von Dr. Julia Lis
Spiritualität im Dienst der Befreiung
Die Freude, mit der das Lehrschreiben begonnen hatte, kehrt auch zum Schluss des Schreibens als zentrales Motiv wieder. Der Grund dieser Freude ist die Möglichkeit, an einer anderen Welt mitzubauen und darin die Gegenwart des Reiches Gottes wie den Sinn der Nachfolge zu erfahren. Sie soll deshalb die Haltung der Evangelisierenden bestimmen und ihr ganzes Leben durchdringen. Spiritualität, so wie Papst Franziskus sie hier darlegt, ist kein weltabgewandter, esoterischer „anderer“ Raum, sondern beschreibt eben jene Haltung, die die Beteiligung am Aufbau des Reiches Gottes ermöglicht und dafür sorgt, dass das Engagement dafür beständig bleibt. Kennzeichnend für diese Haltung ist die Furchtlosigkeit, das Evangelium als eine Frohe Botschaft vom Reich Gottes, deren erste Adressat_innen die Armen sind, „mit lauter Stimme, zu allen Zeiten und an allen Orten, auch gegen den Strom“ [259] zu verkündigen.
Authentisches Engagement
Für eine solche Haltung des Einsatzes für das Reich Gottes (so hatte Papst Franziskus zuvor Evangelisierung definiert) bedarf es eines Engagements, das das ganze Leben prägt. So wird das Leben der Evangelisierenden zum authentischen Zeugnis für eine Botschaft, die nicht allein durch Worte verkündigt werden kann [259]. Dieses Zeugnis kann nur dann überzeugend und ansteckend auf andere wirken, wenn es nicht gelebt wird als „Ansammlung von Aufgaben, die als eine drückende Verpflichtung erlebt werden, die man bloß toleriert oder auf sich nimmt als etwas, das den eigenen Neigungen und Wünschen widerspricht“ [261]. Damit eine authentische Evangelisierung möglich wird, bedarf es aber nicht nur einer veränderten Haltung der Einzelnen. Vielmehr brauche die Kirche als Ganze den Heiligen Geist, um sie „zu erneuern, aufzurütteln, anzutreiben“ [262], damit sie neu wagt, die Botschaft des Evangeliums der Welt klar und deutlich zu verkündigen.
Der Papst wendet sich deutlich gegen eine pastorale Mentalität, die auf ein „breites Angebot“ setzt, das verschiedene Sparten und Zielgruppen abdeckt, gegen eine Pastoral also, die einer Marktlogik verpflichtet bleibt und eine Konsummentalität befördert, und kritisiert sie dafür, das Evangelium zu verstümmeln [262]. Spiritualität kann nicht durch unterschiedliche mystische Angebote erzeugt und befördert werden, wenn sie die Haltung ist, die es für die Evangelisierung und damit die Veränderung der Welt braucht. Wenn sie vom befreienden Engagement der Gemeinschaft für eine andere Welt getrennt wird, dann gerät beides in eine Schieflage: Dem Engagement fehlt ein Gesamtsinn und eine klare Ausrichtung und es droht zu bloßem sozialen oder pastoralen Aktionismus zu verkommen. Die Spiritualität ohne Engagement dagegen ignoriert die Logik der Inkarnation, indem sie eine individualistische Mentalität befördert, die den Glauben von der Welt abspaltet [262]. Eindringlich warnt der Papst somit vor einer religiösen Haltung, die einer Privatisierung der Religion Vorschub leistet und Religion zu einem Konsumartikel macht, dessen Zweck es ist, die Work-Life-Balance des Einzelnen zu befördern und sein Leben unter den Bedingungen einer zutiefst ungerechten Welt erträglicher zu gestalten. Dies schärft den kritischen Blick auf so manches kirchliche Angebot auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten und lässt danach fragen, welche Funktion es in Wirklichkeit erfüllt und inwieweit es geeignet ist, wirklich eine Spiritualität zu befördern, die die Einzelne dazu ermutigt, ihr Leben in den Kontext der Befreiung und Veränderung der Welt zu stellen.
Dazu ist aber der Bezug auf die Gemeinschaft unerlässlich, das Hinausgehen aus einem rein individuellen Glaubensverständnis, die Überwindung der Privatisierung der Religion. Denn das „Wort Gottes lädt uns auch ein,“ – so Papst Franziskus – „zu erkennen, dass wir ein Volk sind“ [268]. Mit „Volk“ ist hier natürlich gerade nicht eine nationale „Volksgemeinschaft“ gemeint, die eine künstliche Einigkeit herstellt, um herrschende Interessen zu verschleiern und Ausschlüsse produziert. Vielmehr geht es um die Masse der einfachen Leute, die anfangen, sich nicht mehr als Ansammlung vereinzelter Individuen zu begreifen, sondern zu einer Gemeinschaft werden, die zusammen für ihre Rechte eintritt.
Spirituell bedeutet das Bewusstsein ein Volk Gottes zu sein, die Abkehr von einer Gott-und-ich-Spiritualität hin zu einer Spiritualität, die Gottes Liebe und Leidenschaft für sein Volk in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Spiritualität ist geknüpft an die persönliche Entscheidung, „bei den anderen und für die anderen da zu sein“, die das ganze Leben – nicht nur einen Teil – in den Dienst der Evangelisierung stellt und darauf verzichtet, an erster Stelle ständig nach Anerkennung zu suchen oder die eigenen Bedürfnisse zu verteidigen [273]. Weil dem Menschen von Gott eine unvergleichliche Würde und Heiligkeit geschenkt ist, ist der Einsatz für die Würde des Menschen, für ein besseres Leben der Armen und Leidenden etwas, dem höchste Bedeutung zukommt und das den Einsatz des ganzen Lebens rechtfertigt [274].
Mystik der offenen Augen
Im Mittelpunkt von Mystik und Gebet steht die Evangelisierung – Papst Franziskus macht an diesem Punkt sehr deutlich, das bereits viel über die klassischen Themen der Spiritualität wie Gebet und Liturgie gesagt wurde, dass sein Anliegen aber vor allem ist, diese nicht außerhalb des Kontextes der Evangelisierung zu betrachten [260] . Wo die Zeit für das Gebet das Engagement für das Reich Gottes behindert, sieht Franziskius eine „Privatisierung des Lebensstils“ und eine „falsche Spiritualität“ am Werk [262] .
Dagegen stellt Papst Franziskus ein Verständnis des kontemplativen Geistes nicht als fromme Versenkung, sondern als Haltung, die das Gute immer wieder neu entdecken lässt und die Sehnsucht nach einem neuen, menschlicheren Leben weckt [264]. Denen, die sich auf eine solche Haltung einlassen, wird es zum Bedürfnis, aber auch zur Quelle der Freude, nahe am Leben der Menschen zu sein. Die Leidenschaft, die sie für Jesus empfinden, lässt sich nicht mehr trennen von der Leidenschaft für sein Volk, die darin zum Ausdruck kommt, die Würde dieses Volkes zu entdecken und ihre Identität gerade aus der Zugehörigkeit zu diesem Volk zu verstehen und nicht in „frommer“ Isolation von ihm [268]. Sie führt vielmehr dazu, sich in die Gesellschaft einzugliedern, das Leben der anderen zu teilen und „uns Seite an Seite mit den anderen für den Aufbau einer neuen Welt“ einzusetzen. Dieser Einsatz – und hierin kommt die spirituelle Haltung zum Tragen – wird nicht empfunden als drückende moralische Pflicht, sondern als eine mit Freude getroffene persönliche Entscheidung, aus der sich die eigene Identität speist [269].
Der Papst bezeichnet es als eine große Versuchung, sich als Christ_in vom menschlichen Elend fernhalten zu wollen, vom Leiden der anderen unberührt zu bleiben, nicht damit konfrontiert werden zu wollen [270]. Eine solche Haltung hält er für unvereinbar mit einer jesuanischen Spiritualität: Jenseits von persönlichen oder gemeinschaftlichen Schutzräumen gehe es darum, sich dem Kern des menschlichen Leides auszusetzen, denn nur so wird es möglich, ernsthaft und nicht nur oberflächlich, das konkrete, wirkliche Leben der Menschen zu teilen und gemeinsam ein Volk zu sein [270]. Die Evangelisierenden sind gerufen, das Volk nicht zu verurteilen, nicht überheblich zu sein, sondern „Männer und Frauen des Volkes“. An diesem Punkt des Schreibens findet der Papst ungewöhnlich deutliche Worte: Dies sei nicht einfach seine persönliche Meinung und noch viel weniger eine mögliche Option unter anderen, eine Art pastorale Strategie, sondern hier stehe die Kernbotschaft des Wortes Gottes auf dem Spiel [271]. Diese gelte es zu leben – ohne Kommentare, ohne Relativierungen, Abschwächungen oder die Berufung auf „mildernde Umstände“.
Gottesliebe kann nur gelebt und erfahren werden in der Zuwendung zum Nächsten. In der Begegnung mit den Anderen werden wir befähigt, etwas von Gott zu entdecken und unseren Glauben zu vertiefen [272]. Evangelisierung kann also nicht verstanden werden als etwas, was wir einfach nur für die Anderen tun, sondern als ein Prozess, der uns durch die Zuwendung zu den Anderen, zu ihrer Not und ihrem Elend und der gemeinsamen Arbeit an deren Überwindung auch selbst aus unseren „engen geistlichen Schablonen“ [272] herausführt und für das befreiende Wirken des Heiligen Geistes öffnet.
Das bedeutet auch, dass ein Gebet, das uns nicht den Sorgen und Nöten der Menschen in der Welt näherbringt, sondern die anderen einfach draußen lässt, eine Täuschung sein muss [281]. Nur dort, wo das Gebet den Betenden „befreit von einer abgeschotteten Geisteshaltung und begierig das Gute zu tun und das Leben mit anderen zu teilen“ [282] sein lässt, erfüllt es seinen wirklichen Sinn.
Auferstehung – Glauben an das scheinbar Unmögliche
Vorbild für die Haltung, die einer Mystik der offenen Augen entspricht, ist für Christ_innen das Leben Jesu und seine Art, mit den Armen umzugehen [265]. Diese Orientierung an Jesus Christus macht es möglich, die Kraft und Leidenschaft nicht zu verlieren und sich die Begeisterung zu erhalten [266]. Sie treibt die Evangelisierenden dazu an, einen Schritt weiter zu gehen, über den engen Kreis der eigenen Interessen, Begabungen und Bedürfnisse heraus, hin zu einer Verkündigung des Evangeliums [267], der guten Botschaft für die Armgemachten und Marginalisierten. Jesus selbst wird zum Vorbild der Evangelisierung: So wie er in der Mitte des Volkes lebt, dem Volk nahe ist, so sollen es auch die Evangelisierenden sein. In dieser Logik wird der Tod Jesu am Kreuz nicht abgespalten von seinem Leben, sondern stellt vielmehr den „Höhepunkt dieses Stils, der sein ganzes Leben prägte“ [269], dar. So wird klar, dass Tod und Auferstehung Jesu angemessen nur verstanden werden können, wenn sie im Kontext seines irdischen Lebens, Wirkens und seiner Lehre betrachtet werden, nicht losgelöst davon.
Im Zentrum von Jesu Botschaft und Leben steht die Verkündigung vom Kommen des Reiches Gottes, das inmitten dieser Welt Wirklichkeit werden soll, der Glaube an eine grundsätzliche Veränderung dieser Welt also, an das Ende von Ungerechtigkeit und Unterdrückung.
Wo Menschen aufhören, an eine Veränderung der Welt zu glauben, da machen sich laut Papst Franziskus Pessimismus, Fatalismus und Misstrauen breit. Die eigenen Anstrengungen werden als sinnlos empfunden und es fehlt die spirituelle Motivation, auf Annehmlichkeiten und Vergnügen zu verzichten, da es keine Hoffnung gibt, dadurch ein Ziel zu erreichen. Solch eine Haltung ist zutiefst selbstzerstörerisch, weil sie die Menschen an die Bedeutungslosigkeit ihres eigenen Lebens und Handelns glauben lässt und in die Traurigkeit und eine selbstsüchtige Leere führt. [275]
Der Glaube und die Erinnerung an die Auferstehung Jesu können als Gegenmittel gegen eine solche Resignation dienen [275]. Weil mit der Auferstehung das Unmögliche möglich wird, weil der Tod bereits besiegt ist, können wir daran glauben, dass die Welt anders werden kann, dass das gewaltsame Sterben der Menschen an Hunger, Gewalt und Krieg aufhört und ein Leben in Fülle für alle Menschen Realität werden kann. So wird der auferstandene Christus zur Quelle der Hoffnung auf eine radikale Veränderung des Bestehenden.
Die Bedeutung der Auferstehung kann nicht auf ein einmaliges Ereignis in der Vergangenheit reduziert werden. Ihre Kraft durchdringt vielmehr eine Welt, die von den Strukturen des Todes beherrscht wird, und von „Ungerechtigkeit, Bosheit, Gleichgültigkeit und Grausamkeit“ [276] geprägt ist. Inmitten dieser todbringenden Strukturen gibt es aber immer wieder auch Anzeichen, für etwas Neues, das in der Geschichte aufscheint. Mögen auch viele historische Versuche, eine andere Welt aufzubauen, gescheitert sein, die Hoffnung darauf, dass eine andere, bessere Welt möglich ist, scheint immer wieder auf. Der Papst spricht vom Leben, das unbesiegbar ist, davon, dass das Gute immer wiederkommt und die Schönheit der Welt „durch die Stürme der Geschichte verwandelt, wieder aufersteht“ [262]. Auferstehung wird somit zu einer Dynamik, die die Geschichte durchdringt, sich dem Tod, der Hoffnungslosigkeit, der Resignation entgegenstellt und daran glauben lässt, dass unsere Hoffnung auf Befreiung nicht vergeblich war, dass vielmehr die Geschichte dieser Befreiung mit uns und durch uns weitergehen kann. So können wir daran glauben, dass unser eigenes Leben Frucht bringen wird, auch wenn wir vielleicht noch keine auffälligen Ergebnisse sehen können [279].
Die Welt wird neu
Gegen die Logik der Resignation, die Verhältnisse heute seien schwer und das Engagement deshalb zum Scheitern verurteilt, weil es auf zu viele Hindernisse stoße, erinnert der Papst daran, dass die Kirche von Beginn ihrer Existenz Schwierigkeiten ausgesetzt war und ihr Auftrag gerade darin bestehe, sich diesen in jeder Zeit neu zu stellen. So sei im Römischen Reich „die Lage weder für die Verkündigung des Evangeliums noch für den Kampf für die Gerechtigkeit oder die Verteidigung der Menschenrechte günstig“ gewesen [263]. So gebe es natürlich auch heute Schwierigkeiten oder Misserfolge, die Ergebnisse des verändernden Handelns blieben oft dürftig und so könnte sich auch eine gewisse Frustration einstellen. Tragisch sei es aber, wenn dieses Gefühl der Unzufriedenheit und Frustration so übermächtig wird, dass es den Glauben an die Auferstehung, an die Sinnhaftigkeit des eigenen Engagements für eine bessere Welt, verdunkelt und dem Karrierestreben, der Suche nach eigener Anerkennung und Beifall Platz macht und dafür Ausreden erfindet. [277]
An die Auferstehung zu glauben, bedeutet auch daran zu glauben, dass Gott wirklich in der Geschichte handelt, dass „er in seiner Macht und seiner unendlichen Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen lässt“ [278]. Die Auferstehung Christi lässt uns glauben, dass das Reich Gottes wirklich kommt, ja, dass es hier und dort bereits auf verschiedene Arten und Weisen wächst: „Es ist da, es kommt wieder, es kämpft um von neuem zu blühen.“ [278]. Konkret können wir heute vielleicht an die vielen Orte denken, wo sich Menschen bereits jetzt für eine andere, bessere Welt engagieren: an die Flüchtlinge und alle, die mit ihnen gemeinsam an vielen Orten auch in Deutschland, die tödliche Abschottungspolitik der EU anprangern und für ihr Recht kämpfen, sich frei zu bewegen und selber zu bestimmen, wo sie leben wollen; an die Menschen in Südeuropa, die sich gegen das Spardiktat wehren, das ihnen die Chancen auf würdiges Leben nimmt und versuchen, alternative, solidarische Lebens- und Wirtschaftsformen zu entwickeln; an die Kurd_innen, die ihr basisdemokratisches Projekt einer anderen Gesellschaft gegen den fundamentalistischen Terror wie gegen imperiale Interessen verteidigen und an viele andere, an verschiedenen Orten dieser Welt, die sich organisieren und aufmachen, für eine besseres Leben aller Menschen einzutreten und Modelle solidarischen Zusammenlebens entwickeln. Ihr Leben und ihr Engagement können uns zeigen: „die Auferstehung des Herrn hat schon das verborgene Treiben der Geschichte durchdrungen, denn Jesus ist nicht umsonst auferstanden“ [278]. Papst Franziskus ermutigt uns, Teil dieser Vorhaben zu werden, gemeinsam mit diesen Menschen am Reich Gottes mitzubauen und uns konkret einzubringen: „Bleiben wir in diesem Lauf der lebendigen Hoffnung keine Randfiguren!“ [278].
Maria – die zärtliche Revolutionärin
Auf den ersten Blick mag es konventionell erscheinen und an die Linie der letzten beiden Päpste anknüpfen, wenn ein päpstliches Lehrschreiben mit einem mariologischen Kapitel und einem marianischen Gebet schließt, das Maria zudem als „Stern der Neuevangelisierung“ [287] anspricht. Interessant aber ist, wie Franziskus gerade die Figur Marias bei aller Übernahme konservativer Sprachmuster und der problematischen Gleichsetzung der weiblichen mit der mütterlichen Seite [285] der Kirche neu akzentuiert. Nirgendwo ist von der Himmelskönigin die Rede, sondern Maria tritt vor allem als die arme, einfache Frau aus dem Volk in Erscheinung, die aber zum „Zeichen der Hoffnung für die Völker, die Geburtswehen leiden, bis die Gerechtigkeit hervorbricht“, wird [286]. Den marianischen Stil der Evangelisierung kennzeichnet der Papst als den Glauben an das revolutionäre Potential von Zärtlichkeit und Liebe. Das Bild der geduldigen und mitleidenden Mutter Maria öffnet sich hier auf eine andere Dimension, die in kirchlichen Dokumenten wie in der Marienvereherung zumeist völlig ausgeklammert wird: Die Maria des Magnifikat tritt zum Vorschein, jene Revolutionärin, die jubelnd von dem bald kommenden Umsturz singt, bei dem die Mächtigen von ihren Thronen stürzen und die Reichen leer ausgehen [288]. So wird Maria zur Begleiterin der Evangelisierenden in ihrem Streben danach, eine gerechte Weltordnung herzustellen, eine Vorbildfigur, die zum revolutionären Einsatz ermutigt. Zugleich ist Maria aber für Franziskus eine reflektierende Revolutionärin: Sie verliert sich nicht im blinden Aktionismus, sondern versucht die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen, indem sie über „das Geheimnis Gottes in der Welt, in der Geschichte und im täglichen Leben“ [288] nachdenkt. Und doch ist sie bereit aufzubrechen und zögert nicht, dort konkret Hilfe zu leisten, wo dies erforderlich wird [288]. So erscheint die biblische Figur der Maria, wie sie vor allem von Lukas gezeichnet wird, als Vorbild beides miteinander zu verbinden: den Kampf um Gerechtigkeit mit der Zärtlichkeit, die sich von der Not und vom Elend der Anderen wirklich berühren und bewegen lässt, aber auch das Betrachten der Welt, die Frage nach dem Wirken Gottes darin, die Reflexion über das Handeln Gottes in der Geschichte mit dem Aufbrechen, dem Zugehen auf die anderen, dem konkreten Engagement [288]. So wünscht sich Papst Franziskus, dass der Blick auf Maria dazu ermutigt, daran zu glauben, dass eine neue, eine andere Welt möglich ist und darauf zu Vertrauen, dass sich aus dem Glauben an die Auferstehung unsere Hoffnung speist, dass die Verheißung „Seht ich mache alles neu (Offb 21,5) hier in unserer Welt Wirklichkeit werden kann [288].
So bündelt auch das marianische Gebet zum Schluss mit Blick auf Maria die Grundaussagen des Schreibens: Es geht um die Notwendigkeit das Evangelium, die Frohe Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes, die Jesus verkündet hat, inmitten einer ungerechten, von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausschluss geprägten Welt zu bezeugen und am Aufbau einer besseren Welt mitzuwirken. Der Glaube an Jesus Christus, an seine Auferstehung, die von der Möglichkeit des Sieges trotz aller schmerzlichen Niederlagen und allen Scheiterns erzählt, soll es seinen Jünger_innen ermöglichen, selber als Auferstandene allen „das Evangelium des Lebens zu bringen, das den Tod besiegt“ – wie Papst Franziskus betet. Die Freude am Evangelium charakterisiert er hier zum Abschluss mit Blick auf die Freude Marias als „Leidenschaft, das Reich Gottes aufzubauen“, von der die erfüllt werden sollen, die sich auf eine Leben der Nachfolge einlassen und so zu Evangelisierenden werden. Das Programm dieser Nachfolge charakterisiert Franziskus abschließend nochmal mit klaren Worten: Zeugnis der Gemeinschaft, Dienst, Glaube, Gerechtigkeit und Liebe zu den Armen, die es der Kirche ermöglichen sollen, zu einer Gemeinschaft zu werden, deren Wirken, Quelle der Freude und der Hoffnung sein kann für alle die, die sich nach Brot und Würde sehnen.
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Der Text:
FÜNFTES KAPITEL
EVANGELISIERENDE MIT GEIST
259. Evangelisierende mit Geist sind Verkünder des Evangeliums, die sich ohne Furcht dem Handeln des Heiligen Geistes öffnen. Zu Pfings-ten ließ der Heilige Geist die Apostel aus sich selbst herausgehen und verwandelte sie in Verkünder der Großtaten Gottes, die ein jeder in seiner Sprache zu verstehen begann. Der Heilige Geist verleiht außerdem die Kraft, die Neuheit des Evangeliums mit Freimut (parrhesía) zu verkünden, mit lauter Stimme, zu allen Zeiten und an allen Orten, auch gegen den Strom. Rufen wir ihn heute an, fest verankert im Gebet, ohne das alles Tun ins Leere zu laufen droht und die Verkündigung letztlich keine Seele hat. Jesus sucht Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondern vor allem mit einem Leben, das in der Gegenwart Gottes verwandelt wurde.
260. In diesem letzten Kapitel werde ich keine Zusammenfassung der christlichen Spiritualität bieten, noch große Themen wie das Gebet, die eucharistische Anbetung oder die Feier des Glaubens entfalten, über die wir bereits wertvolle Texte des Lehramtes und berühmte Schriften großer Autoren haben. Ich beanspruche nicht, solchen Reichtum zu ersetzen oder zu übertreffen. Ich möchte einfach einige Überlegungen zum Geist der neuen Evangelisierung darlegen.
261. Wenn man sagt, etwas »hat Geist«, meint man damit für gewöhnlich innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen. Eine Evangelisierung mit Geist unterscheidet sich sehr von einer Ansammlung von Aufgaben, die als eine drückende Verpflichtung erlebt werden, die man bloß toleriert oder auf sich nimmt als etwas, das den eigenen Neigungen und Wünschen widerspricht. Wie wünschte ich die richtigen Worte zu finden, um zu einer Etappe der Evangelisierung zu ermutigen, die mehr Eifer, Freude, Großzügigkeit, Kühnheit aufweist, die ganz von Liebe erfüllt ist und von einem Leben, das ansteckend wirkt! Aber ich weiß, dass keine Motivation ausreichen wird, wenn in den Herzen nicht das Feuer des Heiligen Geistes brennt. Eine Evangelisierung mit Geist ist letztlich eine Evangelisierung mit dem Heiligen Geist, denn er ist die Seele der missionarischen Kirche. Bevor ich einige Motivationen und spirituelle Anregungen gebe, rufe ich einmal mehr den Heiligen Geist an; ich bitte ihn, zu kommen und die Kirche zu erneuern, aufzurütteln, anzutreiben, dass sie kühn aus sich herausgeht, um allen Völkern das Evangelium zu verkünden.
I. Motivationen für einen neuen missionarischen Schwung
262. Evangelisierende mit Geist sind Verkünder des Evangeliums, die beten und arbeiten. Vom Gesichtspunkt der Evangelisierung aus nützen weder mystische Angebote ohne ein starkes soziales und missionarisches Engagement noch soziales oder pastorales Reden und Handeln ohne eine Spiritualität, die das Herz verwandelt. Diese aufspaltenden Teilangebote erreichen nur kleine Gruppen und haben keine weitreichende Durchschlagskraft, da sie das Evangelium verstümmeln. Immer ist es notwendig, einen inneren Raum zu pflegen, der dem Engagement und der Tätigkeit einen christlichen Sinn verleiht.205 Ohne längere Zeiten der Anbetung, der betenden Begegnung mit dem Wort Gottes, des aufrichtigen Gesprächs mit dem Herrn verlieren die Aufgaben leicht ihren Sinn, werden wir vor Müdigkeit und Schwierigkeiten schwächer und erlischt der Eifer. Die Kirche braucht dringend die Lunge des Gebets, und ich freue mich sehr, dass in allen kirchlichen Einrichtungen die Gebetsgruppen, die Gruppen des Fürbittgebets und der betenden Schriftlesung sowie die ewige eucharistische Anbetung mehr werden. Zugleich »gilt [es], die Versuchung einer intimistischen und individualistischen Spiritualität zurückzuweisen, die sich nicht nur mit den Forderungen der Liebe, sondern auch mit der Logik der Inkarnation […] schwer in Einklang bringe ließe.«206 Es besteht die Gefahr, dass einige Zeiten des Gebets zur Ausrede werden, sein Leben nicht der Mission zu widmen, denn die Privatisierung des Lebensstils kann die Christen dazu führen, zu einer falschen Spiritualität Zuflucht zu nehmen.
263. Es ist förderlich, sich an die ersten Chris-ten und die vielen Brüder und Schwestern im Laufe der Geschichte zu erinnern, die von Freude erfüllt und voller Mut waren, unermüdlich in der Verkündigung und fähig zu großer tätiger Ausdauer. Es gibt welche, die sich damit trösten zu sagen, dass es heute schwieriger ist; allerdings müssen wir zugeben, dass im Römischen Reich die Lage weder für die Verkündigung des Evangeliums noch für den Kampf für die Gerechtigkeit oder die Verteidigung der Menschenwürde günstig war. Zu allen Zeiten der Geschichte gibt es die menschliche Schwachheit, die krankhafte Suche nach sich selbst, den bequemen Egoismus und schließlich die Begierde, die uns allen auflauert. Diese gibt es immer, in der einen oder anderen Form; sie rührt mehr von den menschlichen Grenzen als von den Umständen her. Sagen wir also nicht, dass es heute schwieriger ist; es ist anders. Lernen wir indessen von den Heiligen, die uns vorangegangen sind und die die jeweiligen Schwierigkeiten ihrer Zeit angepackt haben. Deswegen schlage ich euch vor, dass wir einen Moment innehalten, um einige Motivationen wiederzugewinnen, die uns helfen, sie heute nachzuahmen.207
Die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu
264. Der erste Beweggrund, das Evangelium zu verkünden, ist die Liebe Jesu, die wir empfangen haben; die Erfahrung, dass wir von ihm gerettet sind, der uns dazu bewegt, ihn immer mehr zu lieben. Aber was für eine Liebe ist das, die nicht die Notwendigkeit verspürt, darüber zu sprechen, geliebt zu sein, und dies zu zeigen und bekannt zu machen? Wenn wir nicht den innigen Wunsch verspüren, diese Liebe mitzuteilen, müssen wir im Gebet verweilen und ihn bitten, dass er uns wieder eine innere Ergriffenheit empfinden lässt. Wir müssen ihn jeden Tag anflehen, seine Gnade erbitten, dass er unser kaltes Herz aufbreche und unser laues und oberflächliches Leben aufrüttle. Wenn wir mit offenem Herzen vor ihm stehen und zulassen, dass er uns anschaut, erkennen wir diesen Blick der Liebe, den Natanael an dem Tag entdeckte, als Jesus ihm begegnete und sagte: »Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen« (Joh 1,48). Wie schön ist es, vor einem Kreuz zu stehen oder vor dem Allerheiligsten zu knien und einfach vor seinen Augen da zu sein! Wie gut tut es uns, zuzulassen, dass er unser Leben wieder anrührt und uns antreibt, sein neues Leben mitzuteilen! Was also geschieht, ist letztlich, dass wir das, »was wir gesehen und gehört haben, […] verkünden« (1 Joh 1,3). Die beste Motivation, sich zu entschließen, das Evangelium mitzuteilen, besteht darin, es voll Liebe zu betrachten, auf seinen Seiten zu verweilen und es mit dem Herzen zu lesen. Wenn wir es auf diese Weise angehen, wird uns seine Schönheit in Staunen versetzen, uns wieder und wieder faszinieren. Dazu ist es notwendig, einen kontemplativen Geist wiederzuerlangen, der uns jeden Tag neu entdecken lässt, dass wir Träger eines Gutes sind, das menschlicher macht und hilft, ein neues Leben zu führen. Es gibt nichts Besseres, das man an die anderen weitergeben kann.
265. Das ganze Leben Jesu, seine Art, mit den Armen umzugehen, seine Gesten, seine Kohärenz, seine tägliche und schlichte Großherzigkeit und schließlich seine Ganzhingabe – alles ist wertvoll und spricht zum eigenen Leben. Sooft einer dies wieder entdeckt, ist er davon überzeugt, dass es genau das ist, was die anderen brauchen, auch wenn sie es nicht erkennen: »Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, verkünde ich euch« (Apg 17,23). Mitunter verlieren wir die Begeisterung für die Mission, wenn wir vergessen, dass das Evangelium auf die tiefsten Bedürfnisse der Menschen antwortet. Denn wir alle wurden für das erschaffen, was das Evangelium uns anbietet: die Freundschaft mit Jesus und die brüderliche Liebe. Wenn es gelingt, den wesentlichen Inhalt des Evangeliums angemessen und schön zum Ausdruck zu bringen, wird diese Botschaft sicher zu den tiefsten Sehnsüchten der Herzen sprechen: »Der Missionar geht […] von der Überzeugung aus, dass sowohl bei den Einzelnen als auch bei den Völkern durch das Wirken des Geistes schon eine – wenn auch unbewusste – Erwartung da ist, die Wahrheit über Gott, über den Menschen, über den Weg zur Befreiung von Sünde und Tod zu erfahren. Die Begeisterung bei der Verkündigung Christi kommt von der Überzeugung, auf diese Erwartung antworten zu können.«208
Die Begeisterung für die Evangelisierung gründet in dieser Überzeugung. Wir haben einen Schatz an Leben und Liebe, der nicht trügen kann, eine Botschaft, die nicht manipulieren noch enttäuschen kann. Es ist eine Antwort, die tief ins Innerste des Menschen hinab fällt und ihn stützen und erheben kann. Es ist die Wahrheit, die nicht aus der Mode kommt, denn sie ist in der Lage, dort einzudringen, wohin nichts anderes gelangen kann. Unsere unendliche Traurigkeit kann nur durch eine unendliche Liebe geheilt werden.
266. Diese Überzeugung aber wird von der eigenen, stets neuen Erfahrung getragen, seine Freundschaft und seine Botschaft zu genießen. Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dass es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu haben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln zu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten, anbeten und in ihm ruhen zu können oder es nicht tun zu können. Es ist nicht das Gleiche, zu versuchen, die Welt mit seinem Evangelium aufzubauen oder es nur mit dem eigenen Verstand zu tun. Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mit ihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leichter ist, in allem einen Sinn zu finden. Deswegen verkünden wir das Evangelium. Der wahre Missionar, der niemals aufhört, Jünger zu sein, weiß, dass Jesus mit ihm geht, mit ihm spricht, mit ihm atmet, mit ihm arbeitet. Er spürt, dass der lebendige Jesus inmitten der missionarischen Arbeit bei ihm ist. Wenn einer Jesu Gegenwart nicht im Herzen des missionarischen Einsatzes selbst entdeckt, verliert er schnell die Begeisterung und hört auf, dessen sicher zu sein, was er weitergibt; es fehlt ihm an Kraft und Leidenschaft. Und ein Mensch, der nicht überzeugt, begeistert, sicher, verliebt ist, überzeugt niemanden.
267. Mit Jesus vereint, suchen wir, was er sucht, lieben wir, was er liebt. Letztlich suchen wir die Ehre des Vaters und leben und handeln „zum Lob seiner herrlichen Gnade (Eph 1,6). Wenn wir uns rückhaltlos und beständig hingeben wollen, müssen wir über jede andere Motivation hinausgehen. Dies ist das endgültige, tiefste, größte Motiv, der letzte Grund und Sinn von allem anderen: Es geht um die Herrlichkeit des Vaters, die Jesus während seines ganzen Lebens suchte. Er ist der Sohn, der ewig glücklich mit seinem ganzen Sein »am Herzen des Vaters ruht« (Joh 1,18). Wenn wir Missionare sind, dann vor allem deswegen, weil Jesus uns gesagt hat: »Mein Vater wird dadurch verherrlich, dass ihr reiche Frucht bringt« (Joh 15,8). Über all das hinaus, was uns liegt oder nicht, was uns interessiert oder nicht, uns nützlich ist oder nicht, über die engen Grenzen unserer Wünsche, unseres Verstehens und unserer Beweggründe hinaus verkünden wir das Evangelium zur größeren Ehre des Vaters, der uns liebt.
Das geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein
268. Das Wort Gottes lädt uns auch ein zu erkennen, dass wir ein Volk sind: »Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk« (1 Petr 2,10). Um aus tiefster Seele Verkünder des Evangeliums zu sein, ist es auch nötig, ein geistliches Wohlgefallen daran zu finden, nahe am Leben der Menschen zu sein, bis zu dem Punkt, dass man entdeckt, dass dies eine Quelle höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk. Wenn wir vor dem gekreuzigten Jesus verweilen, erkennen wir all seine Liebe, die uns Würde verleiht und uns trägt; wenn wir aber nicht blind sind, beginnen wir zugleich wahrzunehmen, dass dieser Blick Jesu sich weitet und sich voller Liebe und innerer Glut auf sein ganzes Volk richtet. So entdecken wir wieder neu, dass er uns als Werkzeug nehmen will, um seinem geliebten Volk immer näher zu kommen. Er nimmt uns aus der Mitte des Volkes und sendet uns zum Volk, sodass unsere Identität nicht ohne diese Zugehörigkeit verstanden werden kann.
269. Jesus selbst ist das Vorbild dieser Entscheidung zur Verkündigung des Evangeliums, die uns in das Herz des Volkes hineinführt. Wie gut tut es uns, zu sehen, wie er allen so nahe ist! Wenn Jesus mit jemandem sprach, sah er ihn in tiefer liebevoller Zuneigung an: »Jesus sah ihn an und liebte ihn« (Mk 10,21). Wir sehen ihn zugänglich, als er sich dem Blinden auf dem Weg nähert (vgl. Mk 10.46-52) und als er mit den Sündern isst und trinkt (vgl. Mk 2,16), ohne sich darum zu kümmern, dass einige ihn als Fresser und Säufer betrachten (vgl. Mt 11,19). Wir sehen ihn verfügbar, als er zulässt, dass eine Dirne seine Füße salbt (vgl. Lk 7,36-50), oder als er Nikodemus des Nachts empfängt (vgl. Joh 3,1-15). Die Hingabe Jesu am Kreuz ist nichts anderes als der Höhepunkt dieses Stils, der sein ganzes Leben prägte. Von seinem Vorbild fasziniert, möchten wir uns vollständig in die Gesellschaft eingliedern, teilen wir das Leben mit allen, hören ihre Sorgen, arbeiten materiell und spirituell mit ihnen in ihren Bedürfnissen, freuen uns mit denen, die fröhlich sind, weinen mit denen, die weinen, und setzen uns Seite an Seite mit den anderen für den Aufbau einer neuen Welt ein. Aber wir tun dies nicht aus Pflicht, nicht wie eine Last, die uns aufreibt, sondern in einer persönlichen Entscheidung, die uns mit Freude erfüllt und eine Identität gibt.
270. Zuweilen verspüren wir die Versuchung, Christen zu sein, die einen sicheren Abstand zu den Wundmalen des Herrn halten. Jesus aber will, dass wir mit dem menschlichen Elend in Berührung kommen, dass wir mit dem leidenden Leib der anderen in Berührung kommen. Er hofft, dass wir darauf verzichten, unsere persönlichen oder gemeinschaftlichen Zuflüchte zu suchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kern des menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben, damit wir dann akzeptieren, mit dem konkreten Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu kommen und die Kraft der Zartheit kennen lernen. Wenn wir das tun, wird das Leben für uns wunderbar komplex, und wir machen die tiefe Erfahrung, Volk zu sein, die Erfahrung, zu einem Volk zu gehören.
271. Es ist wahr, dass wir in unserer Beziehung mit der Welt aufgefordert sind, Rede und Antwort zu stehen für unsere Hoffnung, aber nicht als Feinde, die anzeigen und verurteilen. Sehr klar werden wir ermahnt: »Aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig« (1 Petr 3,16), und: »Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!« (Röm 12,18). Ebenso werden wir aufgefordert zu versuchen, »das Böse durch das Gute« zu besiegen (Röm 12,21), ohne müde zu werden, »das Gute zu tun« (Gal 6,9), und ohne höher erscheinen zu wollen, »sondern in Demut schätze der eine den andern höher ein als sich selbst« (Phil 2,3). Tatsächlich waren die Apostel des Herrn »beim ganzen Volk beliebt« (Apg 2,47; vgl. 4,21.33; 5,13). Es ist klar, dass Jesus Chris-tus uns nicht als Fürsten will, die abfällig herabschauen, sondern als Männer und Frauen des Volkes. Das ist nicht die Meinung eines Papstes, noch eine pastorale Option unter möglichen anderen. Es sind so klare, direkte und überzeugende Weisungen des Wortes Gottes, dass sie keiner Interpretation bedürfen, die ihnen nur ihre mahnende Kraft nehmen würden. Leben wir sie »sine glossa« – ohne Kommentare. Auf diese Weise erfahren wir die missionarische Freude, das Leben mit dem Volk zu teilen, das Gott treu ist, und versuchen zugleich, das Feuer im Herzen der Welt zu entzünden.
272. Die Liebe zu den Menschen ist eine geistliche Kraft, welche die volle Begegnung mit Gott erleichtert, denn wer den Bruder nicht liebt, »geht in der Finsternis« (1 Joh 2,11), »bleibt im Tod« (1 Joh 3,14) und »hat Gott nicht erkannt« (1 Joh 4,8). Benedikt XVI. sagte, »dass die Abwendung vom Nächsten auch für Gott blind macht«209 und dass die Liebe letztlich das einzige Licht ist, »das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt.«210 Wenn wir daher die „Mystik“ leben, auf die anderen zuzugehen und ihr Wohl zu suchen, weiten wir unser Inneres, um die schönsten Geschenke des Herrn zu empfangen. Jedes Mal wenn wir einem Menschen in Liebe begegnen, werden wir fähig, etwas Neues von Gott zu entdecken. Jedes Mal wenn wir unsere Augen öffnen, um den anderen zu erkennen, wird unser Glaube weiter erleuchtet, um Gott zu erkennen. Infolgedessen können wir, wenn wir im geistlichen Leben wachsen wollen, nicht darauf verzichten, missionarisch zu sein. Die Aufgabe der Evangelisierung bereichert Herz und Sinn, eröffnet uns geistliche Horizonte, macht uns empfänglicher, um das Wirken des Heiligen Geistes zu erkennen, und führt uns aus unseren engen geistlichen Schablonen heraus. Gleichzeitig erfährt ein engagierter Missionar die Freude, eine Quelle zu sein, die überfließt und die anderen erfrischt. Missionar kann nur sein, wer sich wohl fühlt, wenn er das Wohl des anderen sucht, das Glück der anderen will. Diese Öffnung des Herzens ist ein Quell des Glücks, denn »geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,35). Keiner hat ein besseres Leben, wenn er die anderen flieht, sich versteckt, sich weigert teilzunehmen, widersteht zu geben, sich in seine Bequemlichkeit einschließt. Dies kommt vielmehr einem langsamen Selbstmord gleich.
273. Die Mission im Herzen des Volkes ist nicht ein Teil meines Lebens oder ein Schmuck, den ich auch wegnehmen kann; sie ist kein Anhang oder ein zusätzlicher Belang des Lebens. Sie ist etwas, das ich nicht aus meinem Sein ausreißen kann, außer ich will mich zerstören. Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dass man selber „gebrandmarkt” ist für diese Mission, Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, aufzurichten, zu heilen, zu befreien. Da zeigt sich, wer aus ganzer Seele Krankenschwester, aus ganzer Seele Lehrer, aus ganzer Seele Politiker ist – diejenigen, die sich zutiefst dafür entschieden haben, bei den anderen und für die anderen da zu sein. Wenn hingegen einer die Pflicht auf der einen Seite und die Privatsphäre auf der anderen Seite voneinander trennt, dann wird alles grau, und er wird ständig Anerkennung suchen oder seine eigenen Bedürfnisse verteidigen. So wird er aufhören, „Volk“ zu sein.
274. Um das Leben mit den Menschen zu teilen und uns ihnen großherzig zu widmen, müssen wir auch anerkennen, dass jeder Mensch unserer Hingabe würdig ist. Nicht wegen seiner körperlichen Gestalt, seiner Fähigkeiten, seiner Sprache, seines Denkens oder der Befriedigung, die wir erhalten, sondern weil er Werk Gottes, sein Geschöpf ist. Dieser hat ihn als sein Abbild erschaffen, und er spiegelt etwas von Gottes Herrlichkeit wider. Jeder Mensch ist Objekt der unendlichen zarten Liebe des Herrn, und er selbst wohnt in seinem Leben. Jesus Christus hat sein kostbares Blut am Kreuz für diesen Menschen vergossen. Jenseits aller äußeren Erscheinung ist jeder unendlich heilig und verdient unsere Liebe und unsere Hingabe. Deswegen, wenn ich es schaffe, nur einem Menschen zu helfen, ein besseres Leben zu haben, rechtfertigt dies schon den Einsatz meines Lebens. Es ist schön, gläubiges Volk Gottes zu sein. Und die Fülle erreichen wir, wenn wir die Wände einreißen und sich unser Herz mit Gesichtern und Namen füllt!
Das geheimnisvolle Wirken des Auferstandenen und seines Geistes
275. Im zweiten Kapitel haben wir über den Mangel an tiefer Spiritualität nachgedacht, der im Pessimismus, Fatalismus und Misstrauen seinen Niederschlag findet. Manche Menschen setzen sich nicht für die Mission ein, da sie meinen, dass nichts verändert werden kann, und es ihnen dann sinnlos erscheint, sich anzustrengen. Sie denken so: „Warum soll ich auf meine Annehmlichkeiten und Vergnügen verzichten, wenn ich kein bedeutendes Ergebnis sehen werde?“ Mit solcher Haltung wird es unmöglich, Missionar zu sein. Diese Haltung ist gerade eine üble Ausrede, um in der Bequemlichkeit, in der Faulheit, in der unbefriedigten Traurigkeit und der selbstsüchtigen Leere eingeschlossen zu bleiben. Es handelt sich um eine selbstzerstörerische Haltung, denn »der Mensch kann nicht ohne Hoffnung leben; sein Leben wäre zur Bedeutungslosigkeit verurteilt und würde unerträglich.«211 Wenn wir denken, die Dinge werden sich nicht ändern, dann erinnern wir uns daran, dass Jesus Christus die Sünde und den Tod besiegt hat und voller Macht ist. Jesus Christus lebt wirklich. Anders hieße das: »Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos« (1 Kor 15,14). Das Evangelium berichtet uns, was geschah, als die ersten Jünger auszogen und predigten: »Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung (Mk 16,20). Das geschieht auch heute. Wir sind eingeladen, es zu entdecken, es zu leben. Der auferstandene und verherrlichte Christus ist die tiefe Quelle unserer Hoffnung, und wir werden nicht ohne seine Hilfe sein, um die Mission zu erfüllen die er uns anvertraut.
276. Seine Auferstehung gehört nicht der Vergangenheit an; sie beinhaltet eine Lebenskraft, die die Welt durchdrungen hat. Wo alles tot zu sein scheint, sprießen wieder überall Anzeichen der Auferstehung hervor. Es ist eine unvergleichliche Kraft. Es ist wahr, dass es oft so scheint, als existiere Gott nicht: Wir sehen Ungerechtigkeit, Bosheit, Gleichgültigkeit und Grausamkeit, die nicht aufhören. Es ist aber auch gewiss, dass mitten in der Dunkelheit immer etwas Neues aufkeimt, das früher oder später Frucht bringt. Auf einem eingeebneten Feld erscheint wieder das Leben, hartnäckig und unbesiegbar. Es mag viel Dunkles geben, doch das Gute neigt dazu, immer wiederzukommen, aufzukeimen und sich auszubreiten. Jeden Tag wird in der Welt die Schönheit neu geboren, die durch die Stürme der Geschichte verwandelt wieder aufersteht. Die Werte tendieren dazu, immer wieder auf neue Weise zu erscheinen, und tatsächlich ist der Mensch oft aus dem, was unumkehrbar schien, zu neuem Leben erstanden. Das ist die Kraft der Auferstehung, und jeder Verkünder des Evangeliums ist ein Werkzeug dieser Dynamik.
277. Ebenso treten ständig neue Schwierigkeiten auf, die Erfahrung des Misserfolgs, die menschlichen Kleinlichkeiten, die sehr wehtun. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass manchmal eine Aufgabe nicht die Befriedigung bietet, die wir wünschten, die Ergebnisse gering sind und die Veränderungen langsam; man ist versucht, überdrüssig zu werden. Jedoch ist es nicht das Gleiche, wenn einer aus Überdruss die Arme vorübergehend hängen lässt oder wenn er sie für immer hängen lässt, weil er von einer chronischen Unzufriedenheit beherrscht wird, von einer Trägheit, welche seine Seele austrocknet. Es kann vorkommen, dass das Herz des Ringens überdrüssig wird, weil es im Grunde sich selbst sucht in einem Karrierestreben, das nach Anerkennung, Beifall, Auszeichnungen und Rang dürstet. Dann lässt einer nicht die Arme hängen, sondern hat kein Charisma mehr, es fehlt ihm die Auferstehung. So bleibt das Evangelium, die schönste Botschaft, die diese Welt hat, unter vielen Ausreden begraben.
278. Glaube bedeutet auch, Gott zu glauben, zu glauben, dass es wahr ist, dass er uns liebt, dass er lebt, dass er fähig ist, auf geheimnisvolle Weise einzugreifen, dass er uns nicht verlässt, dass er in seiner Macht und seiner unendlichen Kreativität Gutes aus dem Bösen hervorgehen lässt. Es bedeutet zu glauben, dass er siegreich in der Geschichte fortschreitet zusammen mit den »Berufenen, Auserwählten und Treuen« (Offb 17,14). Glauben wir dem Evangelium, das sagt, dass das Reich Gottes schon in der Welt da ist, hier und dort auf verschiedene Art und Weise wächst – wie das kleine Samenkorn, das zu einem großen Baum werden kann (vgl. Mt 13,31-32), wie die Hand voll Sauerteig, der eine große Masse durchsäuert (vgl. Mt 13,33), und wie der gute Samen, der mitten unter dem Unkraut wächst (vgl. Mt 13,24-30) – und uns immer angenehm überraschen kann. Es ist da, es kommt wieder, es kämpft, um von neuem zu blühen. Die Auferstehung Christi bringt überall Keime dieser neuen Welt hervor; und selbst wenn sie abgeschnitten werden, treiben sie wieder aus, denn die Auferstehung des Herrn hat schon das verborgene Treiben dieser Geschichte durchdrungen, denn Jesus ist nicht umsonst auferstanden. Bleiben wir in diesem Lauf der lebendigen Hoffnung keine Randfiguren!
279. Da wir nicht immer diese aufkeimenden Sprossen sehen, brauchen wir eine innere Gewiss-heit und die Überzeugung, dass Gott in jeder Situation handeln kann, auch inmitten scheinbarer Misserfolge, denn »diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen« (2 Kor 4,7). Diese Gewissheit ist das, was »Sinn für das Mysterium« genannt wird. Es bedeutet, mit Bestimmtheit zu wissen, dass sicher Frucht bringen wird (vgl. Joh 15,5), wer sich Gott aus Liebe darbringt und sich ihm hingibt. Diese Fruchtbarkeit ist oft nicht sichtbar, nicht greifbar und kann nicht gemessen werden. Man weiß wohl, dass das eigene Leben Frucht bringen wird, beansprucht aber nicht zu wissen wie, wo oder wann. Man hat die Sicherheit, dass keine der Arbeiten, die man mit Liebe verrichtet hat, verloren geht, dass keine der ehrlichen Sorgen um den Nächsten, keine Tat der Liebe zu Gott, keine großherzige Mühe, keine leidvolle Geduld verloren ist. All das kreist um die Welt als eine lebendige Kraft. Manchmal kommt es uns vor, als habe unsere Arbeit kein Ergebnis gebracht, aber die Mission ist weder ein Geschäft noch ein unternehmerisches Projekt, sie ist keine humanitäre Organisation, keine Veranstaltung, um zu zählen, wie viele dank unserer Propaganda daran teilgenommen haben; es ist etwas viel Tieferes, das sich jeder Messung entzieht. Vielleicht verwendet der Herr unsere Hingabe, um Segen zu spenden an einem anderen Ort der Welt, wo wir niemals hinkommen werden. Der Heilige Geist handelt wie er will, wann er will und wo er will; wir aber setzen uns ohne den Anspruch ein, auffällige Ergebnisse zu sehen. Wir wissen nur, dass unsere Hingabe notwendig ist. Lernen wir, in den zärtlichen Armen des Vaters zu ruhen, inmitten unserer kreativen und großherzigen Hingabe. Machen wir weiter, geben wir ihm alles, aber lassen wir zu, dass er es ist, der unsere Mühen fruchtbar macht, wie es ihm gefällt.
280. Um den missionarischen Eifer lebendig zu halten, ist ein entschiedenes Vertrauen auf den Heiligen Geist vonnöten, denn er »nimmt sich unserer Schwachheit an« (Röm 8,26). Aber dieses großherzige Vertrauen muss genährt werden, und dafür müssen wir den Heiligen Geist beständig anrufen. Er kann alles heilen, was uns im missionarischen Bemühen schwächt. Es ist wahr, dass dieses Vertrauen auf den Unsichtbaren in uns ein gewisses Schwindelgefühl hervorrufen kann: Es ist wie ein Eintauchen in ein Meer, wo wir nicht wissen, was auf uns zu kommen wird. Ich selbst habe das viele Male erlebt. Es gibt aber keine größere Freiheit, als sich vom Heiligen Geist tragen zu lassen, darauf zu verzichten, alles berechnen und kontrollieren zu wollen, und zu erlauben, dass er uns erleuchtet, uns führt, uns Orientierung gibt und uns treibt, wohin er will. Er weiß gut, was zu jeder Zeit und in jedem Moment notwendig ist. Das heißt, in geheimnisvoller Weise fruchtbar sein!
Die missionarische Kraft des Fürbittgebets
281. Es gibt eine Gebetsform, die uns besonders anspornt, uns der Evangelisierung zu widmen, und uns motiviert, das Wohl der anderen zu suchen: das Fürbittgebet. Schauen wir für einen Augenblick in das Innere eines großen Evangelisierers wie des heiligen Paulus, um zu verstehen, wie sein Gebet war. Dieses Gebet war angefüllt mit Menschen: »Immer, wenn ich für euch alle bete, tue ich es mit Freude […] weil ich euch ins Herz geschlossen habe« (Phil 1,4.7). So entde-cken wir, dass uns das Fürbittgebet nicht von der echten Betrachtung abbringt, denn die Betrachtung, welche die anderen draußen lässt, ist eine Täuschung.
282. Diese Haltung wird auch zu einem Dank an Gott für die anderen: »Zunächst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle« (Röm 1,8). Es ist ein beständiges Danken: »Ich danke Gott jederzeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch in Christus Jesus geschenkt wurde« (1 Kor 1,4). »Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke« (Phil 1,3). Es ist kein ungläubiger, negativer und hoffnungsloser Blick, sondern ein geistlicher Blick aus tiefem Glauben, der anerkennt, was Gott selbst in ihnen wirkt. Zugleich ist es die Dankbarkeit, die einem Herzen entspringt, das wirklich aufmerksam ist gegenüber den anderen. Auf diese Weise ist das Herz des Evangelisierenden, wenn er sich vom Gebet erhebt, großzügiger geworden, befreit von einer abgeschotteten Geisteshaltung und begierig, das Gute zu tun und das Leben mit den anderen zu teilen.
283. Die großen Männer und Frauen Gottes waren große Fürbitter. Das Fürbittgebet ist wie ein „Sauerteig“ im Schoß der Dreifaltigkeit. Es ist ein Eingehen in den Vater und ein Entde-cken neuer Dimensionen, welche die konkreten Situationen erhellen und verändern. Wir können sagen, dass das Herz Gottes durch unser Fürbittgebet gerührt wird, aber in Wirklichkeit kommt er uns immer zuvor, und was wir mit unserem Fürbittgebet ermöglichen, ist, dass seine Macht, seine Liebe und seine Treue sich mit größerer Klarheit unter dem Volk zeigen.
II. Maria, die Mutter der Evangelisierung
284. Zusammen mit dem Heiligen Geist ist mitten im Volk immer Maria. Sie versammelt die Jünger, um ihn anzurufen (Apg 1,14), und so hat sie die missionarische Explosion zu Pfingsten möglich gemacht. Maria ist die Mutter der missionarischen Kirche, und ohne sie können wir den Geist der neuen Evangelisierung nie ganz verstehen.
Ein Geschenk Jesu an sein Volk
285. Am Kreuz, als Jesus in seinem Fleisch die dramatische Begegnung zwischen der Sünde der Welt und dem Erbarmen Gottes erlitt, konnte er zu seinen Füßen die tröstliche Gegenwart seiner Mutter und seines Freundes sehen. In diesem entscheidenden Augenblick, ehe er das Werk vollbrachte, das der Vater ihm aufgetragen hatte, sagte Jesus zu Maria: »Frau, siehe, dein Sohn!« Dann sagte er zum geliebten Freund: »Siehe, deine Mutter!« (Joh 19,26.27). Diese Worte Jesu an der Schwelle des Todes drücken in erster Linie nicht eine fromme Sorge um seine Mutter aus, sondern sind vielmehr eine Aussage der Offenbarung, die das Geheimnis einer besonderen Heilssendung zum Ausdruck bringt. Jesus hinterließ uns seine Mutter als unsere Mutter. Erst nachdem er das getan hatte, konnte Jesus spüren, dass »alles vollbracht war« (Joh 19,28). Zu Füssen des Kreuzes, in der höchsten Stunde der neuen Schöpfung führt uns Christus zu Maria. Er führt uns zu ihr, da er nicht will, dass wir ohne eine Mutter gehen, und das Volk liest in diesem mütterlichen Bild alle Geheimnisse des Evangeliums. Dem Herrn gefällt es nicht, dass seiner Kirche das weibliche Bild fehlt. Maria, die ihn in großem Glauben zur Welt brachte, begleitet auch »ihre übrigen Nachkommen, die den Geboten Gottes gehorchen und an dem Zeugnis für Jesus festhalten« (Offb 12,17). Die innere Verbindung zwischen Maria, der Kirche und jedem Gläubigen, insofern sie auf verschiedene Art und Weise Christus hervorbringen, wurde vom seligen Isaak von Stella sehr schön zum Ausdruck gebracht: »Was daher in den von Gott inspirierten Schriften von der jungfräulichen Mutter Kirche in umfassendem Sinn gesagt wird, das gilt von der Jungfrau Maria im Einzelnen. […] Leicht erkennt der Verstand in beiden auch die glaubende Seele, die Braut des Wortes Gottes, die Mutter Christi, Tochter und Schwester, Jungfrau und fruchtbare Mutter. […] Im Mutterschoß Marias als seinem Zelt weilte Christus neun Monate; im Zelt der glaubenden Kirche bis ans Ende der Welt; in der Erkenntnis und Liebe der glaubenden Seele bleibt er auf ewig.«212
286. Maria versteht es, mit ein paar ärmlichen Windeln und einer Fülle zärtlicher Liebe einen Tierstall in das Haus Jesu zu verwandeln. Sie ist die Magd des Vaters, die in Lobpreis ausbricht. Sie ist die Freundin, die stets aufmerksam ist, dass der Wein in unserem Leben nicht fehlt. Sie, deren Herz von einem Schwert durchdrungen wurde, versteht alle Nöte. Als Mutter von allen ist sie Zeichen der Hoffnung für die Völker, die Geburtswehen leiden, bis die Gerechtigkeit hervorbricht. Sie ist die Missionarin, die uns nahe kommt, um uns im Leben zu begleiten, und dabei in mütterlicher Liebe die Herzen dem Glauben öffnet. Als wahre Mutter geht sie mit uns, streitet für uns und verbreitet unermüdlich die Nähe der Liebe Gottes. Durch die verschiedenen marianischen Anrufungen, die gewöhnlich mit den Heiligtümern verbunden sind, teilt sie die Geschichte jedes Volkes, das das Evangelium angenommen hat, und wird zu einem Teil seiner geschichtlichen Identität. Viele christliche Väter bitten darum, dass ihre Kinder in einem Marienheiligtum getauft werden, und zeigen damit ihren Glauben an das mütterliche Wirken Marias, die für Gott neue Kinder hervorbringt. Dort in den Heiligtümern kann man beobachten, wie Maria ihre Kinder um sich versammelt, die unter großer Anstrengung als Pilger kommen, um sie zu sehen und von ihr gesehen zu werden. Hier finden sie die Kraft Gottes, um die Leiden und Mühen des Lebens zu ertragen. Wie dem heiligen Juan Diego gibt sie ihnen mit zärtlicher Liebe ihren mütterlichen Trost und flüstert ihnen zu: »Dein Herz beunruhige sich nicht […] Bin denn ich, die ich doch deine Mutter bin, etwa nicht hier?«213
Der Stern der neuen Evangelisierung
287. Die Mutter des lebendigen Evangeliums bitten wir um ihre Fürsprache, dass diese Einladung zu einer neuen Phase der Verkündigung des Evangeliums von der ganzen Gemeinschaft der Kirche angenommen werde. Sie ist die Frau des Glaubens, die im Glauben lebt und unterwegs ist,214 und »ihr außergewöhnlicher Pilgerweg des Glaubens stellt so einen bleibenden Bezugspunkt dar für die Kirche«.215 Sie ließ sich vom Heiligen Geist auf einem Weg des Glaubens zu einer Bestimmung des Dienstes und der Fruchtbarkeit führen. Heute richten wir unseren Blick auf sie, dass sie uns helfe, allen die Botschaft des Heils zu verkünden, und dass alle neuen Jünger zu Verkündern des Evangeliums werden.216 Auf diesem Pilgerweg der Evangelisierung fehlen nicht die Phasen der Trockenheit, des Dunkels bis hin zu mancher Mühsal, wie sie Maria während der Jahre in Nazaret erlebt hat, als Jesus heranwuchs: »Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der guten, frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer, in jenem Anfang auch eine besondere Mühe des Herzens zu erkennen, die mit einer gewissen „Nacht des Glaubens“ verbunden ist – um ein Wort des heiligen Johannes vom Kreuz zu gebrauchen –, gleichsam ein „Schleier“, durch den hindurch man sich dem Unsichtbaren nahen und mit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muss. Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Vertrautheit mit dem Geheimnis ihres Sohnes und schritt voran auf ihrem Glaubensweg.«217
288. Es gibt einen marianischen Stil bei der missionarischen Tätigkeit der Kirche. Denn jedes Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind, die nicht andere schlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtig zu fühlen. Wenn wir auf Maria schauen, sehen wir, dass diejenige, die Gott lobte, weil er »die Mächtigen vom Thron stürzt« und »die Reichen leer ausgehen lässt« (vgl. Lk 1,52.53), in unsere Suche nach Gerechtigkeit Geborgenheit bringt. Auch bewahrt sie sorgfältig »alles in ihrem Herzen und denkt darüber nach« (vgl. Lk 2,19). Maria weiß, die Spuren des Geistes Gottes in den großen Geschehnissen zu erkennen und auch in denen, die nicht wahrnehmbar scheinen. Sie betrachtet das Geheimnis Gottes in der Welt, in der Geschichte und im täglichen Leben von jedem und allen Menschen. Sie ist die betende und arbeitende Frau in Nazaret, und sie ist auch unsere Frau von der unverzüglichen Bereitschaft, die aus ihrem Dorf aufbricht, um den anderen »eilends« (vgl. Lk 1,39) zu helfen. Diese Dynamik der Gerechtigkeit und der Zärtlichkeit, des Betrachtens und des Hingehens zu den anderen macht Maria zu einem kirchlichen Vorbild für die Evangelisierung. Wir bitten sie, dass sie uns mit ihrem mütterlichen Gebet helfe, damit die Kirche ein Haus für viele werde, eine Mutter für alle Völker, und dass die Entstehung einer neuen Welt möglich werde. Der Auferstandene sagt uns mit einer Macht, die uns mit großer Zuversicht und fester Hoffnung erfüllt: »Seht, ich mache alles neu« (Offb 21,5). Mit Maria gehen wir vertrauensvoll diesem Versprechen entgegen und sagen zu ihr:
Jungfrau und Mutter Maria,
vom Heiligen Geist geführt
nahmst du das Wort des Lebens auf,
in der Tiefe deines demütigen Glaubens
ganz dem ewigen Gott hingegeben.
Hilf uns, unser »Ja« zu sagen
angesichts der Notwendigkeit, die dringlicher ist denn je,
die Frohe Botschaft Jesu erklingen zu lassen.
Du, von der Gegenwart Christi erfüllt,
brachtest die Freude zu Johannes dem Täufer
und ließest ihn im Schoß seiner Mutter frohlocken.
Du hast, bebend vor Freude,
den Lobpreis der Wundertaten Gottes gesungen.
Du verharrtest standhaft unter dem Kreuz
in unerschütterlichem Glauben
und empfingst den freudigen Trost der Auferstehung,
du versammeltest die Jünger
in der Erwartung des Heiligen Geistes,
damit die missionarische Kirche entstehen konnte.
Erwirke uns nun einen neuen Eifer als Auferstandene,
um allen das Evangelium des Lebens zu bringen,
das den Tod besiegt.
Gib uns den heiligen Wagemut, neue Wege zu suchen,
damit das Geschenk der Schönheit, die nie erlischt,
zu allen gelange.
Du, Jungfrau des hörenden Herzens und des Betrachtens,
Mutter der Liebe, Braut der ewigen Hochzeit,
tritt für die Kirche ein, deren reinstes Urbild du bist,
damit sie sich niemals verschließt oder still steht
in ihrer Leidenschaft, das Reich Gottes aufzubauen.
Anmerkungen:
205 Vgl. Propositio, 36.
206 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo Millennio ineunte (6. Januar 2011), 52: AAS 93 (2001), 304.
207 Vgl. V. M. Fernández, Espiritualidad para la esperanza activa. Acto de apertura del I Congreso Nacional de Doctrina social de la Iglésia, Rosario (Argentinien) 2011, in: UCActualidad 142, (2011), 16.
208 Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 45: AAS 83 (1991), 292.
209 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 16: AAS 98 (2006), 230.
210 Ibid., 39: AAS 98 (2006), 250.
211 II. Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa, Schlussbotschaft, 1: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 29, Nr. 46 (12. November 1999), S. 10.
212 Isaak von Stella, Sermo 51: PL 194,1863.1856.
213 Nican Mopohua, 118-119.
214 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 52-69.
215 Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25. März 1987), 6: AAS 79 (1987), 366.
216 Vgl. Propositio 58.
217 Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris Mater (25. März 1987), 17: AAS 79 (1987), 381.