Dr. theol. Willi Knecht, agente pastoral.
Ein Kommentar aus der Perspektive der lateinamerikanischen Kirche
Die folgende kommentierende Lektüre des programmatischen Schreibens von Papst Franziskus stellt (subjektiv) einige zentrale Aussagen vor (II,1 / III,1). Diese werden dann im Kontext bisheriger Lehrschreiben der lateinamerikanischen Kirche seit 1968 und auf dem Hintergrund einer bereits bestehenden und gelebten Praxis der Befreiung z.B. in Lateinamerika kommentiert bzw. interpretiert (eine vergleichend wissenschaftliche Analyse ist hier nicht intendiert). Franziskus bleibt zwar in seinen Vorstellungen hinter dem zurück, was in der Folge des II. Vat. Konzils in Praxis und Theorie bereits gelebt und verkündet wurde. Mit seinen zeichenhaften Handlungen, Ansprachen und Schriften knüpft er aber an das an, was über mehr als dreißig Jahre hinweg (Johannes Paul II. und Benedikt XVI.) unterdrückt worden war: eine prophetische Kirche, mit einer jesuanischen Spiritualität und ausgehend von den Menschen, die alltäglich unter die Räuber fallen. Er tut dies, indem er die Praxis von Jesus dem Messias und dessen befreiende Botschaft von der anstehenden Herrschaft Gottes, von Liebe und Gerechtigkeit, wieder in den Mittelpunkt stellt. (w.k.)
II. Kap. 1 (50 – 75): Die Herausforderungen der „Zeichen der Zeit“ heute
Franziskus spricht von einem „diagnostischen Überhang“ (50). Wir wissen eigentlich schon längst alles, was wir wissen sollten. Warum tun aber die Menschen nicht, was sie wissen? Noch mehr oder rein soziologische Studien helfen allein nicht mehr weiter. Es geht dem Papst nicht darum, eine „detaillierte und vollkommene Analyse der gegenwärtigen Wirklichkeit zu bieten“, vielmehr um eine Unterscheidung der Geister im Lichte des Evangeliums. Er sorgt sich um die missionarische Erneuerung der Kirche. Daher will er auf „einige Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die Dynamiken der missionarischen Erneuerung der Kirche anhalten oder schwächen können“.
I. Einige Herausforderungen der Welt von heute
„Die Menschheit erlebt im Moment eine historische Wende“ (52). Der Papst nennt viele Erfolge, aber auch „einige Pathologien nehmen zu“. Die Hauptursache des „epochalen Wandels“ sieht er in der Rasanz technologischer Neuerungen und wissenschaftlicher Entwicklungen. Sind dies aber die wesentlichen Kennzeichen einer historischen Wende? Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit besitzt der Mensch die Mittel, sich selbst auszulöschen, sei es durch die Zerstörung seiner eigenen Lebensgrundlagen, sei es durch Krieg und Gewalt. Zum anderen: Über Jahrtausende hinweg waren alle Religionen und Kulturen bemüht, die dem Menschen innewohnenden selbstzerstörerischen Kräfte zu „zähmen“ und Werte zu entwickeln, die ein gedeihliches Leben in Gemeinschaft ermöglichen können. Nun aber werden erstmals und weltweit diese destruktiven Kräfte entfesselt und zur Grundlage allen menschlichen „Zusammenlebens“ gemacht. Schon die biblische Geschichte vom Sündenfall erzählt uns, dass der Mensch vom Verlangen getrieben wird, wie Gott sein zu wollen. Dies und seine Gier nach „immer mehr“ führen zum Bruch mit Gott. Sein Bestreben, sich und seine eigenen Bedürfnisse, Maßstäbe und Werke zu verabsolutieren, wird zum Götzendienst. Die von Gott dem Menschen bestimmte Ordnung, in Gemeinschaft mit ihm zu leben, wird zerstört. Der Mensch wird zum Mörder seines Bruders und seiner Schwester. Kapitalismus ist per se Tod bringend.
Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
„Diese Wirtschaft tötet“ (53). Dieser Satz ist der wohl am meisten und kontrovers diskutierteste Satz des päpstlichen Schreibens. Es ist auch ein zentraler Satz der Bibel: Dieser Götzendienst (s.o.) führt zum Tod und zu vielen Toten, zur Zerstörung jeglicher menschlichen Gemeinschaft. Der Glaube an den biblischen Gott des Lebens ist nicht vereinbar mit dem Glauben an den Gott des Todes, an die Götzen dieser Welt. „Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht“. „Wir haben die Wegwerfkultur eingeführt, die sogar gefördert wird“. Aufgrund dieser systematische Ausgrenzung um des Profits willen werden Menschen zu „Müll und Abfall“
Im nächsten Abschnitt spricht der Papst von „sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems“ (54). Das heißt doch nichts anderes, als dass der Papst (indirekt oder beabsichtigt?) den Architekten und Machern dieses Wirtschaftssystems richtigerweise vorhält, die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetzmäßigkeiten als unantastbar und alternativlos, nämlich als das herrschende Dogma unserer Zeit durchsetzen zu wollen. Dies gelingt umso besser, je umfassender und effektiver die Verdummung und Vereinzelung der Gesellschaft fortschreitet. Und diese Katechese des Kapitalismus ist wesentlich erfolgreicher als die der christlichen Kirchen. „Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. … Die Kultur des Wohlstands betäubt uns. … Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen“. Kapitalismus ist nicht nur die wirkmächtigste Religion, er bietet auch das wirkmächtigste Opium des Volkes – wie jede Religion, die im Dienst der Mächtigen steht.
Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
Was oft übersehen wird ist, dass Franziskus nicht nur einzelne Phänomene und Konsequenzen des herrschenden Wirtschaftssystem aufführt, sondern nach dessen Wurzel fragt. Ursprung der aufgeführten Krisen ist eine „tiefe anthropologische Krise: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft“ (55). Die Reduzierung des Menschen auf den Konsum, der Mensch als Ware, eine Wirtschaft „ohne ein wirklich menschliches Ziel – das alles hat seinen Ursprung in einem „schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung“.
Der Papst führt diese Unordnungen „auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen“ (56). Es gibt bei ihm eine große Zurückhaltung, den Begriff „Kapitalismus“ zu gebrauchen. Wichtig aber ist sein Hinweis, dass die absolute Autonomie der Märkte in Konflikt mit dem Staat gerät, der über das Gemeinwohl zu wachen hat. „Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt.“ Er spricht zwar von „den Interessen des vergötterten Marktes, die zur absoluten Regel werden“, scheut sich aber, dies als unvereinbar mit dem biblischen Glauben zu bezeichnen. Ihm geht es eher um eine dringend notwendige Reform der weltweiten Wirtschaftsweise als um deren prinzipielle Ablehnung. (In Abschnitt 204 spricht er von einem „Wachstum in Gerechtigkeit, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt“).
Trotz sehr deutlicher Worte wirkt diese Haltung sehr unentschlossen, zögerlich und wenig prophetisch. Denn die (theologische) Schlussfolgerung aus seinen eigenen Worten wäre: Die Ursünde (Sündenfall, Tod-Sünde) wird von den Hohen Priestern dieser Weltordnung zum allein herrschenden Grundprinzip erhoben, zum allein gültigen Wert. Die Anhäufung materieller Güter (Konsum) und die stete Vermehrung des Kapitals wird zum einzigen Weg zur Erlösung. Dies ist auch die Lehre evangelikaler Sekten und das exakte Gegenteil dessen, was die Kirche Jesu Christi sagt und ist.
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
So aber enden die Betrachtungen des Papstes in einem Appell an die „Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenen Länder“ (57), die Worte von Johannes Chrysostomus zu beachten, die eigenen Güter mit den Armen zu teilen, denn diese Güter gehörten nicht uns, sondern ihnen (was allerdings schon ein Riesenschritt auf dem Weg zur Herrschaft Gottes wäre). Franziskus fordert eine Ethik, die es erlaubt, „ein Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen“ (58). Ob die Ermahnungen an die Reichen zur uneigennützigen Solidarität und einer Ethik zugunsten des Menschen auf fruchtbaren Boden fallen werden?
Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt
Zwar spricht der Papst davon, dass ein „in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes Böses immer ein Potenzial der Auflösung und des Todes enthält“ (59). Aber auch hier fehlt es an Klarheit. Er legt den Schwerpunkt seiner Argumentation darauf, gewaltsame Re-Aktionen der Ausgeschlossenen nicht erst entstehen zu lassen, anstatt die mit Gewalt erzwungene und aufrecht gehaltene Ordnung, deren tödliche Konsequenzen er ja selbst beschreibt, als die Gewalt zu bezeichnen (wie z.B. von Helder Camara), die dem System wesensmäßig eigen ist. Schon in Medellín 1968 werden die weltweit herrschenden Strukturen als „institutionalisierte Gewalt“ (Kap 2, 16) bezeichnet. In Lateinamerika spricht man von der „Sünde der Welt“ oder den „Strukturen der Sünde“, wie es selbst Johannes Paul II. (1987) formulierte. Es sind Strukturen, die dem Menschen seine Würde rauben, weil sie den Mammon über den Menschen stellen. Dies alles ist im Wesen dessen begründet, was die Bibel als Götzendienst und als die „Ursünde“, die Versuchung schlechthin, bezeichnet. Die von Europa, dem christlichen Abendland, ausgehende Kolonialisierung der Welt hat diesen Götzendienst erst zur weltweit herrschenden Religion werden lassen. Ihre Werte sind bis in die letzten Winkel der Erde vorgedrungen und vergiften die Seelen aller bis in die letzten Fasern hinein. In der gegenwärtigen Situation geht die geschichtliche Ausfaltung der Ursünde ihrem finalen Höhepunkt entgegen.
Genährt wird dieser Wahn durch den dem System innewohnenden Wachstumszwang. Auch die prominentesten Prediger der „Freien Märkte“ wissen und sagen, dass Kapitalismus ohne immerwährendes Wachstum nicht funktionieren kann. Die kann es aber auf einem begrenzten Planeten nicht geben. Wenn es bisher doch (scheinbar) „funktioniert“ hat, dann auf Kosten der Auslöschung von ganzen Völkern, auf zunehmender Ausplünderung und auf Kosten zukünftiger Generationen. Ohne einen radikalen Bruch (radikal bedeutet nicht, sofort, sondern grundsätzliche Abkehr) mit dem Wachstumsdogma wird es keine oder sehr prekäre Zukunft geben. Wir befinden uns in einer Wachstumsfalle und finden keinen Ausweg. Der Papst spricht dies zwar an, aber nur sehr milde: „Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Konsums, aber es stellt sich heraus, dass der zügellose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Ungleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt“(60).
Einige kulturelle Herausforderungen
In den folgenden Abschnitten (61 – 70) benennt der Papst etwas unvermittelt einige kulturelle Herausforderungen, die einer neuen Evangelisierung im Wege stehen. Der besonderen Herausforderungen einer Evangelisierung in der Stadt sind die Abschnitte 71 – 75 gewidmet. Da das gesamte III. Kapitel der Verkündigung des Evangeliums gewidmet ist (110 – 175) hier nur einige Stichworte.
1. Herausforderung: Postmoderne Beliebigkeit und Individualismus
Wenn jeder Einzelne „Träger einer eigenen subjektiven Wahrheit sein will“ (61), verbunden mit dem Bestreben, zuerst sich selbst zu verwirklichen, schadet dies dem Gemeinschaftsleben und es schwindet die Bereitschaft, sich verbindlich an gemeinsamen Projekten zu beteiligen. Dies trifft die Kirche daher in ihrem Kern. Eine „relativistische Gleichgültigkeit“ macht sich breit, die ihren Ursprung in einer „Krise der Ideologien“ und Institutionen hat.
2. Herausforderung: Kulturelle Entwurzelung (der Völker am Rande)
Wirtschaftlich dominante, aber ethisch geschwächte Kulturen, haben andere Kulturen mit ihren oberflächlichen Werten überflutet oder gar zerstört. Franziskus bezieht sich hier vor allem auf die sozialen Kommunikationsmittel. „In direkter Folge sind die negativen Aspekte der Medien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahr für die traditionellen Werte“ (62). Diese Medien achten nicht auf die jeweiligen kulturellen Eigenarten, sondern verfolgen eigene Interessen. Dass es aber zum Wesensmerkmal des europäischen (immer inklusive USA gemeint) Kolonialismus gehört, das ihm Fremde entweder zu vermarkten, völlig zu assimilieren oder auszurotten, spricht der Papst nicht an. Erst recht sagt er nicht, dass die vom christlichen Abendland ausgehende Missionierung oft die Zerstörung „heidnischer Kulturen“ zum erklärten Ziel hatte. Dies zeigt sich besonders drastisch am Beispiel der „Conquista“, die zum größten Völkermord aller Zeiten ausartete (von etwa 100 Millionen Ureinwohnern Amerikas überlebten etwa 10 Millionen). Bis heute ist keine Entschuldigung aus Rom zu hören (wohl aber einiger Bischöfe aus Lateinamerika).
3. Herausforderung: Fundamentalistische Bewegungen und Suche nach einer Spiritualität ohne Gott.
Das Vordringen von zum Fundamentalismus neigenden religiösen Bewegungen schreibt Papst Franziskus der zunehmenden inneren Leere und dem „herrschenden Individualismus“ (63) zu, der seinerseits eine Folge des „laizistischen Rationalismus“ sei. Die kausalen Zusammenhänge bleiben vage. Eine materialistisch ausgerichtete Gesellschaft ist angewiesen auf eine Ersatzreligion, die einerseits in der Lage ist, die Bitterkeit des Elends kurzzeitig vergessen zu lassen und andererseits die Sehnsüchte nach einem besseren Leben – sei es im Jenseits oder materiell – wach zu halten. Der Papst scheint dies zu ahnen, scheut sich wohl aber, die Rolle der christlichen Kirchen in diesem Kontext konkreter zu hinterfragen. Und er erwähnt in keiner Weise, dass das Vordringen fundamentalistischer Bewegungen vornehmlich nordamerikanischen Ursprungs kein Zufall ist. Es gibt politisch-wirtschaftliche Gründe (weil im Interesse der Mächtigen) und innerkirchliche Gründe. Seine Vorgänger im Petrusamt waren bestrebt, u.a. durch gezielte Bischofsernennungen das Entstehen einer einheimischen Kirche inmitten der arm Gemachten zu verhindern. Das planmäßige Verhindern einer befreienden Sozialpastoral insbesondere in sozialen Brennpunkten führte zur Abwesenheit von Kirche an den Orten, wo sie am meisten gebraucht wurde. Franziskus räumt aber ein, dass kirchliche Strukturen, eine übertriebene Sakramentalisierung, bürokratisches Verhalten und „ein wenig aufnahmebereites Klima in einigen unserer Pfarreien und Gemeinden“ zu der beschrieben Situation beigetragen haben. Aber auch hier bleibt die Frage: Wer hat dies letztlich zu verantworten?
4. Herausforderung: Privatisierung des Glaubens
„Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, den Glauben und die Kirche auf den privaten, ganz persönlichen Bereich zu beschränken“(64). In der Folge führt die Aufzählung von Konsequenzen (ethische Deformation, Abschwächung des Sündenbewusstseins u.a.) dieses Prozesses zur Klage, dass besonders Jugendliche immer weniger die objektiven, von der Kirche aufgestellten Normen, beachten würden. So entstünde das Vorurteil, die Kirche würde in die individuelle Freiheit des Einzelnen eingreifen. Da der Papst im IV. Kapitel ausführlich auf die soziale Dimension der Evangelisierung zu sprechen kommt und die soziale Verpflichtung der Gläubigen betont, deuten seine Aussagen in diesem Abschnitt darauf hin, dass er sich auf die kirchliche Sexualmoral bezieht, wenn er z.B. von einem moralischen Relativismus spricht. Gleichzeitig spricht er von objektiven, für alle Menschen geltenden moralischen Normen. Franziskus fällt damit in ein n Denken zurück, das in der Vergangenheit willkürlich als unveränderlich, als göttliche Ordnung, verkündet wurde. Diese Sexualmoral, obwohl der röm. Kirche liebstes Kind, steht aber nicht im Zentrum der Botschaft Jesu. Sie ist auch kein Dogma, kein Naturrecht – genau sowenig wie die Erde eine Scheibe ist.
5. Herausforderung: Schule und Familie
In den Abschnitten 65 – 66 bescheinigt der Papst der Kirche, in vielen Ländern „in der öffentlichen Meinung eine glaubwürdige Einrichtung (65) zu sein. Dies gilt vor allem für ihren Beitrag im karitativen und schulischen Bereich. Auch zum Thema „Familie“ steht in seinem Schreiben überraschend wenig. Außer sehr allgemeinen Bemerkungen („Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch“) wird wenig gesagt.
Sein Fazit: „Der postmoderne und globalisierte Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Natur der Familienbande zerstört“ (67).
Der Ausweg: Stärkung einer „Communio“, welche die Beziehung zum himmlischen Vater und die der Menschen untereinander fördert. Er schlägt zudem vor, Bündnisse mit allen Kräften guten Willens in der Gesellschaft einzugehen – „zur Erreichung edler Ziele“.
Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens
„Die christliche Basis einiger Völker – besonders in der westlichen Welt – ist eine lebendige Wirklichkeit“ (68). Ist das als Trost gedacht – und welche Völker meint er damit? Er geht offensichtlich davon aus, dass dem so sei, weil die große Mehrheit dieser Völker (Westeuropa, Amerika) die Taufe empfangen hat (gilt etwa „ex opere operato“?). Die „Indios“ Amerikas und die schwarzafrikanischen Völker (gehören diese auch zu den getauften westlichen Völkern?) sind diesbezüglich eher anderer Ansicht. Über den Begriff „Christliches Abendland“ wurde an dieser Stelle schon geschrieben. Festzuhalten ist, dass der Papst wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die christlich-westliche Welt ein Modell für die Kirche Jesu Christi ist. Diese jedoch hat ihren Ursprung in einem vorderasiatischen Nomadenvolk, das sich im Vertrauen auf einen befreienden Gott aus der Sklaverei befreien konnte. Jesus steht in dieser Tradition. Und ist nicht die spätere griechisch-römische Staatskirche bestenfalls eine regionale (europäische) Kirche, die erst im Zuge auch grausamster Eroberungen und Versklavungen zur „das Ganze betreffenden“ Kirche wurde?
Über die Bedeutung der Volkskultur bzw. Volksfrömmigkeit im Verständnis von Papst Franziskus wird noch viel zu erforschen und zu verstehen sein. Sie ist ein Schlüssel zum Verstehen seiner Worte und Taten. „Eine evangelisierte Volkskultur enthält Werte des Glaubens und der Solidarität, die die Entwicklung einer gerechteren und gläubigeren Gesellschaft auslösen können. Zudem besitzt sie eine besondere Weisheit, und man muss verstehen, diese mit einem Blick voller Dankbarkeit zu erkennen“(68). Es gilt, die bestehenden Traditionen zu pflegen und zu fördern. Sie fördern in der Tat den Glauben und das Gemeinschaftsgefühl (soziale Verantwortung) der Gläubigen. Franziskus sieht aber auch Schwächen und Gefahren, „die noch vom Evangelium geheilt werden müssen“ (69), u.a. Aberglaube, Magie etc. Er unterscheidet zwischen einer echten Volksfrömmigkeit und einer Volksfrömmigkeit, die eher auf „hypothetischen Privatoffenbarungen“ (70) besteht und die sich auf die Bewahrung äußerer Traditionen beschränkt.
Herausforderungen der Stadtkulturen
„Das neue Jerusalem, die Heilige Stadt (vgl. Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesamte Menschheit unterwegs ist“ (71). Inzwischen lebt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Abschnitten 71 – 75 schreibt Franziskus über die besonderen Herausforderungen eines christlichen Lebens in der Stadt. Interessanterweise überträgt Franziskus das Bild von einem neuen Jerusalem auf die moderne Mega-Stadt. Dabei ist es im NT genau umgekehrt. Jesus wird schon von „Geburt an“ von der Stadt (vom „Zentrum“) abgewiesen, er verkündet den Beginn der Herrschaft Gottes auf dem Land, seine ersten Jüngerinnen und Jünger kommen ebenfalls aus Galiläa und als er nach Jerusalem zieht, wird er dort von den städtischen Eliten dem Imperium ausgeliefert und ermordet. Und heute wird mehr als je zuvor das „Land“ von der „Stadt“ ausgebeutet (auch global gesehen). Schon die Griechen in den Stadtstaaten nannten alle Nicht-Städter Barbaren und noch heute gilt die Landbevölkerung in Lateinamerika als minderwertig, ohne Kultur und ohne „rechten“ Glauben. Doch mitten unter den Campesinos kam Gott zur Welt und er wurde einer von ihnen… Was Europa noch fehlt, ist eine „barbarische Theologie und Kirche“ (von den „Barbaren“ ausgehend, den „Nicht-Menschen“).
Die moderne Stadt ist ein Monster und doch auch ein Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben, der Illusion, sein Heil in der Stadt zu finden, dazu zu gehören, Teil der modernen Welt zu sein (so berichten es viele „Landflüchtige“). Die Megastädte werden zu Orten, die immer weniger kontrolliert werden können. Gerade deswegen – so Franziskus – muss die Kirche dort präsenter werden. „Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien“ und daher ist die Stadt „ein vorzüglicher Ort für die neue Evangelisierung“ (73). „Unterschiedliche Kulturformen leben de facto zusammen, handeln aber häufig im Sinne der Trennung und wenden Gewalt an“ (74). Franziskus weiß um den Drogen- und Menschenhandel, um Prostitution und Korruption und er schreibt „Die Verkündigung des Evangeliums wird eine Grundlage sein, um in diesen Zusammenhängen die Würde des menschlichen Lebens wiederherzustellen, denn Jesus möchte in den Städten Leben in Fülle verbreiten“ (75).
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Der Text
ZWEITES KAPITEL
IN DER KRISE DES GEMEINSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS
50. Bevor wir über einige grundlegende Fragen in Bezug auf das evangelisierende Handeln sprechen, sollte kurz erwähnt werden, welches der Rahmen ist, in dem wir zu leben und zu wirken haben. Heute wird gewöhnlich von einem „diagnos-tischen Überhang“ gesprochen, der nicht immer von wirklich anwendbaren Lösungsvorschlägen begleitet ist. Andererseits würde uns auch eine rein soziologische Sicht nicht nützen, die den Anspruch erhebt, die ganze Wirklichkeit mit ihrer Methodologie in einer nur hypothetisch neutralen und unpersönlichen Weise zu umfassen. Was ich vorzulegen gedenke, geht vielmehr in die Richtung einer Unterscheidung anhand des Evangeliums. Es ist die Sicht des missionarischen Jüngers, die »lebt vom Licht und von der Kraft des Heiligen Geistes«.53
51. Es ist nicht Aufgabe des Papstes, eine detaillierte und vollkommene Analyse der gegenwärtigen Wirklichkeit zu bieten, aber ich fordere alle Gemeinschaften auf, sich um »eine immer wachsame Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erforschen«54 zu bemühen. Wir stehen hier vor einer großen Verantwortung, weil einige gegenwärtige Situationen, falls sie keine guten Lösungen finden, Prozesse einer Entmenschlichung auslösen können, die dann nur schwer rückgängig zu machen sind. Es ist angebracht zu klären, was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und auch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließt nicht nur ein, die Eingebungen des guten und des bösen Geistes zu erkennen und zu interpretieren, sondern – und hier liegt das Entscheidende – die des guten Geistes zu wählen und die des bösen Geistes zurückzuweisen. Ich setze die verschiedenen Analysen voraus, welche die anderen Dokumente des universalen Lehramtes dargeboten haben, wie auch die, welche die regionalen und nationalen Bischofskonferenzen vorgestellt haben. In diesem Schreiben will ich nur kurz und unter pastoralem Gesichtspunkt auf einige Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die Dynamiken der missionarischen Erneuerung der Kirche anhalten oder schwächen können, sei es, weil sie das Leben und die Würde des Gottesvolkes betreffen, sei es, weil sie sich auch auf die Personen auswirken, die unmittelbarer zu den kirchlichen Institutionen gehören und Evangelisierungsaufgaben erfüllen.
I. Einige Herausforderungen der Welt von heute
52. Die Menschheit erlebt im Moment eine his-torische Wende, die wir an den Fortschritten ablesen können, die auf verschiedenen Gebieten gemacht werden. Lobenswert sind die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Gesundheit, der Erziehung und der Kommunikation. Wir dürfen jedochnicht vergessen, dass der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicherheit lebt, mit unheilvollen Konsequenzen. Einige Pathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflung ergreifen das Herz vieler Menschen, sogar in den sogenannten reichen Ländern. Häufig erlischt die Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit und Gewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben. Dieser epochale Wandel ist verursacht worden durch die enormen Sprünge, die in Bezug auf Qualität, Quantität, Schnelligkeit und Häufung im wissenschaftlichen Fortschritt sowie in den technologischen Neuerungen und ihren prompten Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Natur und des Lebens zu verzeichnen sind. Wir befinden uns im Zeitalter des Wissens und der Information, einer Quelle neuer Formen einer sehr oft anonymen Macht.
Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung
53. Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerfkultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.
54. In diesem Zusammenhang verteidigen einige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Ausgeschlossenen weiter. Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeis-tern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen, noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert.
Nein zur neuen Vergötterung des Geldes
55. Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Unausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.
56. Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine egoistische Steuerhinterziehung hinzu, die weltweite Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden.
Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen
57. Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich die Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen des Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.«55
58. Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräfte erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforderung mit Entschiedenheit und Weitblick anzunehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.
Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt
59. Heute wird von vielen Seiten eine größere Sicherheit gefordert. Doch solange die Ausschließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes Böses immer ein Potenzial der Auflösung und des Todes.
Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisierte Böse ist der Grund, warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir befinden uns weit entfernt vom sogenannten „Ende der Geschichte“, da die Bedingungen für eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch nicht entsprechend in die Wege geleitet und verwirklicht sind.
60. Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Konsums, aber es stellt sich heraus, dass der zügellose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Ungleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt. Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungswettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrückung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue und schlimmere Konflikte schaffen. Einige finden schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemeinerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer „Erziehung“ zu finden, die sie beruhigt und in gezähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen jenen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.
Einige kulturelle Herausforderungen
61. Wir evangelisieren auch dann, wenn wir versuchen, uns den verschiedenen Herausforderungen zu stellen, die auftauchen können.56 Manchmal zeigen sie sich in echten Angriffen auf die Religionsfreiheit oder in neuen Situationen der Christenverfolgung, die in einigen Ländern allarmierende Stufen des Hasses und der Gewalt erreicht haben. An vielen Orten handelt es sich eher um eine verbreitete relativistische Gleichgültigkeit, verbunden mit der Ernüchterung und der Krise der Ideologien, die als Reaktion auf alles, was totalitär erscheint, eingetreten ist. Das schadet nicht nur der Kirche, sondern dem Gesellschaftsleben allgemein. Geben wir zu, dass in einer Kultur, in der jeder Träger einer eigenen subjektiven Wahrheit sein will, die Bürger schwerlich das Verlangen haben, sich an einem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, das die persönlichen Interessen und Wünsche übersteigt.
62. In der herrschenden Kultur ist der erste Platz besetzt von dem, was äußerlich, unmittelbar, sichtbar, schnell, oberflächlich und provisorisch ist. Das Wirkliche macht dem Anschein Platz. In vielen Ländern hat die Globalisierung mit der Invasion von Tendenzen aus anderen, wirtschaftlich entwickelten, aber ethisch geschwächten Kulturen einen beschleunigten Verfall der kulturellen Wurzeln bedingt. Das haben in mehreren Synoden die Bischöfe verschiedener Kontinente zum Ausdruck gebracht. Die afrikanischen Bischöfe haben zum Beispiel in Anknüpfung an die Enzyklika Sollicitudo rei socialis vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass man oftmals die Länder Afrikas zu bloßen »Rädern eines Mechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Maschinerie« umfunktionieren will. »Das geschieht oft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommunikationsmittel: Weil diese meistens von Zentren im Norden der Welt aus geleitet werden, berücksichtigen sie nicht immer in gebührender Weise die eigenen vorrangigen Anliegen und Probleme dieser Länder, noch achten sie deren kulturelle Eigenart.«57 In gleicher Weise haben die Bischöfe Asiens »die von außen auf die asiatischen Kulturen einwirkenden Einflüsse« hervorgehoben. »Neue Verhaltensformen kommen auf, die auf den übertriebenen Gebrauch von Kommunikationsmitteln […] zurückzuführen sind […] In direkter Folge sind die negativen Aspekte der Medien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahr für die traditionellen Werte.«58
63. Der katholische Glaube vieler Völker steht heute vor der Herausforderung der Verbreitung neuer religiöser Bewegungen, von denen einige zum Fundamentalismus tendieren und andere eine Spiritualität ohne Gott anzubieten scheinen. Das ist einerseits das Ergebnis einer menschlichen Reaktion auf die materialistische, konsum-orientierte und individualistische Gesellschaft und andererseits eine Ausnutzung der Notsituation der Bevölkerung, die an den Peripherien und in den verarmten Zonen lebt, die inmitten großer menschlicher Leiden überlebt und unmittelbare Lösungen für die eigenen Bedürfnisse sucht. Diese religiösen Bewegungen, die durch ihr subtiles Eindringen gekennzeichnet sind, füllen innerhalb des herrschenden Individualismus eine Leere aus, die der laizistische Rationalismus hinterlassen hat. Außerdem müssen wir zugeben, dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eigene Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet, das auch manchen Strukturen und einem wenig aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfarreien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder einem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die einfachen oder auch komplexen Probleme des Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vielerorts besteht eine Vorherrschaft des administrativen Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.
64. Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, den Glauben und die Kirche auf den privaten, ganz persönlichen Bereich zu beschränken. Außerdem hat er mit der Leugnung jeglicher Transzendenz eine zunehmende ethische Deformation, eine Schwächung des Bewusstseins der persönlichen und sozialen Sünde und eine fortschreitende Zunahme des Relativismus verursacht, die Anlass geben zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit, besonders in der Phase des Heranwachsens und der Jugend, die gegenüber Veränderungen so anfällig ist. Während die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht, gibt es, wie die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika zu Recht festgestellt haben, »solche, die diese Lehre als ungerecht bzw. als mit den menschlichen Grundrechten unvereinbar darstellen. Diese Argumentationen entspringen gewöhnlich aus einer Form von moralischem Relativismus, der sich – nicht ohne inneren Widerspruch – mit einem Vertrauen auf die absoluten Rechte des Einzelnen verbindet. In dieser Sichtweise nimmt man die Kirche wahr, als fördere sie ein besonderes Vorurteil und als greife sie in die individuelle Freiheit ein.«59 Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die uns wahllos mit Daten überhäuft, alle auf derselben Ebene, und uns schließlich in eine erschreckende Oberflächlichkeit führt, wenn es darum geht, die moralischen Fragen anzugehen. Folglich wird eine Erziehung notwendig, die ein kritisches Denken lehrt und einen Weg der Reifung in den Werten bietet.
65. Trotz der ganzen laizistischen Strömung, die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kirche in vielen Ländern – auch dort, wo das Chris-tentum in der Minderheit ist – in der öffentlichen Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuverlässig in Bezug auf den Bereich der Solidarität und der Sorge für die am meisten Bedürftigen. Bei vielen Gelegenheiten hat sie als Mittlerin gedient, um die Lösung von Problemen zu fördern, die den Frieden, die Eintracht, die Umwelt, den Schutz des Lebens, die Menschenrechte und die Zivilrechte usw. betreffen. Und wie groß ist der Beitrag der katholischen Schulen und Universitäten in der ganzen Welt! Es ist sehr positiv, dass das so ist. Doch wenn wir andere Fragen zur Sprache bringen, die weniger öffentliche Zustimmung hervorrufen, fällt es uns schwer zu zeigen, dass wir das aus Treue zu den gleichen Überzeugungen bezüglich der Würde der Person und des Gemeinwohls tun.
66. Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit der Bindungen besonders ernst, denn es handelt sich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft, um den Ort, wo man lernt, in der Verschiedenheit zusammenzuleben und anderen zu gehören, und wo die Eltern den Glauben an die Kinder weitergeben. Die Ehe wird tendenziell als eine bloße Form affektiver Befriedigung gesehen, die in beliebiger Weise gegründet und entsprechend der Sensibilität eines jeden verändert werden kann. Doch der unverzichtbare Beitrag der Ehe zur Gesellschaft geht über die Ebene der Emotivität und der zufälligen Bedürfnisse des Paares hinaus. Wie die französischen Bischöfe darlegen, geht sie nicht hervor »aus dem Gefühl der Liebe, das definitionsgemäß vergänglich ist, sondern aus der Tiefe der von den Brautleuten übernommen Verbindlichkeit, die zustimmen, eine umfassende Lebensgemeinschaft einzugehen.«60
67. Der postmoderne und globalisierte Individualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Natur der Familienbande zerstört. Das seelsorgliche Tun muss noch besser zeigen, dass die Beziehung zu unserem himmlischen Vater eine Communio fordert und fördert, die die zwischenmenschlichen Bindungen heilt, begünstigt und stärkt. Während in der Welt, besonders in einigen Ländern, erneut verschiedene Formen von Kriegen und Auseinandersetzungen aufkommen, beharren wir Christen auf dem Vorschlag, den anderen anzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brücken zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einander zu helfen, so dass »einer des anderen Last trage« (Gal 6,2). Andererseits entstehen heute viele Formen von Verbänden für den Rechtsschutz und zur Erreichung edler Ziele. Auf diese Weise zeigt sich deutlich das Verlangen zahlreicher Bürger nach Mitbestimmung – Bürger, die Erbauer des sozialen und kulturellen Fortschritts sein wollen.
Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens
68. Die christliche Basis einiger Völker – besonders in der westlichen Welt – ist eine lebendige Wirklichkeit. Hier finden wir, vor allem unter den am meisten Notleidenden, eine moralische Reserve, die Werte eines authentischen christlichen Humanismus bewahrt. Ein Blick des Glaubens auf die Wirklichkeit kann nicht umhin, das anzuerkennen, was der Heilige Geist sät. Es würde bedeuten, kein Vertrauen auf sein freies und großzügiges Handeln zu haben, wenn man meinte, es gebe keine echten christlichen Werte dort, wo ein Großteil der Bevölkerung die Taufe empfangen hat und seinen Glauben und seine brüderliche Solidarität in vielerlei Weise zum Ausdruck bringt. Hier muss man viel mehr als „Samen des Wortes“ erkennen, angesichts der Tatsache, dass es sich um einen authentischen katholischen Glauben handelt mit eigenen Modalitäten des Ausdrucks und der Zugehörigkeit zur Kirche. Es ist nicht gut, die entscheidende Bedeutung zu übersehen, welche eine vom Glauben gezeichnete Kultur hat, denn diese evangelisierte Kultur besitzt jenseits ihrer Grenzen viel mehr Möglichkeiten als eine einfache Summe von Gläubigen, die den Angriffen des heutigen Säkularismus ausgesetzt ist. Eine evangelisierte Volkskultur enthält Werte des Glaubens und der Solidarität, die die Entwicklung einer gerechteren und gläubigeren Gesellschaft auslösen können. Zudem besitzt sie eine besondere Weisheit, und man muss verstehen, diese mit einem Blick voller Dankbarkeit zu erkennen.
69. Es ist dringend notwendig, die Kulturen zu evangelisieren, um das Evangelium zu inkulturieren. In den Ländern katholischer Tradition wird es sich darum handeln, den bereits bestehenden Reichtum zu begleiten, zu pflegen und zu stärken, und in den Ländern anderer religiöser Traditionen oder tiefgreifender Säkularisierung wird es darum gehen, neue Prozesse der Evangelisierung der Kultur zu fördern, auch wenn sie sehr langfristige Planungen verlangen. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass immer ein Aufruf zum Wachstum besteht. Jede Kultur und jede gesellschaftliche Gruppe bedarf der Läuterung und der Reifung. Im Fall von Volkskulturen katholischer Bevölkerungen können wir einige Schwächen erkennen, die noch vom Evangelium geheilt werden müssen: Chauvinismus, Alkoholismus, häusliche Gewalt, geringe Teilnahme an der Eucharistie, Schicksalsgläubigkeit oder Aberglaube, die auf Zauberei und Magie zurückgreifen lassen, und anderes. Doch gerade die Volksfrömmigkeit ist der beste Ausgangspunkt, um diese Schwächen zu heilen und von ihnen zu befreien.
70. Es stimmt auch, dass der Schwerpunkt manchmal mehr auf äußeren Formen von Traditionen einiger Gruppen oder auf hypothetischen Privatoffenbarungen liegt, die absolut gesetzt werden. Es gibt ein gewisses, aus Frömmigkeitsübungen bestehendes Christentum, dem eine individuelle und gefühlsbetonte Weise, den Glauben zu leben, zugrunde liegt, die in Wirklichkeit nicht einer echten „Volksfrömmigkeit“ entspricht. Manche fördern diese Ausdrucksformen, ohne sich um die soziale Förderung und die Bildung der Gläubigen zu kümmern, und in gewissen Fällen tun sie es, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen oder eine Macht über die anderen zu gewinnen. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten ein Bruch in der generationenlangen Weitergabe des christlichen Glaubens im katholischen Volk stattgefunden hat. Es ist unbestreitbar, dass viele sich enttäuscht fühlen und aufhören, sich mit der katholischen Tradition zu identifizieren; dass die Zahl der Eltern steigt, die ihre Kinder nicht taufen lassen und sie nicht beten lehren und dass eine gewisse Auswanderung in andere Glaubensgemeinschaften zu verzeichnen ist. Einige Ursachen dieses Bruches sind: der Mangel an Raum für den Dialog in der Familie, der Einfluss der Kommunikationsmittel, der relativistische Subjektivismus, der ungehemmte Konsumismus, der den Markt anregt, das Fehlen einer pastoralen Begleitung für die Ärmsten, der Mangel an herzlicher Aufnahme in unseren Einrichtungen und unsere Schwierigkeit, in einer multireligiösen Umgebung den übernatürlichen Zugang zum Glauben neu zu schaffen.
Herausforderungen der Stadtkulturen
71. Das neue Jerusalem, die heilige Stadt (vgl. Offb 21,2-4) ist das Ziel, zu dem die gesamte Menschheit unterwegs ist. Es ist interessant, dass die Offenbarung uns sagt, dass die Erfüllung der Menschheit und der Geschichte sich in einer Stadt verwirklicht. Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Gegenwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weit-schweifige Weise tun.
72. In der Stadt wird der religiöse Aspekt durch verschiedene Lebensstile und durch Gebräuche vermittelt, die mit einem Gefühl für die Zeit, das Territorium und die Beziehungen verbunden sind, das sich von dem Stil der Landbevölkerungen unterscheidet. Im Alltag kämpfen die Bürger oftmals ums Überleben, und in diesem Kampf verbirgt sich ein tiefes Empfinden für das Leben, das gewöhnlich auch ein tiefes religiöses Empfinden einschließt. Das müssen wir berücksichtigen, um einen Dialog zu erzielen wie den, welchen der Herr mit der Samariterin am Brunnen führte, wo sie ihren Durst zu stillen suchte (vgl. Joh 4,7-26).
73. Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert. Die Synode hat festgestellt, dass heute die Verwandlungen dieser großen Gebiete und die Kultur, in der sie ihren Ausdruck finden, ein vorzüglicher Ort für die neue Evangelisierung sind.61 Das erfordert, neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen anziehender und bedeutungsvoller sind. Aufgrund des Einflusses der Massenkommunikationsmittel sind die ländlichen Bereiche von diesen kulturellen Verwandlungen, die auch bedeutsame Veränderungen in ihrer Lebensweise bewirken, nicht ausgenommen.
74. Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen. Man darf nicht vergessen, dass die Stadt ein multikultureller Bereich ist. In den großen Städten kann man ein „Bindegewebe“ beobachten, in dem Gruppen von Personen die gleichen Lebensträume und ähnliche Vorstellungswelten miteinander teilen und sich zu neuen menschlichen Sektoren, zu Kulturräumen und zu unsichtbaren Städten zusammenschließen. Unterschiedliche Kulturformen leben de facto zusammen, handeln aber häufig im Sinne der Trennung und wenden Gewalt an. Die Kirche ist berufen, sich in den Dienst eines schwierigen Dialogs zu stellen. Es gibt Bürger, die die angemessenen Mittel für die Entwicklung des persönlichen und familiären Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr viele „Nicht-Bürger“, „Halbbürger“ oder „Stadtstreicher“. Die Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebensentfaltung vieler. Dieser Widerspruch verursacht erschütterndes Leiden. In vielen Teilen der Welt sind die Städte Schauplatz von Massenprotesten, in denen Tausende von Bewohnern Freiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordern sowie verschiedene Ansprüche geltend machen, die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Verständnis stoßen, auch mit Gewalt nicht zum Schweigen gebracht werden können.
75. Wir dürfen nicht übersehen, dass sich in den Städten der Drogen- und Menschenhandel, der Missbrauch und die Ausbeutung Minderjähriger, die Preisgabe Alter und Kranker sowie verschiedene Formen von Korruption und Kriminalität leicht vermehren. Zugleich verwandelt sich das, was ein kostbarer Raum der Begegnung und der Solidarität sein könnte, häufig in einen Ort der Flucht und des gegenseitigen Misstrauens. Häuser und Quartiere werden mehr zur Absonderung und zum Schutz als zur Verbindung und zur Eingliederung gebaut. Die Verkündigung des Evangeliums wird eine Grundlage sein, um in diesen Zusammenhängen die Würde des menschlichen Lebens wiederherzustellen, denn Jesus möchte in den Städten Leben in Fülle verbreiten (vgl. Joh 10,10). Der einmalige und volle Sinn des menschlichen Lebens, den das Evangelium verkündet, ist das beste Heilmittel gegen die Übel der Stadt, auch wenn wir bedenken müssen, dass ein Evangelisierungsprogramm und ein einheitlicher, starrer Evangelisierungsstil für diese Wirklichkeit nicht angemessen sind. Doch das Menschliche bis zum Grunde zu leben und als ein Ferment des Zeugnisses ins Innerste der Herausforderungen einzudringen, in jeder beliebigen Kultur, in jeder beliebigen Stadt, lässt den Christen besser werden und befruchtet die Stadt.