Das Lehrschreiben Evangelii Gaudium von Papst Franziskus birgt Sprengstoff für die katholische Kirche. Es fordert der Sache nach eine Kirche im Dienst der Armen, eine arme Kirche für die Armen. Es ruft zu einer „Kirche im Aufbruch“ auf, die sich „nötigenfalls bis zur Demütigung (erniedrigt) und nimmt das menschliche Leben an, indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung kommt“ (EG, Kapitel I, 24). Nehmen die Katholiken diese Herasuforderung, dieses Angebot an? Wir möchten in den kommenden Wochen das Lehrschreiben Stück für Stück kommentieren und zur Diskussion einladen. Die Reihe wird eröffnet von einem Beitrag von Kuno Füsel u. Michael Ramminger, der in der Zeitschrift junge welt am 28.12. 2013 erschienen ist.
Dem Kapital an die Wurzel
Das Lehrschreiben »Evangelii Gaudium« von Papst Franziskus: Keine Revolution, aber ein Programm, das dazu führen könnte
Von Kuno Füssel und Michael RammingerBei der abendlichen Szene seiner Vorstellung als neuer Papst am 13. März 2013 bat Jorge Bergoglio, so sein weltlicher Name, die versammelte Menge, zuerst ihn zu segnen, denn: »Ich bin ein Sünder«. Dies ist keine gekünstelte Bescheidenheitsfloskel. Franziskus sieht sich eben nicht als das alle Glaubensfragen beantwortende unfehlbare Wesen, sondern bekennt seine Endlichkeit und Fehlbarkeit und gibt zu, dass er auch in seiner Zeit in Argentinien, in der er vom Priester (1969) zum Kardinal (2001) aufstieg, vieles falsch gemacht habe (zu seiner Biographie siehe jW-Thema vom 30.3.2013). Er lehnt protzige Auftritte und pompöse Rituale ab, lebt bescheiden und ist offen für alle, die seine Nähe suchen, besonders aber für die Armen, Notleidenden und Ausgestoßenen dieser Erde. Wenn dieses Verhalten wenigstens in seiner Kirche Schule machen würde, könnte dies die Welt verändern. Auch wenn er bei Reizthemen wie Abtreibung, Ehescheidung und Homosexualität an der traditionellen Lehre der katholischen Kirche keine Abstriche macht, wird er nicht müde zu betonen, dass er nicht das Recht habe, andere Menschen zu verurteilen und lehnt »geistliche Einmischungen in das persönliche Leben ab«, wie es im Corriere della Sierra vom 20. September 2013 heißt. Er sucht darum bewußt das verstehende Gespräch mit Frauen, die abgetrieben haben, sowie mit Geschiedenen und Homosexuellen. In dieser Hinsicht nimmt er die menschliche Freiheit bedeutend ernster als seine beiden Vorgänger.
Den Papstnamen Franziskus hat er sicher nach reiflicher Überlegung gewählt (zur Namensgebung im allgemeinen siehe jW-Thema vom 13.8.2005). Von Franz von Assisi ist der Ausspruch bekannt: »Wer keinen Besitz hat, braucht auch keine Waffen, um ihn zu verteidigen!« Mit dieser Aussage hatte der Begründer des Franziskanerordens schon im Mittelalter die tödliche Logik des Feudalismus und des später langsam heraufziehenden Kapitalismus entlarvt. Er legt damit offen, dass Reichtumsbildung und Aufrüstung immer Hand in Hand gehen. Die Orientierung des neuen Papstes an Franz von Assisi hat also nichts mit rührseliger Frömmigkeit oder Folklore, sehr wohl aber mit Armut und dem Schicksal der Armen zu tun. Dies geht aus vielen seiner früheren Stellungnahmen und gerade auch der letzten zehn Monate hervor.
Detaillierte Kapitalismuskritik
Seine Aussagen systematisiert der Papst in dem programmatischen Lehrschreiben »Evangelii Gaudium – die Freude des/am Evangelium(s)« (EG) vom 24. November 2013 – jW dokumentierte vier Tage später zentrale Aussagen der päpstlichen Kapitalismuskritik mit der prägnanten Überschrift »Diese Wirtschaft tötet«. Dem tödlichen System schleudert Franziskus ein vierfaches Nein entgegen: Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung; Nein zur neuen Vergötterung des Geldes; Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen; Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt. So lauten die Kapitelüberschriften im Lehrschreiben Nr. 53–60. Es enthält neben der erwähnten detaillierten Kapitalismuskritik zwei weitere Schwerpunkte: erstens ein Programm der Evangelisierung, d.h. der breiten und intensiven Umsetzung der Botschaft des Evangeliums als Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten Welt, und zweitens Vorschläge und Forderungen zu einer gründlichen und nachhaltigen Reform der kirchlichen Strukturen und ihrer pastoralen, diakonischen und politischen Funktionen, beginnend beim Vatikan und endend bei den Gemeinden vor Ort.
Papst Franziskus pflegt eine konkretisierende und gleichzeitig mitreißende Sprache, die oft präzise und polemisch – auch gegen die eigene Kirche – zuspitzen kann. Seine Argumentations- und Redeformen sind kontextuell und personenbezogen, daher appellativ und auf Handlung drängend. Es geht ihm nie um schöne Formulierungen, sondern um die darin liegende Motivation zu veränderndem Handeln. Vor allem aber ist er ein Meister der metaphorischen Rede. Die enthält natürlich auch ihre Gefahren, was etwa bei der Rede von der Kirche als »Mutter« und den damit verknüpften traditionellen Implikationen offensichtlich wird.
Erinnert sei aber an die oft zitierte, aber nicht interpretierte Metapher, mit der er sich nach der Bekanntgabe seiner Wahl am 13. März 2013 vorstellte: »Ihr habt mich hergeholt vom Ende der Welt.« Er kommt zwar aus Buenos Aires, im Blick hat er aber das Feuerland (Tierra del fuego), welches das Ende der bewohnten Welt darstellt. Franziskus läßt damit an die Entstehung des Namens denken: Die Indígenas zündeten Dauerfeuer gegen die fortwährend bedrohliche Kälte an. Der Papst will damit sagen, dass er gegen die Kälte einer zerstörerischen kapitalistischen Welt permanent Feuer anzündet und uns alle auch dazu animiert. Die Metapher enthält noch einen zweiten Aspekt: Franziskus kommt aus der Peripherie ins Zentrum und bringt ein differenziertes Bewußtsein für die damit verknüpften Gegensätze und Widersprüche mit. Man muß schon, wie Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Dezember 2013, von einer besserwisserischen Überheblichkeit geprägt sein, um dem Papst Naivität und grobschlächtigen Antikapitalismus zu unterstellen, der zwar an die Utopie eines christlichen Kommunismus anknüpfe, aber für die Armen noch nie etwas gebracht habe.
Sein neues Lehrschreiben beweist, dass er nicht nur die Dependenztheorie1 verstanden hat, sondern dass seine Kapitalismusanalyse bis zum Geheimnis des Fetischcharakters von Ware und Kapital vorgedrungen ist (vgl. EG, Kapitel II, 55 sowie sein Schreiben »Wider den Fetischismus des Geldes« vom 16.5.2013). Das war den Päpsten von Leo XIII. (Enzyklika »Rerum novarum«, 1891) bis Johannes Paul II. (Enzyklika »Laborem exercens«, 1981) in ihrer Kapitalismuskritik nie gelungen. Sie hinderte ein tiefsitzender Antikommunismus daran, die Kategorien von Karl Marx anzuwenden. Bis heute verschweigen die Vertreter der katholischen Soziallehre – die in dem Lehrschreiben zwar erwähnt, aber nach der Meinung von Kardinal Karl Lehmann in Zeit Online vom 5. Dezember 2013 vom neuen Papst nicht explizit gewürdigt wird – keineswegs die sogenannten Auswüchse des Kapitalismus und sein Versagen. Sie befürworten daher die »Zähmung des Raubtieres«, sehen aber nicht, dass dies auf Dauer nicht gelingen kann, weil sie dem Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsweise widerspricht. Der neue Papst bringt es hingegen auf den Punkt: »Diese Wirtschaft tötet«.
Es geht Bergoglio um mehr als die traditionelle Betonung des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital und die Ablehnung von Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterschaft. Es geht ihm darum, dass große Teile der Weltbevölkerung gemäß der Systemlogik, und nicht durch einen bedauerlichen Unfall, vom gemeinsam produzierten Reichtum ausgeschlossen werden und damit ihre Lebensgrundlage und Existenz verlieren. Sein Besuch in Lampedusa stellte dieses Bewußtsein nachdrücklich unter Beweis – wobei er zusätzlich noch eine neue Form der Globalisierung, nämlich die »der Gleichgültigkeit« geißelte.
Keine theologische Anthropologie
Eine weitreichende Folgerung aus seiner Kapitalismuskritik ist die Erkenntnis, dass Ausbeutung und ungleiche Verteilung des Reichtums auf der Welt eine der tiefsten Ursachen der Gewalt darstellen. Diese Gewalt äußert sich auf verschiedenen Ebenen: Kapitalistische Wirtschaft funktioniert nach dem Gesetz der bedingungslosen Konkurrenz; sie kurbelt permanent die Entwicklung des militärisch-technologischen Komplexes an; sie inszeniert eine Wegwerfgesellschaft, in der nicht nur Lebensmittel, sondern sogar Menschen wie Müll behandelt werden. Seine Schlußforderung ist daher unmittelbar einleuchtend: »Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden« (EG, Kapitel IV, 202). Nimmt man den letzten Satz ernst, dann heißt das: Auch die Kirche kann ihre eigenen nicht lösen, wenn sie nicht für eine Bewältigung der genannten Probleme kämpft. Diese Verknüpfung müßte die gesamte pastoral-diakonische Praxis der Kirche umkrempeln.
Sein klares Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung der für die Kapitalverwertung Unnützen und der Vergötzung des Geldes wird an mehreren Stellen durch anthropologische Reflexionen begründet. Es könnte daher der Anschein entstehen, dass die Analyse des Fetischcharakters von anthropologischen Überlegungen überdeckt wird, wie sie sich in letzter Zeit vor allem im Begriff der Gier artikulieren. Selbst wenn es die Gier des Menschen nach Macht und Reichtum nicht gäbe, würde sich das Wesen des Kapitalismus nicht ändern. Der Papst weicht also nicht auf das Gebiet einer theologischen Anthropologie aus, sondern legt die Instrumentalisierung dieses anthropologischen Defizits durch die kapitalistische Wirtschaftsweise offen. Das Kapitalverhältnis aktiviert das latente Laster der Gier und bringt es zu voller Blüte. Die anthropologische Reflexion ist aber auch deswegen nicht abwegig, weil das Kapitalverhältnis vom Menschen erzeugt wird und seine Folgen daher in den Bereich menschlicher Verantwortung fallen. Marx hat mit dem Begriff der Entfremdung in den »Pariser Manuskripten« zum Zusammenhang von Ökonomie und Anthropologie hilfreiche Klärungen vorgenommen. Vielleicht entdeckt Papst Franziskus bald auch den theologischen Nutzen dieses Begriffs, wie es schon beim Fetisch der Fall ist.
Solidarität mit Unterdrückten
Wie ein roter Faden durchziehen das Thema Armut und die Option für die Armen die bisherigen Stellungnahmen des Papstes, so auch das neue Lehrschreiben: »Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums« (EG, Kapitel I, 48). Der Bezug auf sie hat bei Franziskus im Unterschied zu vielen seiner Äußerungen jedoch keinen metaphorischen, sondern einen sozialanalytischen und theologischen Charakter. Der Kampf gegen die Armut ist einer um die Subjektwerdung der Armen. Diese sind nicht das Objekt rührseligen Mitleids und karitativer Betreuung, worauf sich auch problemlos konservative und reaktionäre Kreise der Kirche einlassen können, weil sie mit vielen guten Werken auch etwas für ihr ewiges Leben tun möchten.
Wegen der oft vorkommenden und häufig zitierten »Option für die Armen« sei kurz noch etwas zu deren soziologischem und theologischem Status angemerkt. In den einschlägigen Texten kommt meist die ausführlichere Wendung »vorrangige Option für die Armen« vor. Das bedeutet, dass mit ihr Prioritäten gesetzt werden. Die Situation der Armen und deren Ursachen müssen berücksichtigt werden, bevor eine befreiende Evangelisierung in Gang kommen kann. Bereits Thomas Müntzer predigte seinen Bauern: »Man kann euch nicht von Gott reden, solange ihr in Knechtschaft lebt.« Nur im Kampf und der Solidarität mit den Armen wird vermieden, dass aus dem Trost des Evangeliums billige Vertröstung wird. Implizit enthält die Option für die Armen auch das Verständnis der Armen als durch das System arm gemachte, also als ökonomische Klasse, was über ihre Wahrnehmung als verelendete Masse weit hinausgeht. Franziskus geht zwar nicht explizit darauf ein, weiß aber sehr wohl, und dies nicht nur aus Lateinamerika, dass die katholische Kirche sich nicht aus den Klassenkämpfen der Gegenwart heraushalten kann. Dafür liefert das Gegeifer seiner Gegner einen nachdrücklichen Beleg. Dies bedeutet keineswegs, dass die katholische Kirche die Reichen verachtet oder sogar ihr Feind ist: »Universale Liebe bemüht sich vielmehr, in Solidarität mit den Unterdrückten auch die Unterdrücker von ihrer Macht, ihren Ambitionen und ihrem Egoismus zu befreien«, heißt es beim peruanischen Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez.
Genau in diesem Sinne benennt Franziskus das Problem der Armut und der Existenz derselben auch als ein zentrales theologisches Problem und damit als eine radikale Herausforderung für das Selbstverständnis der Katholiken. Er schreibt: »Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigt sich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmt das menschliche Leben an, indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung kommt« (EG, Kapitel I, 24). Was hier in theologischer Sprache formuliert ist, bedeutet nichts anderes, als dass die katholische Kirche ihre eigentliche Existenz in der Solidarität mit den Leidenden und Unterdrückten findet. Jede Kirche, die von diesem Kriterium absieht und die frohe Botschaft nicht als materialistische frohe Botschaft verkündet – Ende von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung –, also nicht praktisch werden läßt, verfehlt ihr Wesen.
Wer seine Kapitalismuskritik, die Option für die Armen und das daraus resultierende Verständnis der Kirche und ihres Dienstes für die Menschen ernst nimmt, kann nicht übersehen, wie nah Franziskus der Praxis und den Grundlinien der Befreiungstheologie ist, auch wenn er mit guten Gründen vermeidet, dies explizit hervorzuheben. Das erkennen seine vielen Gegner im Vatikan, die sich, wie der Präfekt der Glaubenskongregation und Ratzinger-Intimus Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, verzweifelt bemühen nachzuweisen, dass der Papst gerade kein Anhänger der Befreiungstheologie sei. Dies kommt in einer schon peinlich zu nennenden Vereinnahmung von Gutiérrez besonders zum Ausdruck. Es ist der allerdings hoffnungslose Versuch, zwischen einer »guten«, weil nichtmarxistischen, und einer »bösen«, weil marxistischen, Befreiungstheologie zu unterscheiden. Franziskus weiß natürlich um die Wirkmächtigkeit des Antikommunismus. Und auf den gegen ihn gerichteten Marxismusvorwurf antwortet er: »Die marxistische Ideologie ist falsch. Aber in meinem Leben habe ich viele Marxisten kennengelernt, die gute Menschen waren. Deshalb fühle ich mich nicht beleidigt.« Kann man das als Distanzierung verstehen, ohne zu wissen, was er mit »marxistischer Ideologie« meint? Diese kann er sicherlich von marxistischer Theorie auseinanderhalten, denn »die Unterscheidung der Geister« ist seine gut trainierte Fähigkeit als Jesuit. Vor diesem Hintergrund entfaltet er in einem Interview in der italienischen Tageszeitung La Stampa vom 14. Dezember 2013 seine Einschätzung der weit verbreiteten Illusion, dass ein florierender Kapitalismus auch den Armen helfen würde: »Das Versprechen lautete: Sobald das Glas voll ist, würde es überlaufen und den Armen nützen. In Wirklichkeit aber geschieht etwas anderes: Sobald das Glas voll ist, wird das Gefäß auf irgendeine magische Weise größer. Daher springt für die Armen nie etwas heraus.«
Begrenzte Hausmacht
Es ist bedauerlich, dass in der so oft beschworenen kritischen Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen wird, wie sehr der ideologische Klassenkampf in der katholischen Kirche an Fahrt aufgenommen hat. Diese Situation wird sich noch verschärfen, wenn die angekündigten Strukturreformen, allen voran bei der skandalgeschüttelten Vatikanbank und dem Verwaltungsapparat, durchgeführt werden und es an die Streichung von Pfründen und die Einschränkung von Machtpositionen geht: »Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen« (EG, Kapitel I, 32), schreibt Franziskus. Im Rahmen der sich daran anschließenden Überlegungen plädiert er für eine stärkere Rolle der nationalen und regionalen Bischofskonferenzen, denen er eine gewisse authentische Lehrautorität zuerkennt, wie es bereits das II. Vatikanische Konzil, das letzte große Reformereignis der katholischen Kirche in den Jahren von 1962 bis 1965, gewünscht hatte. Auch das Papsttum muß reformiert werden, um den aktuellen Erfordernissen der Evangelisierung besser entsprechen zu können. All das weist darauf hin, dass der Papst bereit ist, jene Strukturen in Frage zu stellen, an denen der Großteil der vatikanischen Bürokratie hängt und die das größte Hindernis einer »armen Kirche für die Armen« sind, eine Formel, die Franziskus in direkter Anknüpfung an Papst Johannes XXIII. (1958–1963) geprägt hat.
Ein anderes Thema bleibt neuralgisch. Franziskus ist sich auch bewußt, dass eine Erneuerung der katholischen Kirche ohne eine Rehabilitierung der Frauen und ihrer Bedeutung für das Gedeihen der Kirche unmöglich ist. Glaubhaft betont er immer wieder die Würde der Frau und fordert die Aufwertung ihrer Rolle bei der Gestaltung der Kirche. Aber dann bleibt er doch in der Frage, ob Frauen zum Priester geweiht werden können, ein Gefangener traditioneller Vorbehalte und Fehldeutungen: Frauen wird es in dieser Funktion trotz gravierenden Priestermangels so schnell nicht geben (vgl. EG, Kapitel II, 103 f.).
Viele der derzeitigen Auseinandersetzungen, Neubesetzungen von Ämtern usw. drehen sich für Nichtkatholiken um scheinbar absurde Themen wie die Liturgiegestaltung. Aber dahinter verbergen sich heftige Machtkämpfe, in denen der Papst eine kluge, aber vorsichtige Personalpolitik zur effizienteren Durchsetzung seines Programms betreibt. So wurde beispielsweise der konservative US-amerikanische Kardinal Raymond Leo Burke nicht wieder in die Bischofskongregation berufen, die für Bischofsernennungen und Versammlungen zuständig ist – und dies ist kein Einzelfall.
Allerdings darf all das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Franziskus nur über eine begrenzte Hausmacht verfügt. Der italienische Journalist und Vatikan-Berichterstatter Marco Politi entwirft in der italienischen Tageszeitung Il Fatto Quotidiano vom 6. Dezember 2013 ein Szenario: »Bis jetzt ist weder in den Kurien-Abteilungen noch im Weltepiskopat eine kompakte Gruppe von Kardinälen, Bischöfen und Priestern zu sehen, die bereit wären, für Bergoglios Reformen zu kämpfen, wie es die Verfechter der Gregorianischen Reform im Mittelalter (im 11. und 12. Jahrhundert; d.Red.) oder nach der Wende durch das Konzil von Trient (1545–1563; d.Red.) getan haben. Die nationalen Bischofskonferenzen sehen tatenlos zu. Zu viele nehmen die Anstöße von Franziskus passiv entgegen. Viele Konservative warten schweigend darauf, dass er einen Fehltritt tut.«
Dies mag für den Moment stimmen. Aber die römischen Demütigungen und Verfolgungen nicht nur der lateinamerikanischen Kirche des Volkes und der Befreiungstheologie haben die fortschrittlichen Sektoren der Kirche nicht zerstören können. So gibt es berechtigte Hoffnung, dass der vom Papst beklagte »graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird«, von einer vitalen Freude am Kampf für Gerechtigkeit und Befreiung abgelöst wird. »Herausforderungen existieren, um überwunden zu werden«, sagt der Papst.