Am 19.09. hat Papst Franziskus der Jesuitenzeitschrift Civiltá Cattolica ein Interview gegeben, das wichtige Themen zur Zukunft und aus seiner Sicht notwendige Veränderungen in der römisch-katholischen Kirche anspricht. Im folgenden haben wir einige Schlüsselsätze aus diesem Interview zusammengefasst.
Wer ist Jorge Mario Bergoglio?
„Ich weiß nicht, was für eine Definition am zutreffendsten sein könnte… Ich bin ein Sünder. Das ist die richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches Genus. Ich bin ein Sünder. […] Es ist die Geste des Matthäus, die mich betroffen macht: Er packt sein Geld, als wollte er sagen: ,Nein, nicht mir, nicht mir gehört dieses Geld! Siehe, das bin ich: ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.‘ Und das habe ich gesagt, als sie mich fragten, ob ich meine Wahl zum Papst annehme.“
Persönliche Umkehr
„Um die Wahrheit zu sagen: In meiner Erfahrung als Oberer in der Gesellschaft habe ich mich nicht immer so korrekt verhalten, dass ich die notwendigen Konsultationen durchführte. Und das war keineswegs gut. Mein Führungsstil als Jesuit hatte anfangs viele Mängel. Es war eine schwere Zeit für die Gesellschaft Jesu: Eine ganze Jesuitengeneration war ausgefallen. Deshalb wurde ich schon in sehr jungen Jahren zum Provinzial ernannt. Ich war erst 36 Jahre alt – eine Verrücktheit! Ich musste mich mit sehr schwierigen Situationen auseinandersetzen und traf meine Entscheidungen auf sehr schroffe und persönliche Weise. […] Dessen ungeachtet sind die Menschen des Autoritarismus überdrüssig. Meine autoritäre und schnelle Art, Entscheidungen zu treffen, hat mir ernste Probleme und die Beschuldigung eingebracht, ultrakonservativ zu sein. Ich habe eine Zeit einer großen inneren Krise durchgemacht, als ich in Cordoba lebte. Nun bin ich sicher nicht wie die selige Imelda gewesen, aber ich bin nie einer von den ,Rechten‘ gewesen. Es war meine autoritäre Art, die Entscheidungen zu treffen, die Probleme verursachte.“
Entscheidungsfindung
Ich wünsche mir wirkliche, keine formellen Konsultationen. Das Gremium der acht Kardinäle – diese outsider-Beratungsgruppe – ist nicht allein meine Entscheidung, sondern Frucht des Willens der Kardinäle, wie er bei den Generalkongregationen vor dem Konklave zum Ausdruck gebracht wurde. Und ich will, dass es echte, keine formellen Beratungen geben wird.“
Die Kirche – Volk Gottes
„Das Bild der Kirche, das mir gefällt, ist das des heiligen Volkes Gottes. Die Definition, die ich oft verwende, ist die der Konzilserklärung ‚Lumen gentium‘ in Nummer 12. Die Zugehörigkeit zu einem Volk hat einen großen theologischen Wert: Gott hat in der Heilsgeschichte ein Volk erlöst. Es gibt keine volle Identität ohne die Zugehörigkeit zu einem Volk. Niemand wird alleine gerettet, als isoliertes Individuum. Gott zieht uns an sich und betrachtet dabei die komplexen Gebilde der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in der menschlichen Gesellschaft abspielen. Gott tritt in diese Volksdynamik ein. Das Volk ist das Subjekt. Und die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte – mit seinen Freuden und Leiden.“
Die Kirche – Haus aller
„Diese Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller – keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann. Wir dürfen die Universalkirche nicht auf ein schützendes Nest unserer Mittelmäßigkeit reduzieren.“
Veränderungen in der Kirche
„Unterscheidung braucht Zeit. Viele meinen zum Beispiel, dass Veränderungen und Reformen kurzfristig erfolgen können. Ich glaube, dass man immer genügend Zeit braucht, um die Grundlagen für eine echte, wirksame Veränderung zu legen. Und das ist die Zeit der Unterscheidung. […] Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benützung eines einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht. […]
Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein.“
Was die Kirche heute braucht
„Das, was die Kirche heute braucht, [ist] die Fähigkeit, die Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem Anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen … Man muss unten anfangen.“
Die Bischöfe
Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, so dass niemand zurück bleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht.“
Die frohe Botschaft vom Reich Gottes
„Wir müssen das Evangelium auf allen Straßen verkünden, die frohe Nachricht vom Reich Gottes verkünden und – auch mit unserer Verkündigung – jede Form der Krankheit und Wunde pflegen. […] Die Lehren der Kirche – dogmatische wie moralische – sind nicht alle gleichwertig. Eine missionarische Seelsorge ist nicht davon besessen, ohne Unterscheidung eine Menge von Lehren aufzudrängen. Eine missionarische Verkündigung konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das Nötige. Das ist auch das, was am meisten anzieht, was das Herz glühen lässt – wie bei den Jüngern von Emmaus. Wir müssen also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen.
Homosexuelle Menschen
„Ich habe das gesagt, was der Katechismus erklärt. Die Religion hat das Recht, die eigene Überzeugung im Dienst am Menschen auszudrücken, aber Gott hat sie in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben. Einmal hat mich jemand provozierend gefragt, ob ich Homosexualität billige. Ich habe ihm mit einer anderen Frage geantwortet: ‚Sag mir: Wenn Gott eine homosexuelle Person sieht, schaut er die Tatsache mit Liebe an oder verurteilt er sie und weist sie zurück?‘ Man muss immer die Person anschauen. Wir treten hier in das Geheimnis der Person ein. Gott begleitet die Menschen durch das Leben und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation.
Die Beichte
„Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern der Ort der Barmherzigkeit, in dem der Herr uns anregt, das Bestmögliche zu tun.“
Freiheit
„Gott hat sie [die Menschen] in der Schöpfung frei gemacht: Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben.“
Das Prophetische in der Kirche
„In der Kirche sind Ordensleute besonders berufen, Propheten zu sein, die bezeugen, wie Jesus auf dieser Erde gelebt hat, und die zeigen, wie das Reich Gottes in seiner Vollendung sein wird. Ein Ordensmann oder eine Ordensfrau darf nie auf Prophetie verzichten. […] Die Prophetie macht Lärm, Krach – manche meinen ‚Zirkus‘. Aber in Wirklichkeit ist ihr Charisma, Sauerteig zu sein: Die Prophetie verkündet den Geist des Evangeliums.“
Die Rolle des Vatikan
„Die römischen Dikasterien (Kongregationen, Räte und die anderen Ämter) stehen im Dienst des Papstes und der Bischöfe. Sie müssen den Ortskirchen helfen oder den Bischofskonferenzen. Es sind Einrichtungen des Dienstes. In Einzelfällen, wenn man sie nicht richtig versteht, laufen sie Gefahr, Zensurstellen zu werden.“
Synoden und Ökumene
„Synodalität muss auf verschiedenen Ebenen gelebt werden. Vielleicht ist es Zeit, die Methode der Synode zu verändern, denn die derzeitige scheint mir statisch. Das kann dann auch einen ökumenischen Wert haben – besonders mit unseren orthodoxen Brüdern. Von ihnen kann man noch mehr den Sinn der bischöflichen Kollegialität und die Tradition der Synodalität lernen. Die Bemühung um die gemeinsame Reflexion, der Blick darauf, wie die Kirche in den ersten Jahrhunderten vor dem Bruch zwischen Osten und Westen gelenkt wurde, wird zur rechten Zeit Frucht bringen. In den ökumenischen Beziehungen ist dies wichtig: das, was der Geist in den anderen gesät hat, nicht nur besser zu kennen, sondern vor allem auch besser anzuerkennen als ein Geschenk auch an uns. […] Wir müssen vereint in den Unterschieden vorangehen. Es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.“
Frauen in der Kirche
„Die Reden, die ich über die Rolle der Frau in der Kirche höre, sind oft von einer Männlichkeits-Ideologie inspiriert. Die Frauen stellen tiefe Fragen, denen wir uns stellen müssen. Die Kirche kann nicht sie selbst sein ohne Frauen und deren Rolle. […] Der weibliche Genius ist nötig an den Stellen, wo wichtige Entscheidungen getroffen werden. Die Herausforderung heute ist: reflektieren über den spezifischen Platz der Frau gerade auch dort, wo in den verschiedenen Bereichen der Kirche Autorität ausgeübt wird.“
Das II. Vatikanische Konzil
„Das Zweite Vatikanum war eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur. Es hat eine Bewegung der Erneuerung ausgelöst, die aus dem Evangelium selbst kommt. Die Früchte waren enorm.“
Glaube und Ideologie
„Wenn einer Antworten auf alle Fragen hat, dann ist das der Beweis dafür, dass Gott nicht mit ihm ist. Das bedeutet, dass er ein falscher Prophet ist, der die Religion für sich selbst benützt. Die großen Führer des Gottesvolkes wie Moses haben immer Platz für den Zweifel gelassen. Man muss Platz für den Herrn lassen, nicht für unsere Sicherheiten. Man muss demütig sein. Die Unsicherheit hat man bei jeder echten Entscheidung, die offen ist für die Bestätigung durch geistlichen Trost. […] Wer heute immer disziplinäre Lösungen sucht, wer in übertriebener Weise die ‚Sicherheit‘ in der Lehre sucht, wer verbissen die verlorene Vergangenheit sucht, hat eine statische und rückwärts gewandte Vision. Auf diese Weise wird der Glaube eine Ideologie unter vielen.“
Gottesbegegnung
„Gott ist im Leben jeder Person. Gott ist im Leben jedes Menschen. Auch wenn das Leben eines Menschen eine Katastrophe war, wenn es von Lastern zerstört ist, von Drogen oder anderen Dingen: Gott ist in seinem Leben. Man kann und muss ihn in jedem menschlichen Leben suchen. Auch wenn das Leben einer Person ein Land voller Dornen und Unkraut ist, so ist doch immer ein Platz, auf dem der gute Same wachsen kann. Man muss auf Gott vertrauen. […] Gott ist sicher in der Vergangenheit, denn man findet ihn in den Abdrücken, die er hinterlassen hat. Er ist auch in der Zukunft, als Versprechen. Aber der – sagen wir – ,konkrete Gott‘ ist heute. Daher hilft das Jammern nie, nie, um Gott zu finden. Die Klage darüber, wie barbarisch die Welt heute sei, will manchmal nur verstecken, dass man in der Kirche den Wunsch nach einer rein bewahrenden Ordnung, nach Verteidigung hat. Nein – Gott kommt im Heute entgegen. […]
Daher begegnet man Gott beim Gehen, auf dem Weg. Hier könnte einer sagen: Das ist Relativismus. Ist es Relativismus? Ja, wenn man ihn schlecht versteht – wie einen verschwommenen Pantheismus; nein, wenn man ihn im biblischen Sinn versteht, für den Gott immer eine Überraschung ist. Daher weißt du nie, wo und wie du ihn triffst. Nicht du fixierst Zeiten und Orte der Begegnung mit Ihm. Man muss daher die Begegnung erkennen, ausmachen. Dafür ist die Unterscheidung grundlegend.
Das gesamte Interview ist bei den Stimmen der Zeit nachzulesen.