retter ist in einer Krippe geboren, inmitten von Tieren, wie es bei den Kindern der Ärmsten geschah; zu seiner Darstellung im Tempel wurden zwei Turteltauben dargebracht, das Opfer derer, die sich nicht erlauben konnten, ein Lamm zu bezahlen (vgl. Lk 2,24; Lev 5,7); er ist in einem Haus einfacher Handwerker aufgewachsen und hat sich sein Brot mit seiner Hände Arbeit verdient. Als er mit der Verkündigung des Gottesreichs begann, folgten ihm Scharen von Entrechteten, und so zeigte sich, was er selbst gesagt hatte: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk 4,18). Denen, die unter der Last von Leid und Armut lebten, versicherte er, dass Gott sie im Zentrum seines Herzens trug: »Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes« (Lk 6,20); mit ihnen identifizierte er sich: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben« und lehrte, dass die Barmherzigkeit ihnen gegenüber der Schlüssel zum Himmel ist (vgl. Mt 25,35f).

198. Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen »seine erste Barmherzigkeit«.163 Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen sind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5). Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für die Armen gefällt, die zu verstehen ist als »besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt«.164 Diese Option, lehrte Benedikt XVI., ist »im chris-tologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen«.165 Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierung ist eine Einladung, die heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen. Wir sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken, uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen, aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören, sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will.

199. Unser Einsatz besteht nicht ausschließlich in Taten oder in Förderungs- und Hilfsprogrammen; was der Heilige Geist in Gang setzt, ist nicht ein übertriebener Aktivismus, sondern vor allem eine aufmerksame Zuwendung zum anderen, indem man ihn »als eines Wesens mit sich selbst betrachtet«.166 Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann wirklich um sein Wohl. Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben. Die echte Liebe ist immer kontemplativ, sie erlaubt uns, dem anderen nicht aus Not oder aus Eitelkeit zu dienen, sondern weil es schön ist, jenseits des Scheins. »Auf die Liebe, durch die einem der andere Mensch angenehm ist, ist es zurückzuführen, dass man ihm unentgeltlich etwas gibt.«167Der Arme wird, wenn er geliebt wird, »hochgeschätzt«,168 und das unterscheidet die authentische Option für die Armen von jeder Ideologie, von jeglicher Absicht, die Armen zugunsten persönlicher oder politischer Interessen zu gebrauchen. Nur das macht es möglich, »dass sich die Armen in jeder christlichen Gemeinde wie „zu Hause“ fühlen. Wäre dieser Stil nicht die großartigste und wirkungsvollste Vorstellung der Frohen Botschaft vom Reich Gottes?«.169 Ohne die Sonderoption für die Armen »läuft die Verkündigung, die auch die erste Liebestat ist, Gefahr, nicht verstanden zu werden oder in jenem Meer von Worten zu ertrinken, dem die heutige Kommunikationsgesellschaft uns täglich aussetzt«.170

200. Da dieses Schreiben an die Mitglieder der katholischen Kirche gerichtet ist, möchte ich die schmerzliche Feststellung machen, dass die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, der Mangel an geistlicher Zuwendung ist. Die riesige Mehrheit der Armen ist besonders offen für den Glauben; sie brauchen Gott, und wir dürfen es nicht unterlassen, ihnen seine Freundschaft, seinen Segen, sein Wort, die Feier der Sakramente anzubieten und ihnen einen Weg des Wachstums und der Reifung im Glauben aufzuzeigen. Die bevorzugte Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer außerordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.

201. Niemand dürfte sagen, dass er sich von den Armen fern hält, weil seine Lebensentscheidungen es mit sich bringen, anderen Aufgaben mehr Achtung zu schenken. Das ist eine in akademischen, unternehmerischen oder beruflichen und sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschuldigung. Obwohl man im Allgemeinen sagen kann, dass die Berufung und die besondere Sendung der gläubigen Laien die Umwandlung der verschiedenen weltlichen Bereiche ist, damit alles menschliche Tun vom Evangelium verwandelt wird,171 darf sich niemand von der Sorge um die Armen und um die soziale Gerechtigkeit freigestellt fühlen: »Von allen […] ist die geistliche Bekehrung, die intensive Gottes- und Nächstenliebe, der Eifer für Gerechtigkeit und Frieden, der evangeliumsgemäße Sinn für die Armen und die Armut gefordert.«172 Ich fürchte, dass auch diese Worte nur Gegenstand von Kommentaren ohne praktische Auswirkungen sein werden. Trotzdem vertraue ich auf die Offenheit und die gute Grundeinstellung der Christen, und ich bitte euch, gemeinschaftlich neue Wege zu suchen, um diesen erneuten Vorschlag anzunehmen.

Wirtschaft und Verteilung der Einkünfte

202. Die Notwendigkeit, die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben, kann nicht warten, nicht nur wegen eines pragmatischen Erfordernisses, Ergebnisse zu erzielen und die Gesellschaft zu ordnen, sondern um sie von einer Krankheit zu heilen, die sie anfällig und unwürdig werden lässt und sie nur in neue Krisen führen kann. Die Hilfsprojekte, die einigen dringlichen Erfordernissen begegnen, sollten nur als provisorische Maßnahmen angesehen werden. Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt,173 werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel.

203. Die Würde jedes Menschen und das Gemeinwohl sind Fragen, die die gesamte Wirtschaftspolitik strukturieren müssten, doch manchmal scheinen sie von außen hinzugefügte Anhänge zu sein, um eine politische Rede zu vervollständigen, ohne Perspektiven oder Programme für eine wirklich ganzheitliche Entwicklung. Wie viele Worte sind diesem System unbequem geworden! Es ist lästig, wenn man von Ethik spricht, es ist lästig, dass man von weltweiter Solidarität spricht, es ist lästig, wenn man von einer Verteilung der Güter spricht, es ist lästig, wenn man davon spricht, die Arbeitsplätze zu verteidigen, es ist lästig, wenn man von der Würde der Schwachen spricht, es ist lästig, wenn man von einem Gott spricht, der einen Einsatz für die Gerechtigkeit fordert. Andere Male geschieht es, dass diese Worte Gegenstand einer opportunistischen Manipulation werden, die sie entehrt. Die bequeme Gleichgültigkeit gegenüber diesen Fragen entleert unser Leben und unsere Worte jeglicher Bedeutung. Die Tätigkeit eines Unternehmers ist eine edle Arbeit, vorausgesetzt, dass er sich von einer umfassenderen Bedeutung des Lebens hinterfragen lässt; das ermöglicht ihm, mit seinem Bemühen, die Güter dieser Welt zu mehren und für alle zugänglicher zu machen, wirklich dem Gemeinwohl zu dienen.

204. Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt; es verlangt Entscheidungen, Programme, Mechanismen und Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtet sind auf eine bessere Verteilung der Einkünfte, auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und auf eine ganzheitliche Förderung der Armen, die mehr ist als das bloße Sozialhilfesystem. Es liegt mir völlig fern, einen unverantwortlichen Populismus vorzuschlagen, aber die Wirtschaft darf nicht mehr auf „Heilmittel“ zurückgreifen, die ein neues Gift sind, wie wenn man sich einbildet, die Ertragsfähigkeit zu steigern, indem man den Arbeitsmarkt einschränkt und auf diese Weise neue Ausgeschlossene schafft.

205. Ich bitte Gott, dass die Zahl der Politiker zunimmt, die fähig sind, in einen echten Dialog einzusteigen, der sich wirksam darauf ausrichtet, die tiefen Wurzeln und nicht den äußeren Anschein der Übel unserer Welt zu heilen! Die so in Misskredit gebrachte Politik ist eine sehr hohe Berufung, ist eine der wertvollsten Formen der Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl anstrebt.174 Wir müssen uns davon überzeugen, dass die Liebe »das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen – [ist], sondern auch der Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wi