Der Innsbrucker Theologe Paul Weß wendet sich in seinem neuen Buch „Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus“ (Otto Müller Verlag, Salzburg/Wien 2010) gegen Fundamentalismus in Form von „zirkulären Selbstbegründungen des Glaubens“. Wenn nicht kirchliche Praxis sondern ausschließlich eine zu glaubende Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus zum eigentlichen Zugang zum Glauben erklärt wird, handele es sich um ein solche zirkuläre Selbstbegründung, um Fundamentalismus. Er zeigt auf, dass auch das II. Vatikanische Konzil in einem solchen Fundamentalismus stecken blieb, obwohl es nach dem Kommentar des Konzilstheologen Joseph Ratzinger zum ersten Kapitel des ersten Teils der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute bereits erkannte, dass das Versagen der Kirche in sozialen Fragen eine wesentliche Rolle für die Verbreitung des Atheismus gespielt hat. In diesem Zusammenhang macht der jetzige Papst sozialpolitische Aussagen, die geradezu von der Befreiungstheologie stammen könnten, die er später als Präfekt der Glaubenskongregation kritisiert hat. Wir dokumentieren im Folgenden die vier Seiten (39-42), in denen Paul Weß den Kommentar von Ratzinger und die Position des Konzils analysiert:
In seinem Kommentar zum Artikel 20 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ schrieb Joseph Ratzinger zu der Ablehnung der Forderung von 220 Konzilsvätern, dass der Kommunismus ausdrücklich genannt und über den Atheismus hinaus „alle seine Irrtümer“ verurteilt werden sollen: „Dass die Kirche den Atheismus nur ablehnen kann und dass sie nicht bloß der Verfolgung der Gläubigen, sondern überhaupt dem Angriff auf die menschliche Freiheit ganz allgemein entgegentreten muss, ist klar. Aber dass sie darüber hinaus auf ihren eigenen Anteil an der ganzen Frage des Marxismus, auf die Mangelhaftigkeit ihres eigenen ‚Humanismus‘ sich besinnen und so die umfassende, auch sie selbst angehende Frage, die der Marxismus bedeutet, annehmen muss, ist nicht weniger klar. Dass sich die Kirche im Konzil zu diesem Schritt entschlossen hat, ist das eigentliche Drama, das hinter dem Artikel 20 steht und ihn als einen Meilenstein in der Kirchengeschichte unseres Jahrhunderts erscheinen lässt, der an Bedeutung wohl wenig hinter der Entscheidung zurückbleibt, welche die Erklärung über die Religionsfreiheit darstellt. Hier ist eine neue Haltung gewonnen, die grundlegend sein wird für die Möglichkeit, in den Strukturen und unter den Voraussetzungen unseres Jahrhunderts den Glauben zu verkündigen. Die Gewissenserforschung, die von diesem Text ausgeht (von dem, was er nicht sagt, mehr noch als von dem, was er sagt), die Erschütterung der Identifizierung des Christlichen mit der westlichen Welt und der Ansporn, das Leid der Armen, die Not der Entrechteten als christliche Aufgabe anzusehen, weil Christentum sich als Humanismus legitimieren muss, um bestehen zu können – diese Gewissenserforschung wird in den bevorstehenden Auseinandersetzungen mehr Möglichkeiten der Wegweisung geben, als eine durchgeführte Darstellung des Kommunismus und eine erneuerte Verurteilung sie hätten bieten können.“ (37)
In diesen Worten klingt schon eine Kritik an der kirchlichen Praxis an, die durch ihren Mangel an „Humanismus“ zur Entstehung des atheistischen Kommunismus beigetragen hat. Im Artikel 21 der Pastoralkonstitution sagt auch das Konzil etwas aus über die Bedeutung einer evangeliumsgemäßen kirchlichen Praxis als einer wichtigen Antwort auf den Atheismus: „Das Heilmittel gegen den Atheismus aber ist sowohl von einer geeigneten Darlegung der Lehre als auch vom integren Leben der Kirche und ihrer Glieder zu erwarten. Denn es ist Aufgabe der Kirche, Gott, den Vater, und seinen fleischgewordenen Sohn gegenwärtig und gleichsam sichtbar zu machen, indem sie sich unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und reinigt. Das wird vor allem erreicht durch das Zeugnis eines lebendigen und reifen Glaubens, der nämlich so weit ausgebildet ist, dass er die Schwierigkeiten klar zu durchschauen und zu überwinden vermag. Ein leuchtendes Zeugnis dieses Glaubens gaben und geben die vielen Märtyrer. Dieser Glaube muss seine Fruchtbarkeit bekunden, indem er das gesamte Leben der Gläubigen, auch das profane, durchdringt und sie zu Gerechtigkeit und Liebe, vor allem gegenüber den Bedürftigen, bewegt. Dazu, dass Gottes Gegenwart offenbar werde, trägt schließlich besonders die brüderliche Liebe der Gläubigen bei, die im Geist einmütig zusammenarbeiten für den Glauben an das Evangelium und sich als Zeichen der Einheit erweisen“ (DH 4321).
Diese Aussagen greift Joseph Ratzinger in seinem Kommentar zustimmend auf, und er geht sogar darüber hinaus, indem er die Praxis der Kirche in der Begegnung mit dem Atheismus für noch wichtiger erklärt als ihre Lehre (von einer Berufung auf die Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes ist hier keine Rede): „Die eigentliche Antwort auf den Atheismus ist das Leben der Kirche, das das Antlitz Gottes sichtbar machen soll, indem es das Antlitz von Einheit und Liebe sichtbar macht. Das schließt doch umgekehrt das Zugeständnis ein, dass durch die Uneinigkeit der Christen und ihre Zustimmung zu Systemen sozialer Ungerechtigkeit das Antlitz Gottes verdeckt wird. Das aber impliziert die Einsicht, dass die Frage der Erkenntnis Gottes keine Frage der puren Vernunft ist, sondern dass es eine durch Schuld heraufbeschworene Verdunklung Gottes in der Welt gibt, die nur durch Umkehr und Buße gewendet werden kann. Wichtig ist auch, die zwei Hauptelemente zu beachten, die als Inhalt des christlichen Zeugnisses angegeben werden: die Gerechtigkeit und Liebe, besonders gegen die Notleidenden – damit wird (vielleicht nicht ausdrücklich und scharf genug) das Problem der sozialen Gerechtigkeit angesprochen -, die Forderung einer Liebe, die sich nicht durch Almosen der Gerechtigkeit entzieht, sondern Gerechtigkeit als Form und Voraussetzung von Liebe ernst nimmt und damit wesentlich auch auf die sozialen Strukturen und auf die institutionellen Ordnungen dieser Welt bezogen ist. Dann erst wird die ‚brüderliche‘ Liebe genannt, die man wohl als die zeichenhafte Liebe der Christen untereinander verstehen darf; sie soll die Christen in einer zerrissenen und nach Einheit trachtenden Welt zum signum unitatis machen. … Nicht zu übersehen ist, dass als Zeichen christlichen Lebens auch das Martyrium genannt wird …“ (38)
Wenn man diesen Text Joseph Ratzingers liest und dazu noch die am Beginn dieses Abschnitts zitierten Sätze mit seinem Kommentar zum Artikel 20, wo er für eine selbstkritische Antwort der Kirche auf den marxistischen Atheismus plädiert, klingt das wie ein Plädoyer für die Befreiungstheologie, die sich aus christlicher Glaubensüberzeugung für soziale Gerechtigkeit und eine Änderung nicht nur der Gesinnung der Einzelnen, sondern auch der gesellschaftlichen Strukturen einsetzt. Trotzdem wurde diese Theologie später von ihm als Leiter der Glaubenskongregation abgelehnt und mit den Mitteln kirchlicher Disziplinierung bekämpft. Obwohl Ratzinger „das Leben der Kirche“ hier als die „eigentliche Antwort auf den Atheismus“ bezeichnet, zieht er in seinem Konzilskommentar keine Konsequenzen für die Gotteserkenntnis in dem Sinn, dass diese auf Erfahrungen von Gerechtigkeit und Liebe angewiesen ist, also nicht mit der Berufung auf eine einmal erfolgte Offenbarung oder mit einer Gotteserkenntnis durch eine rein theoretische Vernunft begründet werden kann. Wenn es möglich wäre, den christlichen Glauben durch eine erfahrungsunabhängige Vernunfterkenntnis oder eine geschichtlich fassbare Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus zu sichern, könnte er zwar durch konkrete Mängel im Leben der Kirche erschwert oder verdunkelt werden, müsste aber prinzipiell unabhängig von diesen zugänglich sein und wäre daher nicht wirklich auf die entsprechende Praxis der Gläubigen angewiesen. In der Verurteilung der Theologie der Befreiung durch den jetzigen Papst zeigt sich, dass für ihn die Berufung auf eine – der Verkündigung der Kirche zu glaubende – Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus der eigentliche Zugang zum Glauben ist und bleibt, obwohl es sich dabei um eine zirkuläre Selbstbegründung handelt.
Auch das Konzil blieb schon in einem solchen Fundamentalismus stecken und konnte daher trotz mancher Hinweise keine genügenden Antworten auf die Argumente des Atheismus geben. Die Praxis wurde zwar in ihrer Bedeutung als Zeugnis für den Glauben in der Auseinandersetzung mit dem Unglauben gesehen, aber ihre Relevanz für den Zugang zum Glauben wurde nicht erkannt. Daher wurden auch keine entsprechenden Folgerungen für eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung gezogen.
Fußnoten:
37 Joseph Ratzinger, Kommentar zum ersten Kapitel des ersten Teils der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, in: Lexikon für Theologie und Kirche². Ergänzungsband 3, 313-354; hier 343. Vgl. ähnlich kritische Worte zu Artikel 21 ebd. 348: „Freilich müsste gerechterweise zugegeben werden, dass faktisch die christliche Hoffnung doch vielfach dazu tendiert hat, den Impuls zur irdischen Aufgabe abzuschwächen, und dass die christliche ‚Weltverachtung‘ doch zur Folge hatte, dass der humanistische Impuls des Christentums gegen das amtliche Christentum weitergeführt werden musste. Sagt man das nicht, so wirkt die Behauptung, die christliche Hoffnung mindere nicht die Energie des irdischen Einsatzes, als bloße Beteuerung, der die Tatsachen widersprechen.“
38 Ebd. 348f.