Im Jahr 1977 hat Marie-Dominique Chenu in der Zeitschrift Concilium einen Artikel über das Wirken einer Gruppe von Bischöfen und Theologen zugunsten einer Kirche der Armen während des Zweiten Vatikanischen Konzils verfasst. Diese Gruppe, die sich im Belgischen Kolleg zu treffen pflegte, ist gleichzeitig diejenige, die auch für den sogenannten Katakombenpakt steht. Wir dokumentieren den Artikel hier auszugsweise:
[…] Als die Konzilsväter dann während der ersten Sitzungsperiode den vorkonziliaren Entwurf in Stücke rissen, um von einer autoritären Kirche zu einer Kirche überzugehen, die Volk Gottes sein wollte, in einer Gemeinschaft, die im Mysterium Christi ihren Ursprung hat, da war es normal, daß gerade darin die Sensibilität für die menschlichen und evangelischen Probleme der Armut wach wurde. Ziel war es, zugleich die Amtsgewalt zugunsten des Zeugnisses umzugestalten und den messianischen Forderungen der Frohen Botschaft zu genügen.
Im Verlauf der letzten Wochen der Debatten dieser Konzilsperiode (2.-7. Dezember 1962) kam zu den entscheidenden Interventionen der Kardinäle Suenens, Montini und Frings, die das Konzept des ursprünglichen Schemas umstürzten, eine wesentliche Erklärung von Kardinal Lercaro, Erzbischof von Bologna, hinzu. Er erklärte:
„Als ich die Inhaltsübersicht des Schemas, das uns gestern ausgehändigt worden ist, durchlas, war ich nicht wenig überrascht und erschüttert über folgenden Mangel: Alle Schemata, die uns ausgehändigt worden sind oder uns noch ausgehändigt werden, scheinen mit diesem Entwurf, der ausdrücklich und formal mit der geschichtlichen Konjunktur übereinstimmt, folgende wesentliche und ursprüngliche Offenbarung des Christusgeheimnisses außer acht zu lassen: Jenen Aspekt, der von den Propheten vorhergesagt wurde als Zeichen des messianischen Konsekration Christi, jenen Aspekt, der in der Geburt, der Kindheit, dem verborgenen Leben und dem öffentlichen Wirken Jesu sichtbar wurde, jenen Aspekt, der das Gesetz und die Grundlage der Gottesherrschaft darstellt, jenen Aspekt, der jedem Ausgießen von Gnade und dem ganzen Leben der Kirche seine besondere Prägung gibt… Wir werden unserer Aufgabe nicht wirklich gerecht, wenn wir das Geheimnis Christi in den Armen und die Evangelisierung der Armen nicht zum Zentrum, zur Seele der doktrinalen und gesetzgebenden Arbeit dieses Konzils machen. Es darf nicht ein Thema des Konzils unter anderen sein, sondern muß die zentrale Frage werden. Thema dieses Konzils ist die Kirche, insbesondere insofern sie eine Kirche der Armen ist.“ […]
Schon in den ersten Tagen des Konzils war nämlich durch Erzbischof Hakim von Nazareth und Bischof Himmer von Tournai ein kleiner Aufsatz von P. Paul Gauthier, einem früheren Professor am Priesterseminar in Dijon, Frankreich, und dann Arbeiterpriester in Nazareth, mit dem Titel „Jesus, die Kirche und die Armen“ verteilt worden. Gut fünfzig Bischöfe und rund 30 Konzilsexperten, die je nach ihrer Art und ihrem geographischen und apostolischen Lebensraum für das evangelische Problem der Armut sensibilisiert waren, hatten sich am 26. Oktober 1962 im Belgischen Kolleg versammelt. […]
Die Intervention mehrerer Mitglieder dieser Kommission in der Konzilsaula ließen ihre Erfahrungen, Analysen, Lehren und Vorhaben in das Gewebe der Konzilsdebatten eingehen. Mehrere Dokumente von großem Wert gingen von dieser Gruppe aus, die es sich im übrigen zur Pflicht gemacht hatte, äußerste Diskretion walten zu lassen, um weder die Bischöfe der reichen Länder noch die der armen zu kränken. […]
So wurden während des ganzen Verlaufs des Konzils, bei vielen Gelegenheiten und in allen Bereichen Verweise auf die Armut als wesentlichen Bestandteil christlicher Existenz eingefügt. So in dem Kapitel über die Vollkommenheit (Lumen Gentium 42), in das Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe (Nr. 13), bei der Aufzählung der Funktionen und Aufgaben der Priester (Nr. 20) und schließlich und vor allem in das Konzept der Konstitution „Gaudium et Spes“, insbesondere in das Kapitel über das Wirtschaftsleben, das vom Geist der Seligpreisungen durchdrungen werden muß (Nr. 72). Man kann das Wort paupertas im Stichwortverzeichnis der offiziellen Ausgabe der Konzilstexte (S. 1233) nachschlagen.
Man muß hier den grundlegenden Text, „Lumen Gentium“ Nr. 8, wörtlich zitieren, denn dort ist ausdrücklich die grundlegende Bedeutung der Rolle der Armen innerhalb des Mysteriums der Kirche aufgezeigt:
„Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen. ‚Christus Jesus hat, obwohl er doch in Gottesgestalt war, … sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen‘ (Phil 2,6); um unseretwillen ist er arm geworden, obwohl er doch reich war (2 Kor 8,9). So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten. Christus wurde vom Vater gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind (Lk 4,18), zu suchen und zu retten, was verloren war (Lk 1910). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“
[…] Dieses Mysterium drückt sich in zwei Bereichen aus, die in dem Text ausdrücklich unterschieden werden: Einerseits wird die Kirche über alle Versuchung zur Macht hinaus zu einer gelebten Armut als Zeugnis für die Armut Christi verpflichtet; hier wird die „Kirche als arme“ angesprochen. Andererseits muß die erste Sorge der Kirche den Armen gelten, denen sie die Frohe Botschaft der Befreiung durch den Messias verkünden muß. „Ich bin gekommen, um zu dienen, nicht um mich bedienen zu lassen“: Die Kirche muß Dienst sein und nicht in erster Linie Macht.
Im Verlauf der beiden letzten Sitzungsperioden des Konzils sollte, insbesondere auch für die Redaktion der zweiten Konstitution über „Die Kirche in der Welt von heute“ die immer wirksamere Teilnahme der Bischöfe der armen Länder, der Dritten Welt, wie man sie nennt, eine immer größere Rolle spielen, um diese mystische Sicht zu vertiefen und deren konkrete Forderungen deutlich zu machen.
Unter so vielen Entwicklungen im Verlauf des Konzils wollen wir auf jene Entscheidung hinweisen, die von Anfang an von der Gruppe im Belgischen Kolleg angeregt worden war, nämlich die, eine Kommission zu errichten, die sich an der Spitze der Kirche und in jeder Nation mit den Problemen der sozialen und politischen Gerechtigkeit befassen sollte. Dies führte zu der offiziellen Komission „Justitia et Pax“ […]
aus: Marie-Dominique Chenu, „Kirche der Armen“ auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Concilium 13 (1977), Heft 4, Seiten 232-235.