Volk Gottes – Religionsfreiheit – Neue Wege des Konzils

Das II. Vatikanische Konzil (1962-1965)

von Ferdinand Kerstiens


Das Volk Gottes

Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen Widerhall findet.“ (Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes“, GS Nr. 1)

Ich erinnere mich noch deutlich an die Überraschung und die Freude, als wir vor fast 50 Jahren diese Worte hörten und lasen. Wir – das waren viele engagierte Christinnen und Christen, Theologinnen und Theologen, Priester und Ordensleute, die zunehmend unter der Diskrepanz zwischen der Enge der Kirche unter Pius XII und der Weite des Evangeliums litten – wir sahen darin einen fundamentalen Wandel der Kirche, einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Das erste Interesse der Kirche ist nicht mehr die eigene Selbstdarstellung in ihrer hierarchischen Gestalt oder die Vermittlung einer fertigen Botschaft, sondern ihre Solidarität mit den Menschen, mit ihrer Freude und Hoffnung, ihrer Trauer und Angst, vor allem der Bedrängten und Ausgegrenzten, der Armen und Armgemachten. Auf einmal waren die Menschen nicht mehr bloß Adressaten einer fertigen Botschaft, die im Gehorsam anzunehmen war, sondern Partnerinnen und Partner in der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit des Lebens, von denen die Kirche erst einmal zu lernen hat, wo denn der Schuh drückt, um darauf im Sinne Jesu antworten zu können.

Das erfordert ein sorgsames und wachsames Hinhören auf die Menschen: Wo sind ihre Freuden, wohin geht ihre tiefste Hoffnung, wovor haben die Menschen Angst, wo und aus welchen Gründen droht die Trauer oder die Resignation sie zu überwältigen, dass sie nicht mehr weiter können? Daher heißt der Konzilstext „pastorale Konstitution“, weil sich erst durch eine solch „pastorale“ Grundeinstellung die Kirche als Kirche „konstituiert“. Ohne eine solche Sensibilität, eine solche Nähe zu den Menschen kann die Kirche ihren Dienst nicht leisten. Hier muss Kirche heutig werden und den Menschen auf Augenhöhe begegnen, ihrem Selbstverständnis und ihrer errungenen Freiheit, ihrer Selbstständigkeit und eigenen Verantwortung, aber zugleich auch nahe in ihrer Ohnmacht, ihrem Ausgeschlossensein, in Arbeits- und Sinnlosigkeit, der Sehnsucht nach Anerkennung und menschenwürdigem Leben.

Die „Armen und Bedrängten aller Art“ sind nicht mehr bloß Objekte caritativer Bemühungen, sondern zu allererst Menschen, aus deren Not und Hoffnung die Kirche zu lernen hatte. Zu den Armen und Bedrängten aller Art gehören nicht nur die materiell Armen, sondern alle Ausgebeuteten und Ausgegrenzten, die Opfer der globalisierten Wirtschaft, die die Menschen immer mehr zur bloßen Ware macht und die Mehrzahl der Menschheit unten hält. „Hierzu gehört der innere Zustand unserer Staaten, der in vielen Fällen seinen Ursprung und Fortbestand aus Mechanismen herleitet, die, da sie nicht von echter Menschlichkeit, sondern vom Materialismus geprägt sind, auf internationaler Ebene die Reichen immer reicher werden lassen auf Kosten der Armen, die immer mehr verarmen.“ So die Folgerung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von 1979 in Puebla (Nr.30). Hier wird deutlich, dass die Botschaft vom Reich Gottes eine eminent politische Botschaft ist, die Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle einklagt.

Die Bischofsversammlung von Puebla tut darüber hinaus theologisch noch einen radikaleren Schritt, wenn sie anerkennt, dass erst die Nähe zu den Armen und Bedrängten der Kirche dazu verholfen habe, „das evangelisatorische

Potential der Armen zu entdecken, da sie die Kirche ständig vor Fragen stellen,

indem sie sie zur Umkehr aufrufen“! (Puebla Nr. 1147) So sprengt der vielleicht auf den ersten Blick harmlos klingende Satz der Pastoralkonstitution die Liaison der Kirche mit den jeweils Mächtigen und stellt sie auf die Seite der Armen, nimmt an ihrer Angst und Hoffnung Teil und geht mit ihnen den Weg zum Leben, das Jesus verheißen hat.

In der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute wurde ausgeführt, was sich schon in der weitgehend unbeachteten Umstellung der Kapitel 2 und 3 in der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ (LG) andeutete: Die ursprüngliche Reihenfolge lautete: Kapitel 1: Die Kirche als Geheimnis Gottes unter den Menschen; Kapitel 2: Die hierarchische Gestalt der Kirche; Kapitel 3: Das Volk Gottes. Doch die Mehrheit des Konzils hat die Reihenfolge von Kapitel 2 und 3 getauscht. Jetzt wird zunächst über das Volk Gottes gesprochen, dem dann das Kapitel über die Hierarchie folgt; das heißt: Das Volk Gottes ist das Wesentliche der Kirche, dem hat die Hierarchie zu dienen, nicht es zu beherrschen. Das hat damals den reaktionären Teil des Konzils, der alles beim Alten lassen wollte, so irritiert, dass sie Paul VI zu den Vorbemerkungen zum Kapitel 3 drängten, in dem dieser dann die alte hierarchische Struktur der Kirche im Sinne des I. Vatikanischen Konzils bekräftigte.

Wir sahen damals in diesem Stellungswechsel eine fundamentale Bekehrung unserer Kirche, eine Bekehrung zu den Menschen, die nicht Objekte kirchlichen Handelns sind, sondern Subjekte ihres Glaubens werden dürfen und sollen. Das heißt für die Mitglieder der Kirche: jeder und jede ist Teil der königlichen Priesterschaft und des auserwählten Volkes (vgl. 1 Petr 2,9). Doch das ist zugleich eine Verpflichtung der Kirche, für alle Menschen einzutreten. Es geht dabei um die Entdeckung und Sicherung ihrer einmaligen Würde und ihrer Rechte, die ihnen keiner nehmen darf. Wir sahen darin eine neue Inkarnation, eine Menschwerdung der Kirche, die dringend anstand. Wir sahen darin die Nachfolge Jesu, der alle Herrlichkeit und Macht von sich tat, sich arm machte, Mensch unter Menschen (vgl. Phil 2,5-11), ihnen ganz nahe in Freude und Hoffnung, in Trauer und Angst, in Leben und Tod. Das meint genau dies, was wir in heutiger Sprache unter Solidarität verstehen, Solidarität Gottes in Jesus mit allen Menschen, unabhängig, ob sie zur Kirche gehören oder nicht.

Die nachkonziliare Entwicklung der Kirche hat dieser neuen Menschwerdung Jesu in seiner Kirche, dieser Bekehrung zu den Menschen, nicht Stand gehalten. Es setzten sich wieder vielfach die Synagogenwärter und Gesetzeslehrer durch, getrieben von der Angst, durch die Öffnung für die Menschen könnte die Eindeutigkeit der Lehre und die hierarchische Einheit der Kirche in Gefahr geraten. Die Unterdrückung der Befreiungstheologie Lateinamerikas, das starre Festhalten an einer alten Sexualmoral, die selbst angesichts von AIDS nicht ihre eigene Unmenschlichkeit wahrnimmt, die Verdächtigung aller kontextuellen Theologien in den verschiedenen Kontinenten, vor allem auch der Theologie von Frauen, die Verurteilung von Homosexuellen, deren Freude und Hoffnung, Trauer und Angst man eben gerade nicht wahrnimmt, die Verweigerung des Priesteramtes für Frauen, das Festhalten am Zölibat, der offizielle Ausschluss von Geschiedenen und Wiederverheirateten und allen evangelischen Chrisen von der Kommunion, dem Mahl Jesu, und viele andere Entscheidungen versuchen, den Anfangssatz der Erklärung über die Kirche in der Welt von heute zu umgehen oder klarer: ihn rückgängig zu machen. So zumindest empfinden es viele Gläubige, ich auch.

Religions- und Gewissensfreiheit

Angesichts der weltweiten Erfahrung anderer Religionen und des Zusammenlebens mit glaubenslosen Menschen und dezidierten Atheisten sowie der wachsenden Freiheitserfahrung der Menschen und der Demokratisierung vieler Staaten, angesichts der wachsenden Bedeutung der Menschenrechte war ein neues Nachdenken über die Religions- und Gewissensfreiheit nötig. Da war viel aufzuarbeiten und in der Praxis der Kirche zu korrigieren. Die Kirche forderte vorher Toleranz, wo sie in der Minderheit war, verweigerte sie aber, wo sie die Mehrheit war. Die äußerste Formel von Freiheit war: Toleranz für die Irrenden, aber nicht für den Irrtum. Aber wie soll man das trennen?

Den Höhepunkt kirchenamtlicher Freiheitsverweigerung und der Liaison zwischen Kirche und Staat in dieser Frage war die Enzyklika „Mirari vos“ von Gregor XVI von 1832:

Aus dieser ganz verdorbenen Quelle des Indifferentismus erfloss die absurde und irrige Meinung oder vielmehr Verrücktheit, jedem Menschen sei Gewissensfreiheit zuzuerkennen und zu garantieren. Zu diesem höchst verderblichen Irrtum führte die volle und unbeschränkte Meinungsfreiheit, die zum Schaden der Kirche und des Staates sich überall hin ausbreitete, und von der einige recht unverschämt behaupteten, sie gereiche der Religion zum Vorteil… Wir können für die Religion und die Staatsgewalt nichts Erfreuliches prophezeien aus den Wünschen derer, welche die Kirche vom Staat trennen und das gegenseitige Einvernehmen zwischen Staatsgewalt und Priestertum zerstören möchten. Offenbar fürchten die Anhänger einer schrankenlosen Freiheit diese Eintracht, die sich stets für Kirche und Staat als glücklich und segensvoll erwiesen hat.“

Es gab heftige Auseinandersetzungen um dieses Thema. Der konservative Teil der Bischöfe, vor allem aber die Kurie, wollte an dem alten Schema festhalten und sah in der Religionsfreiheit für alle eine große Gefahr für die Katholische Kirche und für deren Selbstverständnis als allein wahre Kirche im Sinne Gottes. Doch die Mehrheit der Bischöfe setzte ein neues Verständnis mit anthropologischen und theologischen Argumenten durch.

Einige Zitate zunächst zur anthropologischen Begründung der Religionsfreiheit:

Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlichen Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als Einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht gehört.“ (Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitas humanae“, DH, Nr. 2)

Die Sozialnatur des Menschen erfordert aber, dass der Mensch innere Akte der Religion nach außen zum Ausdruck bringt, mit anderen in religiösen Dingen in Gemeinschaft steht und seine Religion gemeinschaftlich bekennt.“ (Nr. 3)

Doch die Begründung erfolgt in einem zweiten Schritt auch aus der Natur des Glaubensaktes selbst:

Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser losgekauft und zur Annahme an Sohnes statt durch Jesus Christus berufen, dem sich offenbarenden Gott nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, Gott einen vernunftgemäßen und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang von Seiten der Menschen ausgeschlossen ist. (Nr. 10)

Damit ist auch zum ersten Mal in der Kirchengeschichte offiziell anerkannt, dass es auch die freie Entscheidung gegen jedweden Glauben gibt. Nichtglaubende, Agnostiker oder Atheisten haben eben auf ihre Weise entschieden. Die Freiheit zu einer solchen Entscheidung steht ihnen auf Grund ihrer eigenen Würde zu und muss von den Gläubigen geachtet werden.

Die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit schließen die Gewissensfreiheit jedes Einzelnen auch in der Kirche ein. Das anzuerkennen fällt der offiziellen Kirchenleitung bis heute schwer. Die Kirchengeschichte nach dem Konzil ist nicht ohne Brüche. Dafür exemplarisch einige Beispiele:

Als die Kirche Lateinamerikas sich aus dieser Gefangenschaft befreien wollte, eine befreiende Praxis und eine befreiende Theologie entwickelte als Folge der Öffnung durch das Konzil, die Option für die Armen lebte, war es Kardinal Ratzinger als Chef der Glaubensbehörde, die die Befreiungstheologie verurteilte, Schweigebote verhängte, die Theologinnen und Theologen verdächtigte und dafür sorgte, dass die Befreiungstheologie von den Universitäten verbannt wurde und auch entsprechende Initiativen der Orden verhinderte. Bischöfe wurden eingesetzt mit dem Ziel, die befreiende Praxis ihrer Vorgänger rückgängig zu machen. Ähnliche Restriktionen mussten europäische Theologen und Theologinnen erfahren.

In Deutschland wurde auch auf Druck der Bischöfe das Abtreibungsgesetz, das eine Fristenlösung bei bestimmten Fällen erlaubte, geändert und eine vorherige Beratung zur Pflicht gemacht. Fast alle deutschen Bischöfe bejahten dies als die beste erreichbare Lösung und beteiligten sich mit den kirchlichen Beratungsstellen an dieser Regelung. Doch der Papst Johannes Paul II und Kardinal Ratzinger sahen darin eine Beeinträchtigung der Eindeutigkeit kirchlicher Lehre und zwangen die Bischöfe, gegen ihr Gewissen aus dieser Beratung auszusteigen. Als dann engagierte Laien die Beratung in dem Verein „Donum vitae“ fortsetzten, verboten die Bischöfe – wieder auf Druck von Rom – kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort mitzuarbeiten, obwohl diese doch nur taten, was die Bischöfe bislang von ihrem Gewissen her als die bestmögliche Hilfe ansahen.

Ein weiteres Beispiel dafür ist die Reaktion von Bischöfen auf das jüngste Memorandum katholischer Theologieprofessorinnen und –professoren „Kirche 2011. Ein notwendiger Aufbruch“. Sie fordern eine Änderung der kirchlichen Praxis in vielen Bereichen, um die Kirche fähig zu machen, in der heutigen Zeit als Zeugin der Frohen Botschaft glaubwürdiger zu werden. Auch da geht es um die Gewissens- und Glaubensfreiheit:

Der Respekt vor dem individuellen Gewissen bedeutet, Vertrauen in die Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit der Menschen zu setzen. Diese Fähigkeit zu unterstützen, ist auch Aufgabe der Kirche; sie darf aber nicht in Bevormundung umschlagen. Damit ernst zu machen, betrifft besonders den Bereich persönlicher Lebensentscheidungen und individueller Lebensformen. Die kirchliche Hochschätzung der Ehe und der ehelosen Lebensform steht außer Frage. Aber sie gebietet nicht, Menschen auszuschließen, die Liebe, Treue und gegenseitige Sorge in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder als wiederverheiratete Geschiedene verantwortlich leben.“ (Nr.4)

Sofort kam die Reaktion von Bischöfen: Die Autoren ließen eine Verarbeitung der Grundlagentexte das Zweiten Vatikanischen Konzils vermissen. Sie würden nur die alten Reformforderungen wieder aufgreifen. Ihnen wird das „sentire cum ecclesia“ abgesprochen. Aber das „sentire cum ecclesia“, das „Denken und Fühlen mit der Kirche“ heißt nicht Denken und Fühlen mit der Hierarchie, sondern es bleibt ein „sentire cum et in ecclesia“, auch da, wo man auf Grund der eigenen Gewissensüberzeugung anderer Meinung ist als die Kirchenleitung. Denn die „ecclesia“ ist nach der Überzeugung des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht die Hierarchie, sondern das ganze Volk Gottes.

Wir, die Kirche, stehen da vor entscheidenden Fragen nach der Zukunft der Kirche. Es geht um die „Zeichen der Zeit“, auf die zu achten das Konzil die Kirche verpflichtet hat, nicht um ein „Christentum light“, wie es jetzt Bischöfe dem Memorandum vorwerfen. Die Frage der Gewissens- und Glaubensfreiheit wird heute neu zur Gewissensfrage aller Mitglieder der Kirche. Bevormundung und Besserwisserei haben auf keiner Seite der Kirche ein Recht, sondern nur ein intensiver Glaubensdialog, wo sich die Gläubigen mit und ohne kirchliches Amt auf Augenhöhe begegnen, sowie Argumente und Erfahrungen ohne gegenseitige Verdächtigung austauschen. In dem begonnenen Dialog zwischen den Bischöfen und dem Kirchenvolk gibt es aber wieder die alten Tabuthemen: Zölibat, Geschiedene und Wiederverheiratete, Geburtenregelung, eucharistische Gastfreundschaft, Homosexualität, Mitbestimmung der Gläubigen und andere.

Viele Gläubige an der Basis, auch viele Theologinnen und Theologen haben den Eindruck, wenn es der Hierarchie an Argumenten mangelt, beruft sie sich auf das „göttliche Recht“, an das sie gebunden sei. Dabei hat sich das „göttliche Recht“ im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt und wird in den anderen christlichen Kirchen auch anders gesehen. Achtung vor der Gewissensfreiheit und damit der Würde jedes einzelnen Menschen verlangt aber nicht nur Mitsprache auf Augenhöhe, sondern auch Mitentscheidung, die den Gläubigen zusteht, ihnen aber vorenthalten wird. Auch der „Dialog“, der auf mehrere Jahre konzipiert ist und für den die Bischöfe sich ihre Gesprächspartner aussuchen, darf keine Entscheidungen treffen. Was daraus wird, ist letztlich dem Wohlwollen der Bischofskonferenz überlassen. Selbst die Bischofssynode in Rom hat kein Entscheidungsrecht, sondern darf nur Empfehlungen an den Papst richten. Die Kirchenleitung tut sich offenbar immer noch schwer, die Gewissensfreiheit anzuerkennen.

Es ist also hohe Wachsamkeit der Gläubigen, insbesondere der Theologinnen und Theologen erforderlich, damit die Verdächtigung der Gewissensfreiheit in der Kirche sich nicht wieder ausbreitet. Diese Wachsamkeit muss sich vor allem darin zeigen, dass jeder und jede Gläubige offen sagt, was er/sie denkt, und sich dafür auch mit anderen Gläubigen verbündet, um gemeinsam die eigene Ansicht zur Geltung zu bringen – im Respekt vor der Gewissensfreiheit der anderen. Das Konzil hat ja ausdrücklich anerkannt, dass die Sozialnatur des Menschen auch die gemeinschaftliche Meinungsäußerung und Aktion einschließt.

Das gilt auch innerhalb der Kirche. Solche gemeinsame Meinungsäußerung ist nicht eine Aufkündigung der Solidarität innerhalb der Kirche, sondern legitime Mitwirkung. Die Bischöfe und der Papst sollten diese Äußerung ernst nehmen. Das gleiche gilt natürlich auch innerhalb der einzelnen Gemeinden. Die Gewissensfreiheit wird nicht großmütig eingeräumt. Sie muss immer neu in Anspruch genommen werden.

Neue Wege des Konzils

Was hier an zwei Beispielen verdeutlicht wurde, welche neuen Wege das Konzil eröffnet hat, ließe sich an vielen weiteren Entscheidungen aufzeigen, die hier nur angedeutet werden können.

In der Erklärung zur Eucharistie ging es darum, die Anwesenheit Jesu Christi von der Verengung auf die verwandelten Gestalten von Brot und Wein zu befreien und ihn in seinem Wort und in der versammelten Gemeinde neu zu entdecken, die priesterzentrierte Opferhandlung zum gemeinsamen Mahl aller Gläubigen zu öffnen und den Gottesdienst in der jeweiligen Landessprache mit den religiösen Traditionen der Menschen zu feiern. Die Forcierung der alten tridentinischen Gottesform in lateinischer Sprache durch Benedikt XVI widerspricht der Intention des Vatikanum II und ist wohl vor allem durch das Entgegenkommen des Papstes den Piusbrüdern gegenüber zu verstehen.

In dem Dekret zum Ökumenismus ging es um ein neues Verhältnis vor allem zu den Kirchen der Reformation. Sie wurden allerdings nicht als Kirchen, sondern nur als kirchliche Gemeinschaften anerkannt. Ihrer Abendsmahlsfeier wurde wegen des Fehlens des autorisierten Amtes nicht die volle Wirklichkeit der Eucharistie zuerkannt. Doch es wird anerkannt, dass „bei der Gedächtnisfeier der Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet wird.“ Umso unverständlicher ist bis jetzt die Verweigerung der Eucharistischen Gastfreundschaft, die gegenseitige Einladung zu Abendmahl und Eucharistie, wie sie das Ökumenische Pfingsttreffen in Augsburg bereits 1971 gefordert und praktiziert hat.

Ähnliche Entwicklungen ließen sich aufzeigen in den Aussagen zur Offenbarung, des Verhältnisses zu den Juden als den älteren Geschwistern im Glauben und zu den nichtchristlichen Religionen als anderen Heilswegen.

Streit um die Auslegung des Konzils

Durch die Praxis der Kirchenleitung, in den Bischofsernennungen, in vielen neuen Entscheidungen, in der mangelnden Umsetzung des Konzils im neuen Kirchenrecht, im Erwachsenenkatechismus von 1993 und im Jugendkatechismus „Youcat“ von 2011 wird deutlich, dass maßgebliche Teile der Kirchenleitung, aber auch in Teilen der Kirche, die neuen Aufbrüche des Konzils, die von vielen Gliedern der Kirche als notwendige Bekehrung verstanden wurden und werden, wieder zurückdrängen wollen. Das wird deutlich in der programmatischen Rede von Benedikt XVI vom 22. Dezember 2005.

Der Papst unterscheidet zwischen zwei unterschiedlichen Interpretationen des Konzils: Die einen lesen die Konzilstexte im Sinne der Kontinuität der katholischen Lehre, die anderen im Sinne der Diskontinuität, d.h. sie stellen die Diskrepanzen in der Lehre fest und interpretieren die Texte progressiv, nach vorne, nach heute und morgen hin offen. Der Papst sieht in der ersten Weise die einzig legitime Interpretation der Konzilstexte und wirft den anderen eine Verfälschung vor. Doch es bleibt sein Rätsel, wie man die oben genannten Beispiele der Änderung bisheriger Aussagen im Sinne der Kontinuität kirchlicher Lehre ohne Geschichtsklitterung verstehen kann. Es bleibt also der Streit um das Konzil und damit um viele Kirchenfragen offen.

Gerade angesichts des 50. Jahrestags der Konzilseröffnung spitzt sich die Frage noch einmal zu in der Auseinandersetzung oder Versöhnung mit den Piusbrüdern, die offensichtlich ein besonderes Anliegen des Papstes ist. Die Piusbrüder haben ja Recht mit ihrer Interpretation der neuen Aussagen des Konzils, die von der früheren Lehre der Kirche abweichen. Gerade deswegen wollen sie das Konzil nicht akzeptieren. Kommt der Papst jetzt ihnen mit einer aufweichenden Interpretation des Konzils näher? Was für viele Christinnen und Christen die befreiende Botschaft des Konzils ist, ist für die Piusbrüder Verrat an der Botschaft. Wenn der Papst ihnen entgegenkommt, wird das die schon vorhandene Spaltung in der Kirche vertiefen und die notwendigen Strukturveränderungen weiter blockieren.

Das „Aggiornamento“, „Heutigwerden“, das Johannes XXIII zur Einberufung des Konzils gefordert hat, muss jedoch weitergeführt werden, wenn die Kirche neue Glaubwürdigkeit gewinnen will. Viele Katholikinnen und Katholiken werden sich dann mit Freude an diesen vorwärtsweisenden Prozessen beteiligen, die Kirche tragen und so der Frohen Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit neue Kraft verleihen: zur Ehre Gottes und zum Wohl aller Menschen, der Armen und der Bedrängen zuerst.

Quelle: Internetforum futur2.org

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


× 8 = zwanzig vier