Ein Plädoyer für den Mut zur „Autorität der Freiheit“ an Stelle der Freiheit der Autorität.
von Heinz-Theo Arntz
Die Kennzeichnung der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962-1965 als Magna Charta durch die Sondersynode der Bischöfe im Rom des Jahres 1985 aus Anlass der 20. Wiederkehr des Konzilsabschlusses ist nicht schlecht gewählt, markiert doch die Magna Charta Libertatum, auf die die Wortwahl anspielt, für das England des 13. Jahrhunderts die Wasserscheide zwischen der Monarchie des Feudalismus und der konstitutionellen Verfassung dieser Staatsform, die langfristig im Rückblick als die Geburtsstunde der modernen Demokratie erscheint.
Die 50. Wiederkehr der kalendarischen Daten des konziliaren Prozesses der Jahre 1959 bis 1965 ist uns Anlass zur Rückbesinnung auf die und zur Wiederbelebung der Dynamik, die diesen Prozess als Jahrhundertereignis bestimmt hat. Im Streit um die richtige Interpretation der Konzilsdokumente mag man mit Giuseppe Alberigo, dem prominenten Chronisten des Vatikanum II, die Unterscheidung zwischen einer Hermeneutik der Diskontinuität bzw. des Bruches und einer Hermeneutik der Reform, die Papst Benedikt XVI. in seiner Ansprache an das Kardinalskollegium vom 22. Dezember 2005 vorgenommen hat, für elegant und wertvoll halten. Uns beschleicht jedoch der begründbare Verdacht, dass in diesen Formulierungen Papst Benedikts mehr die restaurativ getönte Diagnose der nachkonziliaren Entwicklung in der Kirche durchschimmert, die der Kardinal Ratzinger nicht erst als Präfekt der Glaubenskongregation vorgenommen hat, am deutlichsten nachlesbar im Epilog seiner Theologischen Prinzipienlehre, zweite unveränderte Auflage 2005. Nicht nur der Präfekt der Glaubenskongregation, auch der Papst Josef Ratzinger hat darüber hinaus durch markante Entscheidungen und Interpretationen verbreitet Zweifel daran aufkommen lassen , ob eine intentionsgerechte Umsetzung der Zielsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom erwünscht ist und wirksam vorangetrieben wird.
Um dies zu prüfen, wollen wir einige Marksteine des konziliaren Prozesses von 1959 bis 1965 in Erinnerung rufen.
Man kann durchaus sagen, dass eine der wesentlichen Aufgaben des Konzils, die Papst Johannes XXIII. als Auftraggeber der Bischofsversammlung stellte, darin bestand, den großen Sprung vorwärts zu wagen von der europäisch geprägten Verfassung der Kirche zu einer Gestalt, die den einer Weltkirche gestellten Herausforderungen gewachsen sein und ein neues Pfingsten darstellen würde. Die Tiefe des Einschnitts in der Geschichte der Kirche allein durch diese Aufgabenstellung ist zunächst schon einmal an der Tatsache zu ermessen, dass Johannes XXIII. als Papst die Einberufung eines ökumenischen Konzils dazu für erforderlich hielt, obwohl man nach den Entscheidungen des Vatikanum I eine solche Einberufung hätte für überflüssig halten können.
Auch die Eröffnungsansprache, in der Johannes XXIII. die Aufgabe des Konzils umriss, ließ weit über die Grenzen der römisch-katholischen Christenheit aufhorchen, weil sie von dem Bewusstsein der Notwendigkeit eines epochalen Wandels im Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche geprägt war. Bewusst gab der Papst die Leitlinien in der Unterscheidung zwischen den unveränderlichen und den der Veränderung bedürftigen Bestandteilen der Glaubensvermittlung vor, die eine tiefgreifende Problematisierung des Traditionsverständnisses initiierte.
Dieser Problemaufriss ermunterte in der ersten Sitzungsperiode eine deutliche Mehrheit der Konzilsväter – gestützt auf die Sympathie des Papstes – dazu, die konkrete Programmatik der Konzilsarbeit gegenüber dem Tenor der vorbereiteten Beschlussvorlagen signifikant zu verändern.
Schon darin äußerte sich ein eigener „Geist des Konzils“, der von der Mehrheit der Konzilsväter als deutlicher Fingerzeig des Heiligen Geistes verstanden wurde und sehr schnell konkretes Profil gewann. Dieser Geist bestimmte wesentlich die Entstehungs- und Formungsgeschichte der Beschlüsse, die als Früchte der Beratungen auch durch die Zustimmung des Papstes mehr oder weniger verbindliche Gesetzeskraft erlangten.
Wollte man das inhaltliche Profil dieses Konzilsgeistes näherhin bestimmen, so geben folgende Stichworte die Hauptkriterien für die inhaltliche Erörterung ab:
-
Die Orientierung am Auftrag und an der Armut Jesu im Selbstbild und ihre Konsequenzen für das Erscheinungsbild der Kirche (Kollegialität, gemeinsames Priestertum aller Gläubigen, Option für die Armen).
-
Die einladende – pastorale(im Sinne von „Gaudium et Spes“) – Formulierung der Glaubensüberlieferung als Heilsangebot in den Nöten und Kämpfen der heutigen Menschheit (Aggiornamento)
-
Die Betonung der Übereinstimmungen im vielstimmigen christlichen Glaubenszeugnis (Ökumenismus) und gezielte Überwindung des Skandals der Spaltungen durch klärenden Dialog.
-
Die positive Öffnung zu anderen religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen mit der Bereitschaft, im Gespräch mit ihnen für die Verdeutlichung der eigenen Glaubensüberzeugung zu lernen.
Dieses nur grob umrissene inhaltliche Profil barg schon auf dem Konzil erheblichen Zündstoff, der in den Beratungen zu krisenhaften Zuspitzungen und Fronstellungen führte, die oft nur durch mühsame und ermüdende – im Rückblick oft zweifelhafte – Kompromissbildungen einer befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten. Dies ist für die Einschätzung der nachkonziliaren Entwicklung von entscheidender Bedeutung.
Die in diesem inhaltlichen Profil deutlich werdende Tendenz stand in einem so radikalen Widerspruch zum vorkonziliaren Selbstverständnis und Erscheinungsbild der römisch-katholischen Kirche, dass erdbebenhafte Konvulsionen die Folge sein mussten.
Aber die Notwendigkeit zu einem solch großen Sprung nach vorn war offensichtlich angesichts der („antimodernistischen“) Schieflage, in die die Kirche der Neuzeit gemessen an der Zielrichtung des Evangeliums geraten war, das glaubwürdig zu bezeugen in Wort und Tat ihre existentielle Aufgabe durch die Zeiten ist.
Die vorkonziliare Kirche bot in ihrer Gesamtheit ein Erscheinungsbild, das weniger dem auf geheimnisvolle Weise in ihr fortlebenden Christus, als vielmehr einem feudalistischen Herrschaftssytem des Mittelalters, zuletzt gar nach dem Ersten Vatikanischen Konzil und seinen torsohaften Ergebnissen einer letzten Bastion des : neuzeitlichen Absolutismus glich, in dem nur noch der Papst sagen konnte: „Die Kirche, das bin ich!“
Insofern war die Programmatik des Konzils notwendig ein Abschied von dieser imperialen Gestalt der Kirche, die mehr von den Strukturen des Römischen Reiches und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – bis in Details – geprägt war als von der neutestamentlichen Verfassung der Kirche. Die Rückbesinnung auf diese konnte auf diesem Konzil zum Teil nur gegen erbitterten Widerstand einer hartnäckig und mit zweifelhaften Methoden agierenden Minderheit letztlich nur eingeschränkt durchgesetzt werden, aber sie findet sich irreversibel in den Ergebnissen.
Dennoch gebärdet sich der Geist dieser Minderheit in der nachkonziliaren Zeit zunehmend unverfroren als einzig legitimer Repräsentant der wahren Kirche Christi.
Bestürzend ist für uns, welches Maß an Aufmerksamkeit den Vertretern dieses Geistes geschenkt wird, weil er angeblich zu Recht auf offene Wunden des nachkonziliaren Prozesses hinweise.
Dagegen glauben wir, dass weder eine halbherzige Reform noch die Rückkehr zu vorkonziliarer Intransigenz die derzeitigen Probleme der Kirche lösen werden, sondern auf Dauer nur eine strikte Einhaltung und volle Anwendung der Magna Charta des Konzils, d.h. die beherzte und entschlossene Fortsetzung des Kurses, den die große Mehrheit der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils gewiesen hat:
Wandelt Euch durch eine neues Denken ( Röm 12,2) und
Löscht den Geist nicht aus(1 Thess 5,19)!
Ein Plädoyer für den Mut zur „Autorität der Freiheit“ an Stelle der Freiheit der Autorität.
von Heinz-Theo Arntz
Die Kennzeichnung der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962-1965 als Magna Charta durch die Sondersynode der Bischöfe im Rom des Jahres 1985 aus Anlass der 20. Wiederkehr des Konzilsabschlusses ist nicht schlecht gewählt, markiert doch die Magna Charta Libertatum, auf die die Wortwahl anspielt, für das England des 13. Jahrhunderts die Wasserscheide zwischen der Monarchie des Feudalismus und der konstitutionellen Verfassung dieser Staatsform, die langfristig im Rückblick als die Geburtsstunde der modernen Demokratie erscheint.
Die 50. Wiederkehr der kalendarischen Daten des konziliaren Prozesses der Jahre 1959 bis 1965 ist uns Anlass zur Rückbesinnung auf die und zur Wiederbelebung der Dynamik, die diesen Prozess als Jahrhundertereignis bestimmt hat. Im Streit um die richtige Interpretation der Konzilsdokumente mag man mit Giuseppe Alberigo, dem prominenten Chronisten des Vatikanum II, die Unterscheidung zwischen einer Hermeneutik der Diskontinuität bzw. des Bruches und einer Hermeneutik der Reform, die Papst Benedikt XVI. in seiner Ansprache an das Kardinalskollegium vom 22. Dezember 2005 vorgenommen hat, für elegant und wertvoll halten. Uns beschleicht jedoch der begründbare Verdacht, dass in diesen Formulierungen Papst Benedikts mehr die restaurativ getönte Diagnose der nachkonziliaren Entwicklung in der Kirche durchschimmert, die der Kardinal Ratzinger nicht erst als Präfekt der Glaubenskongregation vorgenommen hat, am deutlichsten nachlesbar im Epilog seiner Theologischen Prinzipienlehre, zweite unveränderte Auflage 2005. Nicht nur der Präfekt der Glaubenskongregation, auch der Papst Josef Ratzinger hat darüber hinaus durch markante Entscheidungen und Interpretationen verbreitet Zweifel daran aufkommen lassen , ob eine intentionsgerechte Umsetzung der Zielsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom erwünscht ist und wirksam vorangetrieben wird.
Um dies zu prüfen, wollen wir einige Marksteine des konziliaren Prozesses von 1959 bis 1965 in Erinnerung rufen.
Man kann durchaus sagen, dass eine der wesentlichen Aufgaben des Konzils, die Papst Johannes XXIII. als Auftraggeber der Bischofsversammlung stellte, darin bestand, den großen Sprung vorwärts zu wagen von der europäisch geprägten Verfassung der Kirche zu einer Gestalt, die den einer Weltkirche gestellten Herausforderungen gewachsen sein und ein neues Pfingsten darstellen würde. Die Tiefe des Einschnitts in der Geschichte der Kirche allein durch diese Aufgabenstellung ist zunächst schon einmal an der Tatsache zu ermessen, dass Johannes XXIII. als Papst die Einberufung eines ökumenischen Konzils dazu für erforderlich hielt, obwohl man nach den Entscheidungen des Vatikanum I eine solche Einberufung hätte für überflüssig halten können.
Auch die Eröffnungsansprache, in der Johannes XXIII. die Aufgabe des Konzils umriss, ließ weit über die Grenzen der römisch-katholischen Christenheit aufhorchen, weil sie von dem Bewusstsein der Notwendigkeit eines epochalen Wandels im Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche geprägt war. Bewusst gab der Papst die Leitlinien in der Unterscheidung zwischen den unveränderlichen und den der Veränderung bedürftigen Bestandteilen der Glaubensvermittlung vor, die eine tiefgreifende Problematisierung des Traditionsverständnisses initiierte.
Dieser Problemaufriss ermunterte in der ersten Sitzungsperiode eine deutliche Mehrheit der Konzilsväter – gestützt auf die Sympathie des Papstes – dazu, die konkrete Programmatik der Konzilsarbeit gegenüber dem Tenor der vorbereiteten Beschlussvorlagen signifikant zu verändern.
Schon darin äußerte sich ein eigener „Geist des Konzils“, der von der Mehrheit der Konzilsväter als deutlicher Fingerzeig des Heiligen Geistes verstanden wurde und sehr schnell konkretes Profil gewann. Dieser Geist bestimmte wesentlich die Entstehungs- und Formungsgeschichte der Beschlüsse, die als Früchte der Beratungen auch durch die Zustimmung des Papstes mehr oder weniger verbindliche Gesetzeskraft erlangten.
Wollte man das inhaltliche Profil dieses Konzilsgeistes näherhin bestimmen, so geben folgende Stichworte die Hauptkriterien für die inhaltliche Erörterung ab:
-
Die Orientierung am Auftrag und an der Armut Jesu im Selbstbild und ihre Konsequenzen für das Erscheinungsbild der Kirche (Kollegialität, gemeinsames Priestertum aller Gläubigen, Option für die Armen).
-
Die einladende – pastorale(im Sinne von „Gaudium et Spes“) – Formulierung der Glaubensüberlieferung als Heilsangebot in den Nöten und Kämpfen der heutigen Menschheit (Aggiornamento)
-
Die Betonung der Übereinstimmungen im vielstimmigen christlichen Glaubenszeugnis (Ökumenismus) und gezielte Überwindung des Skandals der Spaltungen durch klärenden Dialog.
-
Die positive Öffnung zu anderen religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen mit der Bereitschaft, im Gespräch mit ihnen für die Verdeutlichung der eigenen Glaubensüberzeugung zu lernen.
Dieses nur grob umrissene inhaltliche Profil barg schon auf dem Konzil erheblichen Zündstoff, der in den Beratungen zu krisenhaften Zuspitzungen und Fronstellungen führte, die oft nur durch mühsame und ermüdende – im Rückblick oft zweifelhafte – Kompromissbildungen einer befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten. Dies ist für die Einschätzung der nachkonziliaren Entwicklung von entscheidender Bedeutung.
Die in diesem inhaltlichen Profil deutlich werdende Tendenz stand in einem so radikalen Widerspruch zum vorkonziliaren Selbstverständnis und Erscheinungsbild der römisch-katholischen Kirche, dass erdbebenhafte Konvulsionen die Folge sein mussten.
Aber die Notwendigkeit zu einem solch großen Sprung nach vorn war offensichtlich angesichts der („antimodernistischen“) Schieflage, in die die Kirche der Neuzeit gemessen an der Zielrichtung des Evangeliums geraten war, das glaubwürdig zu bezeugen in Wort und Tat ihre existentielle Aufgabe durch die Zeiten ist.
Die vorkonziliare Kirche bot in ihrer Gesamtheit ein Erscheinungsbild, das weniger dem auf geheimnisvolle Weise in ihr fortlebenden Christus, als vielmehr einem feudalistischen Herrschaftssytem des Mittelalters, zuletzt gar nach dem Ersten Vatikanischen Konzil und seinen torsohaften Ergebnissen einer letzten Bastion des : neuzeitlichen Absolutismus glich, in dem nur noch der Papst sagen konnte: „Die Kirche, das bin ich!“
Insofern war die Programmatik des Konzils notwendig ein Abschied von dieser imperialen Gestalt der Kirche, die mehr von den Strukturen des Römischen Reiches und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – bis in Details – geprägt war als von der neutestamentlichen Verfassung der Kirche. Die Rückbesinnung auf diese konnte auf diesem Konzil zum Teil nur gegen erbitterten Widerstand einer hartnäckig und mit zweifelhaften Methoden agierenden Minderheit letztlich nur eingeschränkt durchgesetzt werden, aber sie findet sich irreversibel in den Ergebnissen.
Dennoch gebärdet sich der Geist dieser Minderheit in der nachkonziliaren Zeit zunehmend unverfroren als einzig legitimer Repräsentant der wahren Kirche Christi.
Bestürzend ist für uns, welches Maß an Aufmerksamkeit den Vertretern dieses Geistes geschenkt wird, weil er angeblich zu Recht auf offene Wunden des nachkonziliaren Prozesses hinweise.
Dagegen glauben wir, dass weder eine halbherzige Reform noch die Rückkehr zu vorkonziliarer Intransigenz die derzeitigen Probleme der Kirche lösen werden, sondern auf Dauer nur eine strikte Einhaltung und volle Anwendung der Magna Charta des Konzils, d.h. die beherzte und entschlossene Fortsetzung des Kurses, den die große Mehrheit der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils gewiesen hat:
Wandelt Euch durch eine neues Denken ( Röm 12,2) und
Löscht den Geist nicht aus(1 Thess 5,19)!
Ein Plädoyer für den Mut zur „Autorität der Freiheit“ an Stelle der Freiheit der Autorität.
von Heinz-Theo Arntz
Die Kennzeichnung der Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962-1965 als Magna Charta durch die Sondersynode der Bischöfe im Rom des Jahres 1985 aus Anlass der 20. Wiederkehr des Konzilsabschlusses ist nicht schlecht gewählt, markiert doch die Magna Charta Libertatum, auf die die Wortwahl anspielt, für das England des 13. Jahrhunderts die Wasserscheide zwischen der Monarchie des Feudalismus und der konstitutionellen Verfassung dieser Staatsform, die langfristig im Rückblick als die Geburtsstunde der modernen Demokratie erscheint.
Die 50. Wiederkehr der kalendarischen Daten des konziliaren Prozesses der Jahre 1959 bis 1965 ist uns Anlass zur Rückbesinnung auf die und zur Wiederbelebung der Dynamik, die diesen Prozess als Jahrhundertereignis bestimmt hat. Im Streit um die richtige Interpretation der Konzilsdokumente mag man mit Giuseppe Alberigo, dem prominenten Chronisten des Vatikanum II, die Unterscheidung zwischen einer Hermeneutik der Diskontinuität bzw. des Bruches und einer Hermeneutik der Reform, die Papst Benedikt XVI. in seiner Ansprache an das Kardinalskollegium vom 22. Dezember 2005 vorgenommen hat, für elegant und wertvoll halten. Uns beschleicht jedoch der begründbare Verdacht, dass in diesen Formulierungen Papst Benedikts mehr die restaurativ getönte Diagnose der nachkonziliaren Entwicklung in der Kirche durchschimmert, die der Kardinal Ratzinger nicht erst als Präfekt der Glaubenskongregation vorgenommen hat, am deutlichsten nachlesbar im Epilog seiner Theologischen Prinzipienlehre, zweite unveränderte Auflage 2005. Nicht nur der Präfekt der Glaubenskongregation, auch der Papst Josef Ratzinger hat darüber hinaus durch markante Entscheidungen und Interpretationen verbreitet Zweifel daran aufkommen lassen , ob eine intentionsgerechte Umsetzung der Zielsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom erwünscht ist und wirksam vorangetrieben wird.
Um dies zu prüfen, wollen wir einige Marksteine des konziliaren Prozesses von 1959 bis 1965 in Erinnerung rufen.
Man kann durchaus sagen, dass eine der wesentlichen Aufgaben des Konzils, die Papst Johannes XXIII. als Auftraggeber der Bischofsversammlung stellte, darin bestand, den großen Sprung vorwärts zu wagen von der europäisch geprägten Verfassung der Kirche zu einer Gestalt, die den einer Weltkirche gestellten Herausforderungen gewachsen sein und ein neues Pfingsten darstellen würde. Die Tiefe des Einschnitts in der Geschichte der Kirche allein durch diese Aufgabenstellung ist zunächst schon einmal an der Tatsache zu ermessen, dass Johannes XXIII. als Papst die Einberufung eines ökumenischen Konzils dazu für erforderlich hielt, obwohl man nach den Entscheidungen des Vatikanum I eine solche Einberufung hätte für überflüssig halten können.
Auch die Eröffnungsansprache, in der Johannes XXIII. die Aufgabe des Konzils umriss, ließ weit über die Grenzen der römisch-katholischen Christenheit aufhorchen, weil sie von dem Bewusstsein der Notwendigkeit eines epochalen Wandels im Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche geprägt war. Bewusst gab der Papst die Leitlinien in der Unterscheidung zwischen den unveränderlichen und den der Veränderung bedürftigen Bestandteilen der Glaubensvermittlung vor, die eine tiefgreifende Problematisierung des Traditionsverständnisses initiierte.
Dieser Problemaufriss ermunterte in der ersten Sitzungsperiode eine deutliche Mehrheit der Konzilsväter – gestützt auf die Sympathie des Papstes – dazu, die konkrete Programmatik der Konzilsarbeit gegenüber dem Tenor der vorbereiteten Beschlussvorlagen signifikant zu verändern.
Schon darin äußerte sich ein eigener „Geist des Konzils“, der von der Mehrheit der Konzilsväter als deutlicher Fingerzeig des Heiligen Geistes verstanden wurde und sehr schnell konkretes Profil gewann. Dieser Geist bestimmte wesentlich die Entstehungs- und Formungsgeschichte der Beschlüsse, die als Früchte der Beratungen auch durch die Zustimmung des Papstes mehr oder weniger verbindliche Gesetzeskraft erlangten.
Wollte man das inhaltliche Profil dieses Konzilsgeistes näherhin bestimmen, so geben folgende Stichworte die Hauptkriterien für die inhaltliche Erörterung ab:
-
Die Orientierung am Auftrag und an der Armut Jesu im Selbstbild und ihre Konsequenzen für das Erscheinungsbild der Kirche (Kollegialität, gemeinsames Priestertum aller Gläubigen, Option für die Armen).
-
Die einladende – pastorale(im Sinne von „Gaudium et Spes“) – Formulierung der Glaubensüberlieferung als Heilsangebot in den Nöten und Kämpfen der heutigen Menschheit (Aggiornamento)
-
Die Betonung der Übereinstimmungen im vielstimmigen christlichen Glaubenszeugnis (Ökumenismus) und gezielte Überwindung des Skandals der Spaltungen durch klärenden Dialog.
-
Die positive Öffnung zu anderen religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen mit der Bereitschaft, im Gespräch mit ihnen für die Verdeutlichung der eigenen Glaubensüberzeugung zu lernen.
Dieses nur grob umrissene inhaltliche Profil barg schon auf dem Konzil erheblichen Zündstoff, der in den Beratungen zu krisenhaften Zuspitzungen und Fronstellungen führte, die oft nur durch mühsame und ermüdende – im Rückblick oft zweifelhafte – Kompromissbildungen einer befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten. Dies ist für die Einschätzung der nachkonziliaren Entwicklung von entscheidender Bedeutung.
Die in diesem inhaltlichen Profil deutlich werdende Tendenz stand in einem so radikalen Widerspruch zum vorkonziliaren Selbstverständnis und Erscheinungsbild der römisch-katholischen Kirche, dass erdbebenhafte Konvulsionen die Folge sein mussten.
Aber die Notwendigkeit zu einem solch großen Sprung nach vorn war offensichtlich angesichts der („antimodernistischen“) Schieflage, in die die Kirche der Neuzeit gemessen an der Zielrichtung des Evangeliums geraten war, das glaubwürdig zu bezeugen in Wort und Tat ihre existentielle Aufgabe durch die Zeiten ist.
Die vorkonziliare Kirche bot in ihrer Gesamtheit ein Erscheinungsbild, das weniger dem auf geheimnisvolle Weise in ihr fortlebenden Christus, als vielmehr einem feudalistischen Herrschaftssytem des Mittelalters, zuletzt gar nach dem Ersten Vatikanischen Konzil und seinen torsohaften Ergebnissen einer letzten Bastion des : neuzeitlichen Absolutismus glich, in dem nur noch der Papst sagen konnte: „Die Kirche, das bin ich!“
Insofern war die Programmatik des Konzils notwendig ein Abschied von dieser imperialen Gestalt der Kirche, die mehr von den Strukturen des Römischen Reiches und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – bis in Details – geprägt war als von der neutestamentlichen Verfassung der Kirche. Die Rückbesinnung auf diese konnte auf diesem Konzil zum Teil nur gegen erbitterten Widerstand einer hartnäckig und mit zweifelhaften Methoden agierenden Minderheit letztlich nur eingeschränkt durchgesetzt werden, aber sie findet sich irreversibel in den Ergebnissen.
Dennoch gebärdet sich der Geist dieser Minderheit in der nachkonziliaren Zeit zunehmend unverfroren als einzig legitimer Repräsentant der wahren Kirche Christi.
Bestürzend ist für uns, welches Maß an Aufmerksamkeit den Vertretern dieses Geistes geschenkt wird, weil er angeblich zu Recht auf offene Wunden des nachkonziliaren Prozesses hinweise.
Dagegen glauben wir, dass weder eine halbherzige Reform noch die Rückkehr zu vorkonziliarer Intransigenz die derzeitigen Probleme der Kirche lösen werden, sondern auf Dauer nur eine strikte Einhaltung und volle Anwendung der Magna Charta des Konzils, d.h. die beherzte und entschlossene Fortsetzung des Kurses, den die große Mehrheit der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils gewiesen hat:
Wandelt Euch durch eine neues Denken ( Röm 12,2) und
Löscht den Geist nicht aus(1 Thess 5,19)!