„Arme und Bedrängte“ – Vergessene in Kirche und Welt ? Gaudium et spes: Anstoß zur Rechenschaft 2012

von Edgar Utsch


Wie die Überschrift diese Artikel lautet das Thema der nächsten AGP – Jahresversammlung (28.-30.5.12). Mit ihm wollen wir auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückschauen, aber vor allem eine zentrale Botschaft dieser Kirchenversammlung angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklungen und gegenwärtigen Situation auf den Prüfstand stellen und nach heute notwendigen Konsequenzen fragen.

Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ wird vielfach als das wichtigste Dokument des Konzils bezeichnet. In ihm, dem am heftigsten umstrittenen und zuletzt beschlossenen Text, spiegele sich nämlich die gesamte theologische und pastorale Entwicklung während der Konzilsperiode wieder. Ob diese Qualifizierung stimmt, hängt sicher auch davon ab, welches Thema des Konzils man für das wichtigste hält – für eine solche Rangliste bieten sich ja verschiedene Stichworte an: Religionsfreiheit, Volk Gottes, Kollegialität, Verhältnis zum Judentum und zu den nichtchristlichen Religionen, Ökumene. Sicher aber beginnt die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ mit einem Text, der so häufig wie kein anderer – für die einen bis zum Überdruss, für die anderen als gefährliche und somit notwendige Erinnerung – zitiert wird (also auch hier!): „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS, 1)

Auf der AGP – Jahresversammlung werden wir also zunächst einen Blick auf „Gaudium et spes“ werfen. Äußert sich in diesem Text ein recht zeitgemäßer, aber ebenso zeitbedingter und durch seine Grenzen und Defizite schon mit einem impliziten Verfallsdatum versehener Fortschrittsoptimismus? Spiegelt er die große Hoffnung gegen alle Hoffnung oder doch nur leichtfertige und darum trügerische Wünsche? Und noch schärfer: Ist er in seiner Vollmundigkeit als Behauptung – und nicht zunächst und vor allem als Kennzeichnung eines schwerwiegenden Versäumnisses und als unverzichtbare Anforderung – nicht eine schiere Lüge? Zeigt nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die kirchliche Wirklichkeit das genaue Gegenteil: die Armen und Bedrängten als die Vergessenen, „Übergangenen“ – mit den Füßen Getretenen? Was aber war das „Neue“, das man so von der Kirche nicht erwartet hatte und darum aufmerken ließ und bis heute gleichsam Motto und Motivation für viele Christinnen und Christen bleibt, um sich für die „Arm-Gemachten“ einzusetzen?

Natürlich gehört zu einer Auseinandersetzung auch die Frage nach der Wirkungsgeschichte des Textes bzw. seiner Absichtserklärungen und Forderungen. Wie steht es mit der Umkehr der Kirche hin zu den „Armen und Bedrängten“ in Wort und Tat? Wie um die Unterstützung sozialer Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung? Wie um die Bereitschaft und Fähigkeit kirchlicher Autoritäten, sich in die gesellschaftlichen und politischen Debatten einzumischen zugunsten „der Menschen von heute“? Stecken diejenigen, die sich heute für eine „Kirche der Armen“ einsetzen, immer noch – wie eine kleine Minderheit von Bischöfen 1965 beim Katakombenpakt in Rom – in den Katakomben von Kirche und Welt, weil sie in den Aulen von Synoden und Politikerkonferenzen kein Gehör finden?

Diese Fragen verdeutlichen, dass es bei unserem Blick auf den Konzilstext nicht um ein beliebiges Fallbeispiel für das Problem einer angemessenen Hermeneutik von Konzilsaussagen geht, nicht um eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung – so wichtig diese im Gesamtkontext heutiger binnenkirchlicher Diskussion über das Verständnis des Vatikanums II ist – sondern um eine höchst praktische, konsequenzenreiche, (kirchen-)politische Frage.

Wenn es aber um heute notwendige Konsequenzen gehe soll, dann werden wir eine möglichst stimmige Analyse unserer gegenwärtigen Situation anstellen müssen. „Krise“ ist das beherrschende Kennzeichen unterschiedlicher Wirklichkeitsbereiche: ökologische Krise, Finanz-, Währungs-, Wirtschaftskrise – und davon sicher nicht unabhängig: z.B. Werte-, Orientierungs-, Glaubens-, Kirchenkrise. Worin liegen die Ursachen für diese auf den ersten Blick so verschiedenartigen und doch zusammenhängenden Krisen? Welches sind ihre herausragenden Phänomene? Da wir uns als kirchliche Gruppen mit diesen Problemen befassen, ist natürlich auch die Frage nach der Rolle der Kirche unabdingbar. Wie ist sie in diese Krisen involviert? Ist sie – gewollt oder nicht – Steigbügelhalterin für die Ideologen eines angeblich alternativlosen Kapitalismus? Gräbt sie sich also selbst das Grab, aus dem der Kapitalismus als Religion „aufersteht“? Ist sie machtlos angesichts übermächtiger Kräfte des sogenannten freien Marktes und damit entschuldigt? Ist sie andererseits Profiteurin politischer und wirtschaftlicher Systeme oder auch deren Opfer? Vor allem aber: Wer sind die „Menschen-Opfer“, deren Zukunft und Hoffnung, deren Lebensgrundlage zerstört wird?

Angesichts der Wucht der Probleme und Krisen und wegen der offensichtlich weit verbreiteten Ratlosigkeit der „Verantwortungsträger“ (eine Ratlosigkeit, die für sich ja nicht „ehrenrührig“ ist, die aber durch ständig neue Erklärungen und „Versicherungen“ eher entlarvt als kaschiert wird) ist die Frage nach möglichen Auswegen nur mit einer gehörigen Portion an Beklemmung zu stellen. Welche könnten das sein? Was ist zu tun? Oder hat die Fahrt in die falsche Richtung schon ein solches Tempo aufgenommen, dass alle (Schulden-) Bremsen nichts mehr ausrichten können und sie unausweichlich in der Katastrophe enden muss? Andererseits hat nicht zuletzt Johannes XXIII. vor den Unglückspropheten gewarnt und sollte die Kirche mehr zu bieten haben, als die entsprechenden Untergangsszenarien nur noch mehr mit höllischen Farben zu unterlegen oder auszumalen.

Wenn die Kirche, wenn die einzelnen Gläubigen und die Gemeinschaften, in denen sie sich zusammenfinden, nicht in die Lieder falscher Chöre einstimmen, aber auch nicht in die Starre einer Wort- und Tatenlosigkeit verfallen dürfen, dann ist zu klären, welche Worte, welche Botschaft heute Not tut. Welche inhaltlichen Akzente müsste eine Erklärung „Gaudium et spes“ im Jahre 2012 setzen, zu welchen Entscheidungen, zu welchen Schritten müsste sie Kirche und Welt – und in ihnen natürlich jeden verantwortlichen einzelnen Menschen – unmissverständlich auffordern? Welche Auswege müssten aufgezeigt und beschritten werden?

Die AGP-Regionalkonferenz NRW stand nicht nur vor der Aufgabe, ein dem Datum des Konzils-„Jubiläums“ und ein den Zeitumständen entsprechendes Thema zu finden, sondern vor dem fast noch größeren Problem, einen Referenten zu finden, der dessen Komplexität gerecht werden könnte. Wir sind darum sehr dankbar, dass unser „Erstwunsch“ in Erfüllung gegangen ist: Wir konnten Herrn Prof. em. Dr. Friedhelm Hengsbach, SJ für unsere Jahrestagung gewinnen. Der ehemalige Professor für Gesellschaftsethik an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt a.M., und langjährige Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik wird sicher auch in unserem Kreis mit den für ihn charakteristischen eindeutigen Worten und klaren Analysen nicht hinter dem Berg halten und sich auch nicht mit der Situationsbeschreibung begnügen. Das folgende Zitat aus einem Interview, das er zum Jahrewechsel gab, zeigt wohl, wie gut Pater Hengsbach zu uns und zu unserem Thema „passt“:

Pater Hengsbach, in der Vorbereitung dieses Gesprächs kam ich auf die Formel, Sie sind eigentlich der erste deutsche Befreiungstheologe.“

Das ist natürlich sehr hoch gegriffen, aber ich gebe zu, dass ich nach einer katholisch-kirchlichen Sozialisation stark durch das Zweite Vatikanische Konzil, das ich als Student miterlebt habe – und außerdem durch die lateinamerikanische Theologie der Befreiung inspiriert worden bin. Das heißt erstens, dass der theologische Wissenschaftler eine Option für die Armen ergreift, dass er einen Standort bezieht, von dem aus er gesellschaftliche Verhältnisse der Ausbeutung und Unterdrückung diagnostiziert und nach entsprechenden Auswegen sucht. Das heißt zweitens, dass der Glauben sich nicht einfach als „denken“ oder „für wahr halten“ im Sinne des Selbstverständnisses einer bürgerlichen Elite begreift, sondern als eine Praxis, die sich ausdrückt im Engagement für Gerechtigkeit. Das ist auch die Leitidee der Jesuiten – dass nämlich Glaube und Gerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille sind.“

1994 hat die AGP vor dem Hintergrund der damaligen kirchlichen und politischen Situation einen Text veröffentlicht. Er war überschrieben: „Bekehrung und Reform“ (s. E. Utsch, C.-P. Klusmann (Hg.) , Dem Konzil verpflichtet – verantwortlich in Kirche und Welt, S. 8 – 14). Das scheint auch heute das Mindeste.

Herzliche Einladung zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Priester- und Solidaritätsgruppen (AGP): „Arme und Bedrängte“ – Vergessene in Kirche und Welt ? Gaudium et spes: Anstoß zur Rechenschaft 2012, vom 18.5. bis 30.5. im Haus am Maiberg, Heppenheim.
Anmeldung: AGP-Büro, 59071 Hamm, Soester Str 165 oder m.krystofiak@arcor.de

Dieser Artikel erscheint auch in imprimatur, 45. Jg., 2012 Nr.1 (www.imprimatur-trier.de)