Dr. theol. Willi Knecht. agente pastoral
Drittes Kapitel: Die Verkündigung des Evangeliums
Mit freudigem und liebevollem Herzen das Evangelium verkünden! Im Zentrum dieser Verkündigung steht, dass Jesus Christus der Herr ist und dass er uns durch seinen Tod und seine Auferstehung erlöst hat (110). Dies schreibt Franziskus als Einleitung für das Dritte Kapitel. Dies könnte man auch als Überschrift für seine Schreiben „Evangelii Gaudium“ verstehen. Erstaunlicherweise stellt Franziskus nicht die Worte und Taten Jesu Christi in den Mittelpunkt. Er geht vielmehr von einer Christologie aus, die im Nachhinein von Menschen und von oben her und in zeitbedingten philosophischen Begrifflichkeiten des 4. Jahrhunderts definiert wurde. Damit steht er in Kontinuität mit seinen beiden Vorgängern im Petrusamt. Seine Worte lassen auch vermuten, dass er den Tod Jesu eher als ein von Gott gewolltes Opfer versteht und weniger als Konsequenz der Worte und Taten Jesu Christi. Eine derartige Interpretation würde wenigstens die Ökumene mit den evangelisch-lutherischen Kirchen erleichtern.
I. Das ganze Volk Gottes verkündet das Evangelium
1. Ein Volk für alle
„Die Evangelisierung ist Aufgabe der Kirche (111)“. Die Kirche ist weit mehr als die hierarchische Institution. Sie ist das pilgernde Volk Gottes, das ihr „letztes Fundament in der freien und ungeschuldeten Initiative Gottes hat“. In der Praxis der lateinamerikanischen Kirche sind dies u.a. die Basisgemeinden, die an den Rändern der Gesellschaft entstehen. In ihrem existentiellen Einsatz für ein Leben in Fülle für alle und in der Nachfolge Jesu werden sie zu Inseln des Lebens inmitten des Todes. Auf diese Weise werden sie zum Zeichen des Heils für diese Welt. In ihnen wird erfahrbar, was die Liebe Gottes zu den Menschen konkret bedeutet.
Diese Zusage und Nähe Gottes gilt allen Menschen (113), selbst denen, die diese Nähe ablehnen. Gott ist es, der den ersten Schritt auf die Menschen hin unternimmt – ohne jegliche Vorleistungen und bevor die Menschen existierten. Da Gott alle Menschen ruft und sie so in Gemeinschaft vereint, kann kein Mensch ohne seinen Mitmenschen glauben und sich als Kind Gottes erfahren. Die (sichtbare) Kirche ist zwar das auserwählte Volk Gottes, sie darf aber nicht der Versuchung erliegen, sich als „exklusive Gruppe“ bzw. „Elitetruppe“ zu verstehen. Alle sind eins in Christus und aufgerufen. Eine solche Kirche ist aufgerufen, Ort der Barmherzigkeit zu sein, „das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkünden“ (114) und „gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben“.
2. Ein Volk der vielen Gesichter
Die lateinamerikanische Bischofskonferenz definiert in Puebla 1979: „Mit Kultur wird die Art und Weise bezeichnet, wie die Menschen eines Volkes ihre Beziehung untereinander, mit der Natur und mit Gott pflegen, um ein wahrhaftes und humanes Leben führen zu können“ (Kapitel 386). Dies greift Franziskus in den Abschnitten 115 – 118 auf und setzt sich damit auseinander. Es geht um die Inkulturation des Evangeliums in die verschiedenen Kulturen. Inkulturation meint, das Evangelium gemäß den jeweils verschiedenen Kulturen so zu verkünden, dass die betreffende Kultur nicht zerstört, sondern bereichert wird. Da jede Kultur auch von Gott ist und in alle Kulturen schon a priori der Same (das Wort) Gottes eingepflanzt wurde, ist dies möglich. „Die Gabe Gottes nimmt Gestalt an in der Kultur dessen, der sie empfängt (115).
Es gibt nicht ein einziges kulturelles Modell, sondern das Christentum trägt auch das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird“ (116). Erst die kulturelle Vielfalt bringt die Fülle des Evangeliums zur Entfaltung. Auf diese Weise wird die Kirche „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes 61,10). Die kulturelle Vielfalt hat ihre Einheit (Klammer) in Gott, in „der Einheit in der Heiligsten Dreifaltigkeit“ (117). „Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken.“ Daher darf nicht eine bestimmte Form der Inkulturation als allein gültiges Modell durchgesetzt werden. „Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur“. „Es ist unbestreitbar, dass eine einzige Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfend darstellt“ (118).
Nimmt man den Papst beim Wort, könnte das bis in die Dogmatik hinein (bei den relativen äußeren Strukturen erstrecht) ein ungeheuerlicher Aufbruch bedeuten. Ist das aber so gemeint? Dann wäre dies ein Bruch mit der bisherigen Praxis. Oder versteht der Papst die seit dem 4. Jahrhundert entstandene Kirche (morgen- und abendländisches Christentum in Lehre und Praxis) eben nicht als Inkulturation, sondern als die von Gott geoffenbarte Norm? So bliebe denn die Frage, ob z.B. die Trinitätstheologie, auf die sich Franziskus bei jeder Gelegenheit bezieht („das heiligste Geheimnis“) für alle Kulturen – zumal in dieser Begrifflichkeit – in gleicher Weise gültig wäre, also absoluter Maßstab. Was aber können afrikanische und indianische Völker (u.a.) denn damit anfangen?
Im Rahmen z.B. der andinen Kosmologie gäbe es Ansatzpunkte, die Rolle von Jesus dem Christus im Heils- und Weltgeschehen kreativ neu zu deuten. Dies gilt auch für die Rolle und Verantwortung des Menschen innerhalb des Kosmos bzw. im Netzwerk der Schöpfung. Der ebenfalls ganzheitliche Ansatz afrikanischer Kulturen und ihr Verhältnis zu Tod (Ahnen) und Schöpfung sowie der Beitrag asiatischer Kulturen zum Stellenwert der Gemeinschaft, der Feier und dem Verhältnis zu allen Lebewesen enthalten Werte und Sichtweisen, die nicht nur für die Kirche von unschätzbarem Wert sind, sondern die einen ethischen Wertepool zur Verfügung stellen, der für das Überleben der Menschheit unentbehrlich sein wird – als notwendige Alternative zur herrschenden „westlichen“ Denkweise. Dieser wird von den genannten Kulturen der Spiegel vorgehalten. Gemeinsame Kritikpunkte sind hier u.a. der Dualismus von weltlich – geistlich, Körper – Seele, Subjekt – Objekt, von Wort und Tat und ein übersteigerter Individualismus, der im Nächsten zuerst den Konkurrenten sieht. Ein entsprechender Dialog auf Augenhöhe wäre eine Bereicherung für die Verkündigung und die christliche Lehre, deren Reichtum und Fülle – wie Franziskus ja betont – erst dann sichtbar werden kann, wenn alle Völker und Kulturen dieser Welt ihren Beitrag dazu leisten dürfen. Sie sind sogar dazu aufgerufen, ist doch Gott der Vater und die Mutter aller Völker, auch schon vor dessen Christianisierung. (In Bezug auf den Dialog mit den Kulturen ist hier nicht eine Beliebigkeit gemeint, die sich in individualistischer Heilsperspektive – eigener Wohlstand und Wohlsein, Wellness für die gestresste Seele usw. – erschöpft.)
Rom hat aber bisher alles getan, sein eigenes Modell mit allen Mitteln allen anderen Kulturen aufzuzwängen. Bis in die Gegenwart hinein wurden und werden alle theologischen Bemühungen, bestimmte Werte anderer Kulturen zu integrieren oder zumindest zu respektieren verurteilt (u.a. die lateinamerikanische „Teología India“). Afrikanische und asiatische Synoden finden in Rom statt und folgen römischen Vorgaben. Solche Vorgaben gehen bis hinein in äußere Merkmale und Vorschriften (Zölibat, Riten, usw.), die anderen Kulturen völlig fremd sind. Besonders Benedikt XVI. belegte alles, was im selbst fremd war, mit dem Verdikt des Relativismus. Franziskus dagegen sagt: „Manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur“ (117). Genau dies ist bis heute geschehen, mit verheerenden Folgen für die Evangelisierung und vor allem die betroffenen Menschen. Franziskus lehnt die Durchsetzung einer bestimmten Kultur aber ab – „so schön und alt sie auch sein mag“.
Weiß Franziskus, was er da eigentlich losgetreten hat, oder ist alles nur ein Missverständnis? Sicher ist aber, dass er auf einer Dezentralisierung der Weltkirche besteht. Das bedeutet mehr Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Ortskirchen weltweit. Selbst wenn man dies zuerst als eine administrative Maßnahme verstehen mag, wird sich dies konsequenterweise nicht darauf beschränken lassen können und wird eine Eigendynamik entwickeln (die nicht „automatisch“ positiv sein muss). Die Frage bleibt, ob „unsere“ Bischöfe genügend darauf vorbereitet und eingestellt sind. Sie werden dies auch nur zusammen mit dem Volk Gottes vor Ort tun können und dürfen. Es könnte sich auch deswegen für eine Überforderung der Bischöfe handeln, weil eine der zentralen „Zulassungsbedingen“ für das Bischofsamt, der demonstrativ gezeigte Gehorsam gegenüber Rom war. Das Volk Gottes, das selbst Träger im vollen Sinne der Evangelisierung ist, muss es als seine seelsorgerische Aufgabe betrachten, dem (leitendem) Klerus zu helfen, sich aus dieser selbstgewählten „Gefangenschaft“ zu befreien.
3. Alle sind wir missionarische Jünger
Das Volk Gottes, die Gemeinschaft aller Getauften, ist in wesentlichen Fragen des Glaubens unfehlbar. Es hat die Gabe, „das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt“ (119), weil in ihm der Geist Gottes gegenwärtig ist. Das ist keine Relativierung des bisherigen Verständnisses. Das Dogma von der Unfehlbarkeit (1870) sagt nichts anderes. Der Papst kann nur dann eine Glaubenswahrheit für (im Glauben) unfehlbar erklären, wenn er im Namen des gesamten Volkes Gottes handelt. Das Problem entsteht bis heute dann, wenn Päpste von Menschen gemachte und daher zeitbedingte Ordnungen als unfehlbares Glaubensgut des Volkes Gottes, als „göttliche Ordnungen“ verkünden. Ein Papst wird dann übergriffig, wenn er kraft Amtes z.B. die Diskussion um das Diakonat der Frau für lehramtlich geklärt verordnet. Dazu gehören auch einige Fragen der Sexualmoral, des Zölibats usw. Werden diese von Menschen gemachten Ordnungen (z.B. die Zulassungsbedingungen zum Priesteramt) zu göttlichen Ordnungen erhoben, muss man entsprechend der Lehre der Kirche von einer Häresie sprechen, von einer schwerwiegenden Verfehlung. Und dies erstrecht, wenn das Volk Gottes noch nicht einmal befragt worden war.
Wer unterscheidet letztlich, was wirklich von Gott kommt? Das ist in der Tat keine einfache Frage, die daher einer immerwährenden Diskussion bedarf. Oder wissen denn Papst und Bischöfe kraft Weihe, was der Wille des Volkes ist? Und wäre dies so, wäre dies nicht Leninismus in Reinform oder zumindest ein tief magischer Glaube. Die Bischöfe repräsentieren zusammen mit dem Klerus maximal 0,001% der Getauften. Das bedeutet umgekehrt noch nicht, dass 99,999% immer recht haben und die Frage der Wahrheitsfindung ist keine Frage der Mathematik, noch nicht einmal der Demokratie. Aber es ist darauf zu bestehen, dass Priester und Laien nur zusammen das Volk Gottes und wir nur alle zusammen auf der steten Suche nach Wahrheit sind. Niemand besitzt diese Wahrheit, denn dann wäre er Gott.
Folgendes Beispiel zeigt, wie weit die Verwirrung schon fortgeschritten ist: Wenn ein Bischof nur andeutet (wie z.B. zuletzt Erzbischof Zollitsch), der Zölibat sei schließlich kein Dogma, gilt das bei den einen schon als Revolution, bei den anderen als Abfall von der Kirche. Dabei ist diese Aussage eine Selbstverständlichkeit. Es gibt aber Bischöfe und Kardinäle, die sagen: „Selbst wenn wir wollten, könnten wir dies …. nicht verändern. Denn Gott selbst hat die Kirche so gewollt wie sie ist“. Papst Franziskus steht vor der großen Herausforderung, diesen Unglauben zu überwinden.
„Jeder Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist“ (120). Wichtigste Eigenschaft, um Missionar zu sein, ist die Liebe – die jeder Mensch von Gott empfangen hat und die er nun an seine Mitmenschen weitergibt. Gerade die „einfachen“ Leute sind oft befähigter als die „Gelehrten“. Denn es bedarf keine langen Vorbereitung, um missionarische Jüngerin zu werden. Einfache Fischer haben die Worte Jesu verstanden, sind seinem Ruf gefolgt und wurden zu Menschenfischern. Und im Johannesevangelium sind es vor allem Frauen, die als Erste verstehen… (z.B. die Auferstehung). Franziskus bleibt aber bei diesen biblischen Beispielen stehen. Vereinfacht gesagt: Man muss nur Jesus begegnet sein, und alles ist klar, alles wird neu. Sagen dies aber nicht auch alle „wieder erweckten Christen“? Deswegen ist diese Aussage noch nicht falsch, aber welche Praxis und Theologie haben oft gerade diese Wiedererweckten? Ihre Weltanschauung widerspricht oft diametral dem, was die katholische Kirche lehrt. Der Papst hätte hier zumindest darauf hinweisen müssen. Es wäre naheliegend gewesen, auf andere Beispiele hinzuweisen. Am Beispiel von Basisgemeinden wird deutlich, dass auch heute Menschen, die ein offenes Herz haben und die Hunger haben nach Gott und nach dem täglichen Brot, die Ersten sind, die den Ruf Gottes verstehen und sich mit Jesus auf den Weg machen. Sie klagen die herrschenden Missstände an, stehen dagegen auf, leisten Widerstand und verkünden auf diese Weise eine neue Erde, auf der kein Kind mehr verhungern muss.
Bei aller verständlichen Relativierung der wissenschaftlichen Theologie bleibt dennoch festzuhalten, dass jeder Getaufte auch Rechenschaft ablegen können sollte über das, was er glaubt und warum er glaubt. Es geht um das „ewige“ Problem des Verhältnisses von Glaube und Vernunft. Zudem darf nicht außer acht gelassen werden, dass im Volk Gottes, in den Gemeinden und bei der Jugend, das Basiswissen über Grundfragen des Glaubens einen dramatischen Schwund erlebt – und dies trotz Milliardenaufwendungen für Bildungshäuser und Schulen.
„Wir müssen uns alle gefallen lassen, dass die anderen uns ständig evangelisieren (121). Jeder Verkünder bedarf selbst der steten Evangelisierung ohne abzulassen, weiterhin zu evangelisieren. Wer brennt, kann nicht anders, als andere anzustecken und bedarf doch immer wieder neu der eigenen Ansteckung. Der Papst verzichtet an dieser Stelle darauf, auf ein Grundaxiom der katholischen Lehre hinzuweisen, z.B. in Gaudium et spes und den Dokumenten der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen: Die Armen evangelisieren uns. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine pastorale Methode, sondern um eine grundlegend biblische und theologische Aussage.
Es folgt dazu eine Zusammenfassung zentraler Aussagen von Gaudium et spes: Die „Zeichen der Zeit“ sind heute Menschen, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen, denen man ein „Leben in Fülle“ vorenthält, die ausgegrenzt und diskriminiert werden. Sie sind „die Anderen“ und sie sagen uns wer und wo Gott zu finden ist. Wir begegnen Gott („dem ganz Anderen“) in diesen Menschen, in ihren existentiellen Bedürfnissen, in ihrem Hunger nach Brot und nach Gott, in ihrem Streben nach einem Leben in Würde. Sie sagen uns, was Gott heute uns sagen will und an uns liegt es, diese Zeichen der Zeit wahrzunehmen und als Wort Gottes zu hören und zu deuten. Die Zeichen der Zeit deuten heißt auch, dass Gott einen sehr konkreten Ort (Topos) hat. Er identifiziert sich mit den Hungernden (u.a.), von dort aus spricht er zu uns. Nicht die Frage: Wer ist Gott? sondern wo ist Gott (im „zerfetzten Körper eines Kindes“?) ist die entscheidende Frage. Die Kirche (wir alle, auch Papst und Bischöfe) muss in diesem Sinne Gott erst entdecken und dies immer wieder neu, sie hat ihn nicht, erst recht kann sie ihn nicht definieren und verwalten, auch nicht qua Institution bzw. Amt. Eine Kirche, die den Menschen dient, muss diese Orte erst entdecken, sie muss aufbrechen und sich auf den Weg machen – erstrecht, wenn sie in der „Wohlstandsgesellschaft“ derart fest verankert ist, dass sie von dieser kaum zu unterscheiden ist. Sie muss ausziehen, nach draußen gehen, vor die Tür – dann wird sie zur Gemeinschaft derer, für die Jesus der Messias ist. Das wäre dann echte Erneuerung und dies wäre die vorrangige Aufgabe jeder Evangelisierung.
4. Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit
In den Abschnitten 122 – 126 beschäftigt sich Franziskus mit der (lateinamerikanischen) Volksfrömmigkeit. Er sieht sich selbst in dieser Volksfrömmigkeit verwurzelt und von daher lässt er sich auch besser verstehen. „Man kann sagen: »Das Volk evangelisiert fortwährend sich selbst.« Hier ist die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein authentischer Ausdruck des spontanen missionarischen Handelns des Gottesvolkes ist“ (122). Jedes (evangelisierte) Volk ist Träger und Vermittler der Weitergabe des Glaubens – auf je eigene Weise. Hier bringt Franziskus die Volksfrömmigkeit ins Spiel. Was aber meint er, was versteht er darunter – wo er doch selbst auf viele Gefahren und Fehlentwicklungen hinweist (siehe 69, 70). Ist z.B. das vor allem in Lateinamerika noch sehr verbreitete magische Priesterbild (Priester als Mittler etc.) nun eine Fehlentwicklung oder Teil der göttlichen Offenbarung? Benedikt XVI. hat darauf hingewiesen, dass in der Volksfrömmigkeit „die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt“ (123). Gleichzeitig (ebenfalls in Aparecida, 2007) hat er gesagt, dass die amerikanischen Völker mit Sehnsucht darauf gewartet hätte, das Evangelium kennen zu lernen. Paul VI. schreibt in „Evangelii nuntiandi“, dass in der Volksfrömmigkeit ein Hunger nach Gott zum Ausdruck kommt.
In der Folge fasst Franziskus die wesentlichen Aussagen über die Volksfrömmigkeit zusammen wie sie in der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Aparecida (2007) veröffentlicht worden sind. „Im Dokument von Aparecida werden die Reichtümer beschrieben, die der Heilige Geist in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichen Initiative entfaltet“ (124). „Sie ist nicht etwa ohne Inhalte, sondern sie entdeckt und drückt diese mehr auf symbolischem Wege als durch den Gebrauch des funktionellen Verstandes aus“. Insbesondere in der noch sehr lebendigen Tradition der Wallfahrten sieht er das pilgernde Volk Gottes auf dem Weg. Die Volksfrömmigkeit deutet er als Saat des Hl. Geistes in Synthese mit den ansässigen Kulturen. Bemerkenswert ist, das Benedikt XVI. diese Synthese bzw. Vermischung verschiedener Traditionen und Glaubensformen, sogar von Glaubensinhalten, nicht als Relativismus brandmarkt. Die Volksfrömmigkeit wird vielmehr, auch bei Franziskus, als wirksamer Schutzwall gegen eine zunehmende Säkularisierung aller Bereiche gesehen.
Im Dokument von Aparecida (Nr. 259) ist eine Aufzählung von typischen Merkmalen der Volksfrömmigkeit zu finden: „Zu den Ausdrucksformen dieser Spiritualität zählen Patronatsfeste, Novenen, Rosenkranz und Kreuzweg (via crucis), Prozessionen, Tänze, religiöse Volkslieder, die Vorliebe für Heilige und Engel, Gelübde und Familiengebete. Die Wallfahrten heben wir besonders hervor: da ist das Volk Gottes auf dem Weg“.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass der Papst die Volksfrömmigkeit als einen „theologischen Ort“ versteht. Ohne dessen Berücksichtigung und Wertschätzung kann eine neue Evangelisierung nicht gelingen. Ein Vergleich zur kirchlichen Situation in Deutschland zeigt worum es geht: Auch bei uns gibt es viele volkskirchliche Traditionen, die man aus einer gewissen intellektuellen Überheblichkeit heraus bestenfalls als Folklore bezeichnen könnte: Taufe, Erste Kommunion, Firmung, Ehe, kirchliche Feste, Gemeindefeste, Einweihungen etc. werden oft begangen oder gefeiert, ohne die Inhalte wirklich zu kennen oder zu beachten oder zu wissen (rational) warum. Auch eine Neu-Evangelisierung in Deutschland müsste aber zuerst davon ausgehen, wie die Menschen ihren Glauben leben und feiern, was ihnen wichtig ist. Umgekehrt darf es nicht dabei bleiben oder gar, aus Angst, etwas zu verlieren, nur noch das zu tun, was „geht“, bzw. um die Wenigen nicht auch noch (auch aus kirchensteuerlichen Gründen) zu verprellen.
5. Von Mensch zu Mensch
Wie evangelisieren? Wie Zeugnis ablegen von seinem Glauben? Wie etwas von der Freude der Frohen Botschaft weitergeben an andere, vornehmlich Suchende? das sind die Fragen in den Abschnitten 127 – 129. Des Papstes erste Antwort: Von Mensch zu Mensch! Im Alltag, in alltäglichen Begegnungen, mit Nachbarn, in Hausbesuchen, im Beruf – überall gibt es Gelegenheiten zur Evangelisierung. Der Papst nennt dies „informelle Verkündigung, die man in einem Gespräch verwirklichen kann“ (127).
Das persönliche Gespräch ist der erste Schritt dieser Verkündigung (128). Einmal ins Gespräch verwickelt, kann man beginnen, das Wort Gottes vorzustellen (Schriftlesung). Ideal ist es, wenn man das Gespräch dann mit einem gemeinsamen Gebet abschließen kann. Unwillkürlich erinnert das an die Praxis der Zeugen Jehovas (ohne dies damit abtun oder gering schätzen zu wollen). Aber wie realistisch ist dies z.B. in Deutschland und auch anderswo? Wo doch selbst engagierte Christen kaum in der Lage sind, untereinander über ihren Glauben zu sprechen, geschweige denn Fremde anzusprechen. Von vielen Christen wird dies mit Recht als ein schmerzliches Defizit empfunden.
6. Charismen im Dienst der evangelisierenden Gemeinschaft
„Der Heilige Geist bereichert die ganze evangelisierende Kirche auch mit verschiedenen Charismen“ (130). In der Folge verweist der Papst darauf, dass Charisma sich als echt erweist, wenn es sich in einer Gemeinschaft von Gläubigen (Kirche) bewährt. Die Vielfalt der Geister und Kulturen erweist sich als Chance für mehr Dynamik, Vielfalt statt Einfalt. Der Papst warnt vor einem Rückzug „in seine eigenen Partikularismen“ (131). Denn sonst Spaltung droht Spaltung und Unfriede.
7. Die Welt der Kultur, des Denkens und der Erziehung
Die abschließenden Abschnitte 132 – 134 handeln von der Begegnung zwischen dem Glauben und der Vernunft. Franziskus ermahnt die Theologen, sich in den Dienst der Verkündigung und der Heilssendung zu stellen „und sie sich nicht mit einer Schreibtisch-Theologie zufrieden geben“ (133). Die Theologie soll helfen, das Evangelium in verschiedenen Kontexten, Kulturen etc. zum Blühen bringen, d. h. die wissenschaftliche Vorarbeit und Begleitung zu leisten. Besonders die Universitäten und katholischen Schulen stellen einen sehr wertvollen Beitrag zur Evangelisierung der Kultur dar“ (134).
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Zusätzlicher Kommentar
Der Begriff „Evangelisierung“ wird in vielfältigster Weise gebraucht und missbraucht. Vor allem in charismatischen Bewegungen innerhalb der Kirchen wird in einer Weise evangelisiert, die zu Spaltungen und Ausschluss führt. Dies trifft auf alle Erdteile zu, besonders auf die „jungen Kirchen“ in Afrika und Lateinamerika, aber auch in den USA. Auch der Vatikan und die ausgewechselten Kirchenleitungen in Lateinamerika haben Konzepte der Evangelisierung entwickelt, die im Gegensatz zu dem stehen, was das Konzil, Papst Paul VI. mit „Evangelii nuntiandi“ und in beispielhafter Weise die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen erarbeitet und in die Praxis umgesetzt haben. Leider geht Papst Franziskus nicht auf die genannten Herausforderungen ein. Deswegen wird an dieser Stelle ansatzweise und in Textauszügen dargestellt, was die lateinamerikanische Kirche ausgehend vom Konzil unter Evangelisierung versteht, in folgenden Stichworten:
Unterscheidung zwischen Evangelisierung in Deutschland und Lateinamerika (verschiedene Standorte – aber zwei Seiten einer Medaille); Unterscheidung zwischen befreiender Evangelisierung und Re-Evangelisierung (Rom).
Das Dok. der peruanischen Bischofskonferenz „Evangelización“ von 1973 wurde maßgebend für die Kirche in Lateinamerika. Bei der Erarbeitung des Dokuments (wie schon u.a. in Medellín) waren die Erfahrungen einer befreienden Praxis in der Diözese Cajamarca seit 1962 von entscheidender Bedeutung.
Auszüge:
1.) In Deutschland wird der Begriff „Evangelisierung“ in der Regel anders verstanden als in Lateinamerika. Evangelisierung im christlichen Abendland wird immer noch vorrangig als Weitergabe des bisherigen Glaubens verstanden und meint damit vor allem die Hinführung zum Glauben und dessen Einübung. Daher richtet sich diese Evangelisierung zuerst an Kinder und Jugendliche. Die Sakramentenpastoral, vor allem die Vorbereitung auf Eucharistie und Firmung, steht deshalb im Mittelpunkt der Pastoralarbeit deutscher Gemeinden. Ideologisch aber wird der Begriff der Evangelisierung, wenn man darunter eine Neu- Evangelisierung Europas unter katholischer (besser: römischer) Vorherrschaft versteht.
Zwar haben einige deutsche Pastoraltheologen die Defizite einer Konzentration auf die Sakramentenpastoral und einer damit verbundenen klerikalen Fixiertheit erkannt, doch wie sie selbst sagen, finden ihre Erkenntnisse und Anstöße z.B. in den Seelsorgeplänen deutscher Diözesen und in den Gemeinden selbst wenig Gehör. „Es stehen sich zwei grundverschiedene Konzepte gegenüber: Auf der einen Seite gibt der immer größere Personal-, vorab Priestermangel den Ausschlag… Auf der anderen Seite wird insistiert, dass die Pastoral ihre Tagesordnung von den Herausforderungen der Gegenwart bestimmen lassen müsse“.(1) Um zu verstehen, was z.B in der Diözese Cajamarca mit Evangelisierung gemeint ist, muss deutlich gemacht werden, was mit Evangelisierung vorrangig nicht gemeint ist:
Es geht nicht zuerst um bestimmte Initiationsriten entsprechend den Anforderungen einer christlich-abendländischen Christenheit, eine Einführung von Kindern und Jugendlichen in die Sitten und Gebräuche der (noch) herrschenden Kultur.
Es geht nicht um eine bessere Anbindung bzw. Unterwerfung unter die (amts-) kirchlichen Vorgaben einer individuellen Moral mit einem entsprechend individuellen Sündenbewusstsein; aber auch nicht um ein „Evangelium light“, das auf beliebige Weise geplagten Wohlstandsbürgern zu seelischen Erbauungen verhilft.
Es geht nicht um eine Wiedergewinnung der ehemals politischen Macht der Kirche und eine damit verbundene christliche Re-Kolonialisierung des Abendlandes.
Es geht nicht darum, in einer säkularisierten Welt Nischen und Nester zu bauen, in denen es sich guten Gewissens angenehm überwintern (und träumen) lässt.
Mit anderen Worten: es geht nicht um eine Einführung in die global herrschende Religion der Sieger und deren Götzen, sondern es geht um deren Entlarvung als Mächte des Todes und um die Verkündigung der befreienden Botschaft Jesu.
2.) Die neue Evangelisierung in Lateinamerika geht von dem Armen aus, dem unter die Räuber Gefallenen, dem Anderen als eigenständiges und gleichberechtigtes Subjekt. Sie hat die Ankündigung des Reiches Gottes und die damit verbundene Umkehr als Ziel, sowie ein neues Leben in einer neuen Gemeinschaft. In dieser Evangelisierung bringt sich der Verkünder existentiell mit ein, er wird dadurch ein anderer, er wird selbst evangelisiert. Jeder Getaufte hat den Auftrag zur Verkündigung, jeder Christ ist berufen, die Botschaft Jesu zu verkünden.
Im Unterschied dazu wird in Peru spätestens seit 1992 verstärkt von einer „Neuen Evangelisierung“ gesprochen. Dies geht auf Papst Johannes Paul II. zurück, der die Feier zu „500 Jahre Evangelisierung in Amerika“ zum Anlass nahm, um zur neuerlichen Evangelisierung des Kontinents aufzurufen. Die Neue Evangelisierung läuft Gefahr, sich in ein Produkt des Freien Marktes zu verwandeln, in einen Slogan. Von welcher neuen Evangelisierung sprechen wir? Sind wir wirklich bereit, etwas zu ändern? Diese neue Evangelisierung scheint alle zu begeistern, sie dient in Wirklichkeit nur dazu, das wirklich Neue zu verhindern, von dem das Evangelium spricht. Es handelt sich um einen eher triumphalistischen Kreuzzug, um für die Kirche das verlorene Terrain wiederzugewinnen. Man benutzt dazu extensiv die modernen Medien, mit Programmen aus Europa oder den USA. Die erste Evangelisierung kam zu Pferde’, die neue Evangelisierung kommt via Satellit. Zu beachten ist ebenfalls, dass zumindest in Peru das Wort von einer „Neuen Evangelisierung“ praktisch als Waffe benutzt wird, um die seit 1962 begonnene Evangelisierung im Geiste des Konzils zu diskreditieren. Die in Peru so verstandene „Neue Evangelisierung“ entspricht nicht dem Dokument der peruanischen Bischöfe „Evangelización“, in dem die biblischen Aspekte der Evangelisierung und der ihr innewohnenden Option für die Armen herausgearbeitet werden: „Evangelisieren heißt, die Frohe Botschaft zu verkünden und alles dafür zu tun, dass diese Botschaft die geschichtliche und soziale Effizienz hat, um die Welt in diesem Sinne transformieren zu können“. (2)
Der von Rom initiierten „Neuen Evangelisierung“ geht es zuerst um die neuerliche Durchsetzung römischer Vorschriften und des römisches Rechts. Deren Durchsetzung hätten Bischöfe wie Dammert u.a. vernachlässigt – so Vorwürfe der „Römer“ – und deswegen sei nun die Kirche in Lateinamerika in die Defensive geraten. Diese „Neue Evangelisierung“ will in die Spur der ersten Evangelisierung zurückfinden – zwar ohne Schwert, aber weiter ohne Anerkennung des Glaubens und der Kultur der alten Völker Amerikas. Es geht in Wirklichkeit um eine unverfälschte Transplantation der römischen Kirche in die jeweiligen Kulturen, weltweit uniformiert im römischen Gewand und ohne Berücksichtigung der jeweiligen und so unterschiedlichen Kontexte.(3) Wenn nun in dieser Arbeit von Evangelisierung die Rede ist, dann ist eine Evangelisierung gemeint, wie sie in der Diözese Cajamarca auf der Basis der Dokumente des Konzils und der Beschlüsse von Medellín und Puebla geschehen ist. „Für die Kirche Perus bedeutet dies, sich auf die Seite der Unterdrückten und Unterprivilegierten zu stellen“.(4)
Für peruanische Kirchenhistoriker beginnt die wahre Evangelisierung Perus 1958, als sich die peruanische Bischofskonferenz entschloss, eine Sozialwoche im Januar 1959 abzuhalten. Dieses Ereignis wurde von Bischof José Dammert organisiert. Es zeichnete sich dadurch aus, dass sich die peruanische Kirche erstmals der gesamten Gesellschaft öffnete und durch seine Forderung, die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Änderungen in der Gesellschaft durchzuführen. In der Abschlussansprache sagte Kardinal Landázuri: „Die Kirche stellt sich offen auf die Seite derer, die mit aller Entschlossenheit nach einer gerechteren und sozialeren Ordnung schreien“. Es waren Bischöfe wie Dammert, Luis Vallejos und andere, die für diese neue Evangelisierung stehen, wie sie dann auch in Cajamarca und später in ganz Peru Fuß fassen konnte. Aber es waren nicht nur diese Bischöfe, es waren viele Mitarbeiter und die Campesinos selbst, die Jesu Botschaft vom Reich Gottes in Peru durch ihr Zeugnis verkündeten. Damit die Kirche zur Evangelisierung beitragen kann, muss es Christinnen und Christen, Priester, Ordensfrauen, Ordensmänner und Missionare geben, die mit ganzem Herzen und ganzer Seele mitten in der Geschichte, Kultur und Realität des einfachen Volkes präsent sind. Es muss solche geben, die an Ort und Stelle den unausweichlichen Kampf um Leben und Befreiung auf sich nehmen und zum Zeugnis für das Martyrium bereit sind (Kirche der Märtyrer).
Das Evangelium als Frohe Botschaft wird notwendigerweise von den Menschen, die sich als Opfer der Geschichte und der herrschenden weltwirtschaftlichen Zwänge fühlen, anders verstanden als von den Menschen, die – ob gewollt oder nicht – zu den Nutznießern dieser Geschichte zählen. Die Botschaft Jesu trifft auf Menschen, die unterschiedliche Standorte einnehmen. Die mächtigen Ägypter haben den Ruf Gottes anders vernommen als ihre Sklaven, die Hebräer. Die Mächtigen und Hohen Priester in Jerusalem, als „Kinder Abrahams“ und daher als die bestellten und berufsmäßigen Herren des Tempels und der Wahrheit, haben die Botschaft Jesu vom anbrechenden Reich Gottes anders aufgenommen als z.B. die Aussätzigen, die Ausgegrenzten und die „Hirten von Bethlehem“. Warum sollte es heute anders sein?
3.) Die weltweite Situation der Armut und deren Ursachen werden systembedingt verdeckt. Sie wird auch von Christen verdeckt, die ihre eigenen Verwicklungen in ein System, das weltweites Elend produziert, nicht sehen wollen oder nicht können. „Diese Einstellung gegenüber den Ländern der ‚Dritten Welt’ ist gekennzeichnet durch ein Verdecken der Realität, die aus Herrschaft und Unterdrückung besteht; ein Verschleiern mit einem ideologischen Mantel, der sehr schön, aber nur Fassade ist. Was sie damit erreichen, ist die Verfälschung der Realität. Und genau dies muss aufgedeckt werden“.(5)
Dies aufzudecken ist Aufgabe einer Evangelisierung gerade in den reichen Ländern. Erst dann wird man nicht nur die Situation richtig sehen lernen, sondern auch biblisch deuten können. Wenn der Kontext von Bambamarca (Stadt – Land) als exemplarisch für die weltweite Realität gelten kann, dann bedeutet eine Analyse dieses Kontextes eine existentielle Herausforderung an die Christen in einem reichen Land. Wie schon beim sozial-politischen Kontext für Cajamarca geschehen, hilft auch hier das Beispiel des barmherzigen Samariters weiter. Christen in Deutschland befinden sich in der Situation des Priesters oder Leviten, die gewohnheitsmäßig ihren Weg zum Gottesdienst im Tempel in Jerusalem gehen. Sie können nicht sehen, dass der unter die Räuber Gefallene etwas mit ihnen zu tun haben könnte und erst recht nicht mit ihrem eigenen Glauben an Gott. Der Mensch im Straßengraben wird nicht als Mensch und nicht als Opfer erkannt. Es zählt nur das Opfer im Tempel. Jesus aber stellt diese religiöse Ordnung auf den Kopf: Es gibt nichts Wichtigeres als der Mensch im Straßengraben. Er ist das „Sakrament Gottes“ (Gutiérrez). Dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen bedeutet, den scheinbar rechten Weg des Glaubens zu verlassen. Nun gilt es aber nicht nur dem unter die Räuber Gefallenen zu helfen, sondern danach zu fragen, wie es zu dem Verbrechen kommen konnte und danach, wie die Wege beschaffen sind, die eigentlich fromme Menschen dazu verleitet – im Vertrauen auf den richtigen Weg – an den Opfern vorüber zu gehen. Wer hat mit welchem Interesse die Wege so gebaut, dass sie zwar zum Tempel in Jerusalem führen, nicht aber zu dem Menschen im Straßengraben? Es geht also darum, als Mensch „auf dem Weg“ seine Verantwortung gegenüber dem Opfer und seine eigene Verwicklung zu erkennen und seinen Weg zu ändern.(6)
4. Ist es für deutsche Gemeinden schon schwer genug, die Ursachen der Verelendung in ihren Partnergemeinden zu entdecken, so ist es noch viel schwerer, den eigenen Kontext (die Ursachen des Reichtums) zu analysieren. So wie in Peru die Menschen über Jahrhunderte hinweg von einer bestimmtem Kultur, gesellschaftlichen Konventionen und politischen Systemen geprägt wurden, so natürlich auch die Menschen in Deutschland. Mag man auch an manchem Althergebrachtem nicht mehr festhalten wollen, so ist eine grundsätzliche Kritik sehr selten oder erscheint als nahezu unmöglich. Jede Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen von der Wurzel her stellt letztlich auch jeden Einzelnen in Frage, der dann das Gefühl hat, man wolle ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Da auch die Grenzlinien zwischen Gesellschaft und Kirche kaum auszumachen sind, eine klarere Abgrenzung auch gar nicht von der Mehrheit der Gläubigen gewünscht würde, hat die (evangelische und katholische) Kirche die Kraft verloren, Alternativen aufzuzeigen oder gar Widerstand und prophetische Kritik zu üben. Eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Kontext wird noch erschwert durch die Auffassung, dass eine solche Arbeit bzw. Beschäftigung und Auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Fragen nichts mit dem persönlichen Glauben zu tun habe bzw. nicht zum Auftrag der Kirche gehöre.
Im Hören auf den „Schrei der Armen“ (Medellín) hören deutsche Gemeinden, dass Alternativen möglich sind. Wenn sie sich auf die Geschichte der Armen einlassen, entdecken sie, dass selbst jahrhundertlange Unterdrückung und gewaltsame Integration in ein koloniales und gottloses System Menschen nicht davon abhalten kann, den Aufbruch und den Auszug zu wagen. Es ist für die peruanische Gemeinden leichter aufzubrechen als für deutsche Gemeinden. Hören und Lernen heißt in diesem Zusammenhang auch, die eigene Ohnmacht zu erkennen und sich von den scheinbar Schwächeren an der Hand nehmen zu lassen. Es ist keine Schande, sich von den Armen die Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen zu lassen. Sie sind es doch, denen Gott besonders nahe steht (und umgekehrt) und mit ihnen gehen dürfen heißt, die Einladung Gottes anzunehmen und den Weg Gottes zu gehen. Es sind die „Hirten auf dem Felde“ (die Indios, Ausgegrenzte) denen sich der Himmel öffnete und denen zuerst die Botschaft von Jesus dem Messias verkündet wurde. Deutsche Gemeinden, die sich den Standpunkt ihrer Partner zu eigen machen, werden von dem neu gewonnenen Standpunkt aus ebenfalls „den Himmel schauen“ können. Dies wird nicht möglich sein, wenn sie weiterhin eingeschlossen bleiben in einem goldenen Käfig. Wer in diesem Käfig eingeschlossen bleibt, wird nur sehr schwer das Wort Gottes, das von außerhalb kommt, hören können. Begegnungen mit den Opfern der Geschichte können zum Schlüssel werden, um diesen Käfig zu verlassen und Gott auf der Seite der Armen zu entdecken. Für deutsche Gemeinden und die deutsche Kirche bedeutet dieser Weg, auf vieles zu verzichten. Doch bei genauerem Hinsehen (und Ausprobieren) wird man erfahren, dass es nur Ballast war, den man weggeworfen hat und nun frei ist, ohne Rücksicht auf Privilegien das Wort Gottes zu verkünden.
Auszüge aus: „Die Kirche von Cajamarca – die Herausforderung einer Option für die Armen“ (2004), von Willi Knecht
Fußnoten:
(1)Mette, Norbert/Steinkamp, Hermann: (Kreative) Rezeption der Befreiungstheologie in der praktischen Theologie. In: Fornet-Betancourt, Raul (Hrsg.): Befreiungstheologie I – III. Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft, Bd. 3. Mainz: Grünewald 1996. S. 25. In dem Artikel gehen die Autoren auf die Schwierigkeiten der Sozialpastoral in Deutschland (Diakonie) und auf die Unterschiede zu Lateinamerika ein. Neben diesen beiden Autoren sind Ottmar Fuchs, Leo Karrer und Norbert Greinacher die Pastoraltheologen, die für eine engagierte Sozialpastoral stehen und die sich insbesondere durch Anregungen aus Lateinamerika inspirieren lassen.
(2)Documento de la XLII Asamblea Episcopal Peruana: Evangelización – algunas lines pastorales. Enero 1973. Editorial Salesiana, Lima, Perú, 1973. Reflexion Teológica 3.1.4. S. 7.
(3) Wenn römisches Recht und Vorschriften und römische Tradition als quasi göttliche Normen missverstanden werden, wird ein Verstoß gegen diese Normen als Abkehr von Kirche und der wahren Lehre verstanden und entsprechend geahndet. Die aktuelle Diskussion um die „Teología India“ ist auf diesem Hintergrund zu sehen.
(4) Dokument der peruanischen Bischöfe: Gerechtigkeit in der Welt. 14. August 1971. Bischöfliche Aktion Adveniat: Dokumente/Projekte 10. Eine Kirche auf neuen Wegen, Essen: Selbstverlag, 1972. S. 18.
(5) Ellacuría, Ignacio: Entdeckung oder Verschleierung. In: „Die Eroberung Amerikas und wir in Europa“. Berichte und Dokumente Nr. 5. Hrsg. vom Bischöflichen Hilfswerk Misereor. Aachen: Misereorvertriebsgesellschaft, 1992, S. 133. (kursiv vom Autor).
(6) Die Daten im peruanischen Kontext zeigen, dass die Ursachen für das Elend weltweit die gleichen sind: Diskriminierung, Nichtanerkennen des Anderen, konkrete Abhängigkeiten, absoluter Vorrang wirtschaftlicher Interessen. Auch die Deutung im Lichte des Glaubens gilt weltweit: es handelt sich um einen radikalen Bruch innerhalb der Menschheit und damit mit Gott, um eine strukturelle Sünde, um Verachtung des Armen, mit dem sich Jesus identifiziert und der gekreuzigt wird. Diese Situation nicht zu sehen und an dem unter die Räuber gefallenen Menschen vorbeizugehen, bedeutet, Christus zu verleugnen (vgl. Mt 25). Eine Verschleierung dieser Realität dient der Aufrechterhaltung eines Systems, dessen Grundlage das weltweit organisierte Räubertum ist. Diesem Räubertum ist I. Ellacuría zum Opfer gefallen, der im Jahr seiner Ermordung (1989) schrieb: „Und wirklich ist die Dritte Welt zurückgelassen worden wie Christus. Aus der Sicht des Glaubens ist es das, was ich das ‚gekreuzigte Volk’ genannt habe. Das Problem ist, dass in unserer heutigen Gesellschaft die Zivilisation des Kapitals herrscht. Sie ist es, die die heutige Welt formt und den weitaus größten Teil der Welt zu einem ‚Christus’ gemacht hat“. Ellacuría: Entdeckung oder Verschleierung. S. 142.
Der Text:
DRITTES KAPITEL
DIE VERKÜNDIGUNGDES EVANGELIUMS
110. Nachdem ich einigen Herausforderungen der gegenwärtigen Situation Beachtung geschenkt habe, möchte ich nun an die Aufgabe erinnern, die uns in jeder Epoche und an jedem Ort drängt; denn »es kann keine wahre Evangelisierung geben ohne eindeutige Verkündigung, dass Jesus der Herr ist«, und ohne »den Primat der Verkündigung Jesu Christi […] wie auch immer die Evangelisierung geschehen mag«77. Johannes Paul II. hat die Sorgen der asiatischen Bischöfe aufgegriffen und bekräftigt: »Wenn die Kirche in Asien die ihr von der Vorsehung zugedachte Aufgabe erfüllen soll, dann muss die Evangelisierung als freudige, geduldige und fortgesetzte Verkündigung des Erlösungswerks des Todes und der Auferstehung Jesu Christi eure absolute Priorität sein.«78 Das gilt für alle.
I. Das ganze Volk Gottes verkündet das Evangelium
111. Die Evangelisierung ist Aufgabe der Kirche. Aber dieses Subjekt der Evangelisierung ist weit mehr als eine organische und hierarchische Institution, da es vor allem ein Volk auf dem Weg zu Gott ist. Gewiss handelt es sich um ein Geheimnis, das in der Heiligsten Dreifaltigkeit verwurzelt ist, dessen historisch konkrete Gestalt aber ein pilgerndes und evangelisierendes Volk ist, das immer jeden, wenn auch notwendigen institutionellen Ausdruck übersteigt. Ich schlage vor, dass wir ein wenig bei dieser Weise, die Kirche zu verstehen, verweilen, die ihr letztes Fundament in der freien und ungeschuldeten Initiative Gottes hat.
Ein Volk für alle
112. Das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das uns ein so großes Geschenk verdienen ließe. Aus reiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sich zu vereinen.79 Er sendet seinen Geist in unsere Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen, um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen, mit unserem Leben auf seine Liebe zu antworten. Die Kirche ist von Jesus Christus gesandt als das von Gott angebotene Sakrament des Heiles.80 Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kontrolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, als er die Überlegungen der Synode eröffnete: »Daher ist es wichtig, immer zu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun von Gott kommt, und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden.«81 Das Prinzip des Primats der Gnade muss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur Evangelisierung ständig erhellt.
113. Dieses Heil, das Gott verwirklicht und das die Kirche freudig verkündet, gilt allen82, und Gott hat einen Weg geschaffen, um sich mit jedem einzelnen Menschen aus allen Zeiten zu vereinen. Er hat die Wahl getroffen, sie als Volk und nicht als isolierte Wesen zusammenzurufen.83 Niemand erlangt das Heil allein, das heißt weder als isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft. Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigen Verlauf der zwischenmenschlichen Beziehungen berücksichtigt, den das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Dieses Volk, das Gott sich erwählt und zusammengerufen hat, ist die Kirche. Jesus sagt den Aposteln nicht, eine exklusive Gruppe, eine Elitetruppe zu bilden. Jesus sagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19). Der heilige Paulus bekräftigt, dass es im Volk Gottes »nicht mehr Juden und Griechen [gibt] … denn ihr alle seid „einer“ in Christus Jesus« (Gal 3,28). Zu denen, die sich fern von Gott und von der Kirche fühlen, würde ich gerne sagen: Der Herr ruft auch dich, Teil seines Volkes zu sein, und er tut es mit großem Respekt und großer Liebe!
114. Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in Übereinstimmung mit dem großen Plan der Liebe des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet, das Heil Gottes in dieser unserer Welt zu verkünden und es hineinzutragen in diese unsere Welt, die sich oft verliert, die es nötig hat, Antworten zu bekommen, die ermutigen, die Hoffnung geben, die auf dem Weg neue Kraft verleihen. Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.
Ein Volk der vielen Gesichter
115. Dieses Volk Gottes nimmt in den Völkern der Erde Gestalt an, und jedes dieser Völker besitzt seine eigene Kultur. Der Begriff der Kultur ist ein wertvolles Instrument, um die verschiedenen Ausdrucksformen des christlichen Lebens zu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Es handelt sich um den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaft, um die charakteristische Weise ihrer Glieder, miteinander, mit den anderen Geschöpfen und mit Gott in Beziehung zu treten. So verstanden, umfasst die Kultur die Gesamtheit des Lebens eines Volkes.84 Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie.85 Das ist darauf zurückzuführen, dass die menschliche Person »von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf«86 und immer auf die Gesellschaft bezogen ist, wo sie eine konkrete Weise lebt, mit der Wirklichkeit in Beziehung zu treten. Der Mensch ist immer kulturell beheimatet: »Natur und Kultur hängen engstens zusammen.«87 Die Gnade setzt die Kultur voraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt an in der Kultur dessen, der sie empfängt.
116. In diesen zwei Jahrtausenden des Christentums haben unzählige Völker die Gnade des Glaubens empfangen, haben sie in ihrem täglichen Leben erblühen lassen und sie entsprechend ihrer eigenen kulturellen Beschaffenheit weitergegeben. Wenn eine Gemeinschaft die Verkündigung des Heils aufnimmt, befruchtet der Heilige Geist ihre Kultur mit der verwandelnden Kraft des Evangeliums. So verfügt das Christentum, wie wir in der Geschichte der Kirche sehen können, nicht über ein einziges kulturelles Modell, sondern »es bewahrt voll seine eigene Identität in totaler Treue zur Verkündigung des Evangeliums und zur Tradition der Kirche und trägt auch das Angesicht der vielen Kulturen und Völker, in die es hineingegeben und verwurzelt wird«88. In den verschiedenen Völkern, die die Gabe Gottes entsprechend ihrer eigenen Kultur erfahren, drückt die Kirche ihre authentische Katholizität aus und zeigt die »Schönheit dieses vielseitigen Gesichtes«89. In den christlichen Ausdrucksformen eines evangelisierten Volkes verschönert der Heilige Geist die Kirche, indem er ihr neue Aspekte der Offenbarung zeigt und ihr ein neues Gesicht schenkt. In der Inkulturation führt die Kirche »die Völker mit ihren Kulturen in die Gemeinschaft mit ihr ein«90, denn »jede Kultur bietet Werte und positive Formen, welche die Weise, das Evangelium zu verkünden, zu verstehen und zu leben, bereichern können«91. Auf diese Weise wird die Kirche »zur sponsa ornata monilibus suis, „Braut, die ihr Geschmeide anlegt“ (vgl. Jes 61,10)«92.
117. Wenn sie richtig verstanden wird, bedroht die kulturelle Verschiedenheit die Einheit der Kirche nicht. Der vom Vater und vom Sohn gesandte Heilige Geist ist es, der unsere Herzen verwandelt und uns fähig macht, in die vollkommene Gemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit einzutreten, wo alles zur Einheit findet. Er schafft die Gemeinschaft und die Harmonie des Gottesvolkes. Der Heilige Geist ist selbst die Harmonie, so wie er das Band der Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn ist.93 Er ist derjenige, der einen vielfältigen und verschiedenartigen Reichtum der Gaben hervorruft und zugleich eine Einheit aufbaut, die niemals Einförmigkeit ist, sondern vielgestaltige Harmonie, die anzieht. Die Evangelisierung erkennt freudig diesen vielfältigen Reichtum, den der Heilige Geist in der Kirche erzeugt. Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken. Obwohl es zutrifft, dass einige Kulturen eng mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Entwicklung des christlichen Denkens verbunden waren, identifiziert sich die offenbarte Botschaft mit keiner von ihnen und besitzt einen transkulturellen Inhalt. Darum kann man bei der Evangelisierung neuer Kulturen oder solcher, die die christliche Verkündigung noch nicht aufgenommen haben, darauf verzichten, zusammen mit dem Angebot des Evangeliums eine bestimmte Kulturform durchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auch sein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur, und damit können wir mehr Fanatismus als echten Missionseifer erkennen lassen.
118. Die Bischöfe Ozeaniens haben gefordert, dass die Kirche dort »ein Verständnis und eine Darstellung der Wahrheit Christi entwickelt, welche die Traditionen und Kulturen der Region einbezieht«. Sie haben alle Missionare ermahnt, »in Harmonie mit den einheimischen Christen zu wirken, um sicherzustellen, dass der Glaube und das Leben der Kirche sich in legitimen, jeder einzelnen Kultur angemessenen Formen ausdrücken«.94 Wir können nicht verlangen, dass alle Völker aller Kontinente in ihrem Ausdruck des christlichen Glaubens die Modalitäten nachahmen, die die europäischen Völker zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte angenommen haben, denn der Glaube kann nicht in die Grenzen des Verständnisses und der Ausdrucksweise einer besonderen Kultur eingeschlossen werden.95 Es ist unbestreitbar, dass eine einzige Kultur das Erlösungsgeheimnis Christi nicht erschöpfend darstellt.
Alle sind wir missionarische Jünger
119. In allen Getauften, vom ersten bis zum letzten, wirkt die heiligende Kraft des Geistes, die zur Evangelisierung drängt. Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es „in credendo“ unfehlbar macht. Das bedeutet, dass es, wenn es glaubt, sich nicht irrt, auch wenn es keine Worte findet, um seinen Glauben auszudrücken. Der Geist leitet es in der Wahrheit und führt es zum Heil.96 Als Teil seines Geheimnisses der Liebe zur Menschheit begabt Gott die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens – dem sensus fidei –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt. Die Gegenwart des Geistes gewährt den Christen eine gewisse Wesensgleichheit mit den göttlichen Wirklichkeiten und eine Weisheit, die ihnen erlaubt, diese intuitiv zu erfassen, obwohl sie nicht über die geeigneten Mittel verfügen, sie genau auszudrücken.
120. Kraft der empfangenen Taufe ist jedes Mitglied des Gottesvolkes ein missionarischer Jünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die neue Evangelisierung muss ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften einschließen. Diese Überzeugung wird zu einem unmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dass niemand von seinem Einsatz in der Evangelisierung ablasse; wenn einer nämlich wirklich die ihn rettende Liebe Gottes erfahren hat, braucht er nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzumachen und sie zu verkündigen; er kann nicht darauf warten, dass ihm viele Lektionen erteilt oder lange Anweisungen gegeben werden. Jeder Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist; wir sagen nicht mehr, dass wir „Jünger“ und „Missionare“ sind, sondern immer, dass wir „missionarische Jünger“ sind. Wenn wir nicht überzeugt sind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sich unmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennen gelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude zu verkünden: »Wir haben den Messias gefunden« (Joh 1,41). Kaum hatte die Samariterin ihr Gespräch mit Jesus beendet, wurde sie Missionarin, und viele Samariter kamen zum Glauben an Jesus »auf das Wort der Frau hin« (Joh 4,39). Nach seiner Begegnung mit Jesus Christus machte sich auch der heilige Paulus auf, »und sogleich verkündete er Jesus … und sagte: Er ist der Sohn Gottes.« (Apg 9,20). Und wir, worauf warten wir?
121. Gewiss sind wir alle gerufen, als Verkünder des Evangeliums zu wachsen. Zugleich bemühen wir uns um eine bessere Ausbildung, eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutlicheres Zeugnis für das Evangelium. Daher müssen wir uns alle gefallen lassen, dass die anderen uns ständig evangelisieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir unterdessen von unserer Aufgabe zu evangelisieren absehen müssen, sondern wir sollen die Weise finden, die der Situation angemessen ist, in der wir uns befinden.In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderen ein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe des Herrn zu geben, der uns jenseits unserer Unvollkommenheiten seine Nähe, sein Wort und seine Kraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht. Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nicht dasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu leben hilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du den anderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheit darf keine Entschuldigung sein; im Gegenteil, die Aufgabe ist ein ständiger Anreiz, sich nicht der Mittelmäßigkeit hinzugeben, sondern weiter zu wachsen. Das Glaubenszeugnis, das jeder Christ zu geben berufen ist, schließt ein, wie der heilige Paulus zu bekräftigen: »Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen … und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist« (Phil 3,12-13).
Die evangelisierende Kraft der Volksfrömmigkeit
122. In gleicher Weise können wir uns vorstellen, dass die verschiedenen Völker, in die das Evangelium inkulturiert worden ist, aktive kollektive Träger und Vermittler der Evangelisierung sind. Das ist tatsächlich so, weil jedes Volk der Schöpfer der eigenen Kultur und der Protagonist der eigenen Geschichte ist. Die Kultur ist etwas Dynamisches, das von einem Volk ständig neu erschaffen wird; und jede Generation gibt an die folgende eine Gesamtheit von auf die verschiedenen Lebenssituationen bezogenen Einstellungen weiter, die diese angesichts ihrer eigenen Herausforderungen überarbeiten muss. Der Mensch »ist zugleich Kind und Vater der Kultur, in der er eingebunden ist«.97 Wenn in einem Volk das Evangelium inkulturiert worden ist, gibt es in seinem Prozess der Übermittlung der Kultur auch den Glauben auf immer neue Weise weiter; daher die Wichtigkeit der als Inkulturation verstandenen Evangelisierung. Jeder Teil des Gottesvolkes gibt, indem er die Gabe Gottes dem eigenen Geist entsprechend in sein Leben überträgt, Zeugnis für den empfangenen Glauben und bereichert ihn mit neuen, aussagekräftigen Ausdrucksformen. Man kann sagen: »Das Volk evangelisiert fortwährend sich selbst.«98 Hier ist die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, die ein authentischer Ausdruck des spontanen missionarischen Handelns des Gottesvolkes ist. Es handelt sich um eine in fortwährender Entwicklung begriffene Wirklichkeit, in der der Heilige Geist der Protagonist ist.99
123. In der Volksfrömmigkeit kann man die Weise erfassen, in der der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen hat und ständig weitergegeben wird. Während sie zeitweise mit Misstrauen betrachtet wurde, war sie in den Jahrzehnten nach dem Konzil Gegenstand einer Neubewertung. Paul VI. hat in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi einen entscheidenden Impuls in diesem Sinn gegeben. Dort erklärt er, dass in der Volksfrömmigkeit »ein Hunger nach Gott zum Ausdruck [kommt], wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen«100, und fährt fort: »Sie befähigt zur Großmut und zum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, den Glauben zu bekunden«101. Näher an unseren Tagen hat Benedikt XVI. in Lateinamerika darauf hingewiesen, dass sie »ein kostbarer Schatz der katholischen Kirche« ist und dass in ihr »die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt«.102
124. Im Dokument von Aparecida werden die Reichtümer beschrieben, die der Heilige Geist in der Volksfrömmigkeit mit seiner unentgeltlichen Initiative entfaltet. In jenem geliebten Kontinent, wo viele Christen ihren Glauben durch die Volksfrömmigkeit zum Ausdruck bringen, nennen die Bischöfe sie auch »Volksspiritualität« oder »Volksmystik«.103 Es handelt sich um eine wahre »in der Kultur der Einfachen verkörperte Spiritualität«104. Sie ist nicht etwa ohne Inhalte, sondern sie entdeckt und drückt diese mehr auf symbolischem Wege als durch den Gebrauch des funktionellen Verstandes aus, und im Glaubensakt betont sie mehr das credere in Deum als das credere Deum105. Es ist »eine legitime Weise, den Glauben zu leben, eine Weise, sich als Teil der Kirche zu fühlen und Missionar zu sein«106; sie bringt die Gnade des Missionsgeistes, des Aus-sich-Herausgehens und des Pilgerseins mit sich: »Das gemeinsame Gehen zu den Wallfahrtsorten und die Teilnahme an anderen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, wobei man auch die Kinder mitnimmt oder andere Menschen dazu einlädt, ist in sich selbst ein Akt der Evangelisierung.«107 Tun wir dieser missionarischen Kraft keinen Zwang an und maßen wir uns nicht an, sie zu kontrollieren!
125. Um diese Wirklichkeit zu verstehen, muss man sich ihr mit dem Blick des Guten Hirten nähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen, sondern zu lieben. Allein von der natürlichen Hinneigung her, die die Liebe schenkt, können wir das gottgefällige Leben würdigen, das in der Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders bei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus. Wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl. Röm 5,5).
126. Da die Volksfrömmigkeit Frucht des inkulturierten Evangeliums ist, ist in ihr eine aktiv evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen. Wir sind vielmehr aufgerufen, sie zu fördern und zu verstärken, um den Prozess der Inkulturation zu vertiefen, der niemals abgeschlossen ist. Die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit haben vieles, das sie uns lehren können, und für den, der imstande ist, sie zu deuten, sind sie ein theologischer Ort. Diesem sollen wir Aufmerksamkeit schenken, besonders im Hinblick auf die neue Evangelisierung.
Von Mensch zu Mensch
127. Nun, da die Kirche eine tiefe missionarische Erneuerung vollziehen möchte, gibt es eine Form der Verkündigung, die uns allen als tägliche Pflicht zukommt. Es geht darum, das Evangelium zu den Menschen zu bringen, mit denen jeder zu tun hat, zu den Nächsten wie zu den Unbekannten. Es ist die informelle Verkündigung, die man in einem Gespräch verwirklichen kann, und es ist auch die, welche ein Missionar handhabt, wenn er ein Haus besucht. Jünger sein bedeutet, ständig bereit zu sein, den anderen die Liebe Jesu zu bringen, und das geschieht spontan an jedem beliebigen Ort, am Weg, auf dem Platz, bei der Arbeit, auf einer Straße.
128. Der erste Schritt dieser stets respektvollen und freundlichen Verkündigung besteht aus einem persönlichen Gespräch, in dem der andere Mensch sich ausdrückt und seine Freuden, seine Hoffnungen, die Sorgen um seine Lieben und viele Dinge, von denen sein Herz voll ist, mitteilt. Erst nach diesem Gespräch ist es möglich, das Wort Gottes vorzustellen, sei es mit der Lesung irgendeiner Schriftstelle oder erzählenderweise, aber immer im Gedanken an die grundlegende Verkündigung: die persönliche Liebe Gottes, der Mensch geworden ist, sich für uns hingegeben hat und als Lebender sein Heil und seine Freundschaft anbietet. Es ist die Verkündigung, die man in einer demütigen, bezeugenden Haltung mitteilt wie einer, der stets zu lernen weiß, im Bewusstsein, dass die Botschaft so reich und so tiefgründig ist, dass sie uns immer überragt. Manchmal drückt man sie auf direktere Weise aus, andere Male durch ein persönliches Zeugnis, eine Erzählung, eine Geste oder die Form, die der Heilige Geist selbst in einem konkreten Umstand hervorrufen kann. Wenn es vernünftig erscheint und die entsprechenden Bedingungen gegeben sind, ist es gut, wenn diese brüderliche und missionarische Begegnung mit einem kurzen Gebet abgeschlossen wird, das die Sorgen aufnimmt, die der Gesprächspartner zum Ausdruck gebracht hat. Er wird dann deutlicher spüren, dass er angehört und verstanden wurde, dass seine Situation in Gottes Hand gelegt wurde, und er wird erkennen, dass das Wort Gottes wirklich sein Leben anspricht.
129. Man darf nicht meinen, die Verkündigung des Evangeliums müsse immer mit bestimmten festen Formeln oder mit genauen Worten übermittelt werden, die einen absolut unveränderlichen Inhalt ausdrücken. Sie wird in so verschiedenen Formen weitergegeben, dass es unmöglich wäre, sie zu beschreiben oder aufzulisten; in ihnen ist das Volk Gottes mit seinen unzähligen Gesten und Zeichen ein kollektives Subjekt. Folglich wird das Evangelium, wenn es in einer Kultur Gestalt angenommen hat, nicht mehr nur durch die Verkündigung von Mensch zu Mensch bekannt gemacht. Das muss uns daran denken lassen, dass die Teilkirchen in jenen Ländern, wo das Christentum eine Minderheit ist, nicht nur jeden Getauften zur Verkündigung des Evangeliums ermutigen, sondern darüber hinaus aktiv zumindest anfängliche Formen der Inkulturation fördern müssen. Letztlich ist eine Verkündigung des Evangeliums anzustreben, welche eine neue Synthese des Evangeliums mit der Kultur, in der es mit deren Kategorien verkündet wird, hervorruft. Obwohl diese Prozesse immer langwierig sind, lähmt uns manchmal zu sehr die Angst. Wenn wir den Zweifeln und Befürchtungen erlauben, jeden Wagemut zu ersticken, kann es geschehen, dass wir, anstatt kreativ zu sein, einfach in unserer Bequemlichkeit verharren, ohne irgendeinen Fortschritt zu bewirken. Und in dem Fall werden wir nicht mit unserer Mitarbeit an historischen Prozessen teilhaben, sondern schlicht Beobachter einer sterilen Stagnation der Kirche sein.
Charismen im Dienst der evangelisierenden Gemeinschaft
130. Der Heilige Geist bereichert die ganze evangelisierende Kirche auch mit verschiedenen Charismen. Diese Gaben erneuern die Kirche und bauen sie auf.108 Sie sind kein verschlossener Schatz, der einer Gruppe anvertraut wird, damit sie ihn hütet; es handelt sich vielmehr um Geschenke des Geistes, die in den Leib der Kirche eingegliedert und zur Mitte, die Christus ist, hingezogen werden, von wo aus sie in einen Evangelisierungsimpuls einfließen. Ein deutliches Zeichen für die Echtheit eines Charismas ist seine Kirchlichkeit, seine Fähigkeit, sich harmonisch in das Leben des heiligen Gottesvolkes einzufügen zum Wohl aller. Eine authentische vom Geist erweckte Neuheit hat es nicht nötig, einen Schatten auf andere Spiritualitäten und Gaben zu werfen, um sich durchzusetzen. Je mehr ein Charisma seinen Blick auf den Kern des Evangeliums richtet, um so kirchlicher wird seine Ausübung sein. Auch wenn es Mühe kostet: Die Gemeinschaft ist der Ort, wo ein Charisma sich als echt und geheimnisvoll fruchtbar erweist. Wenn die Kirche sich dieser Herausforderung stellt, kann sie ein Vorbild für den Frieden in der Welt sein.
131. Die Unterschiede zwischen den Menschen und den Gemeinschaften sind manchmal lästig, doch der Heilige Geist, der diese Verschiedenheiten hervorruft, kann aus allem etwas Gutes ziehen und es in eine Dynamik der Evangelisierung verwandeln, die durch Anziehung wirkt. Die Verschiedenheit muss mit Hilfe des Heiligen Geistes immer versöhnt sein; nur er kann die Verschiedenheit, die Pluralität, die Vielfalt hervorbringen und zugleich die Einheit verwirklichen. Wenn hingegen wir es sind, die auf der Verschiedenheit beharren, und uns in unsere Partikularismen, in unsere Ausschließlichkeiten zurückziehen, verursachen wir die Spaltung, und wenn andererseits wir mit unseren menschlichen Plänen die Einheit schaffen wollen, zwingen wir schließlich die Eintönigkeit, die Vereinheitlichung auf. Das hilft der Mission der Kirche nicht.
Die Welt der Kultur, des Denkens und der Erziehung
132. Die Verkündigung an die Welt der Kultur schließt auch eine Verkündigung an die beruflichen, wissenschaftlichen und akademischen Kulturen ein. Es geht um die Begegnung zwischen dem Glauben, der Vernunft und den Wissenschaften, die anstrebt, ein neues Gespräch über die Glaubwürdigkeit zu entwickeln, eine ursprüngliche Apologetik,109 die helfen soll, die Voraussetzungen zu schaffen, damit das Evangelium von allen gehört wird. Wenn einige Kategorien der Vernunft und der Wissenschaften in die Verkündigung der Botschaft aufgenommen werden, dann werden ebendiese Kategorien Werkzeuge der Evangelisierung; es ist das in Wein verwandelte Wasser. Wenn dies einmal aufgenommen ist, wird es nicht nur erlöst, sondern bildet ein Werkzeug des Geistes, um die Welt zu erleuchten und zu erneuern.
133. Da die Sorge des Evangelisierenden, jeden Menschen zu erreichen, nicht genügt und das Evangelium auch an die Kulturen im Ganzen verkündet wird, kommt der Theologie – und nicht nur der Pastoraltheologie –, die mit anderen Wissenschaften und menschlichen Erfahrungen im Dialog steht, eine wichtige Bedeutung bei der Überlegung zu, wie man das Angebot des Evangeliums der Vielfalt der kulturellen Kontexte und der Empfänger nahe bringen kann.110 Die in der Evangelisierung engagierte Kirche würdigt und ermutigt das Charisma der Theologen und ihr Bemühen in der theologischen Forschung, die den Dialog mit der Welt der Kultur und der Wissenschaft fördert. Ich rufe die Theologen auf, diesen Dienst als Teil der Heilssendung der Kirche zu vollbringen. Doch ist es für diese Aufgabe nötig, dass ihnen die missionarische Bestimmung der Kirche und der Theologie selbst am Herzen liegt und sie sich nicht mit einer Schreibtisch-Theologie zufrieden geben.
134. Die Universitäten sind ein bevorzugter Bereich, um dieses Engagement der Evangelisierung auf interdisziplinäre Weise und in wechselseitiger Ergänzung zu entfalten. Die katholischen Schulen, die immer versuchen, ihre erzieherische Aufgabe mit der ausdrücklichen Verkündigung des Evangeliums zu verbinden, stellen einen sehr wertvollen Beitrag zur Evangelisierung der Kultur dar, auch in den Ländern und in den Städten, wo eine ungünstige Situation uns anregt, unsere Kreativität einzusetzen, um die geeigneten Wege zu finden.111
Anmerkungen:
77 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 19: AAS 92 (2000), 478.
78 Ebd., 2: AAS 92 (2000), 451.
79 Vgl. Propositio 4.
80 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 1.
81 Meditation bei der ersten Generalkongregation der XIII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (8. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 897.
82 Vgl. Propositio 6; Zweites Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 22.
83 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 9.
84 Vgl. III. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März 1979), 386-387.
85 Zweites Vatikanisches Konzil, Past. Konst. Gaudium et spes der Welt von heute, 36.
86 Ebd., 25.
87 Ebd., 53.
88 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo Millennio ineunte (6. Januar 2001), 40: AAS 93 (2001), 294-295.
89 Ebd., 40: AAS 93 (2001), 295.
90 Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 52: AAS 83 (1991), 300; vgl. Apostolisches Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 53: AAS 71 (1979), 1321.
91 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 16: AAS 94 (2002), 384.
92 Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Africa (14. September 1995), 61: AAS 88 (1996), 39.
93 Vgl. Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 39, a. 8 cons. 2: »Wenn man den Heiligen Geist ausschließt, der die Verbindung zwischen dem Vater und dem Sohn ist, kann man die Einigkeit beider nicht verstehen«; vgl. auch I, q. 37, a. 1, ad 3.
94 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 17: AAS 94 (2002), 385.
95 Vgl. Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 20: AAS 92 (2000), 478-482.
96 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 12.
97 Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 71 : AAS 91 (1999), 60.
98 III. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Puebla (23. März 1979), 450; vgl. V. Generalversammlung der Bischöfe von ateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264.
99 Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 21: AAS 92 (2000), 482-484.
100 Nr. 48: AAS 68 (1976), 38
101 Ebd.
102 Ansprache während der Eröffnungssitzung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik (13. Mai 2007), 1: AAS 99 (2007), 446-447.
103 V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 262.
104 Ebd., 263.
105 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, q. 2, a. 2.
106 V. Generalversammlung der Bischöfe von Latein-amerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 264.
107 Ebd.
108 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 12.
109 Vgl. Propositio 17.
110 Vgl. Propositio 30.
111 Vgl. Propositio 27.
112 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Dies Domini (31. Mai 1998), 41: AAS 90 (1998), 738-739.