Evangelii Gaudium – Ein Papst läßt die Kirche hinter sich

Wieder einmal meldet sich Papst Franziskus zu Wort. Und ist seiner Kirche in vielen Dingen so beängstigend voraus, dass er sie weit hinter sich lässt. Scheinbar zumindest. Denn seine Worte zur Weltlichkeit, zur gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche („Wer würde es wagen, die Botschaft des heiligen Franz von Assisi und der seligen Teresa von Kalkutta in ein Gotteshaus einzuschließen und zum Schweigen zu bringen?“, 183) sind für die Befreiungstheologie keine wirklich neuen Worte. Seine Rede vom „menschlichen Abfall“, den der gegenwärtige globale Kapitalismus produziert, stammen aus dem Abschlussdokument der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Aparecida von 2007 *. Seine deutliche Verurteilung der gegenwärtigen Weltverhältnisse, die sich durch fast alle seine bisherigen Äußerungen ziehen, erinnern die Kirche daran, dass sie eine „arme Kirche für die Armen“ zu sein hat, wenn sie verantwortlich vom christlichen Gott reden will: Zwangsarbeit und Sklaverei, Armut, Obdachlosigkeit und Flucht haben ihren Grund in einem in der Wurzel ungerechten Wirtschaftssystem, das Menschen tötet (59). „Eine arme Kirche für die Armen“, das sind Worte, die viele Christ_innen (Laien wie Kleriker) gerade bei uns hier überhaupt nicht verstehen. Sie weisen solche Worte nicht unbedingt zurück. Nein, sie verstehen sie überhaupt nicht. Was heißt „Option für die Armen“? Was haben die Armen mit der frohen Botschaft, mit Gott zu tun?

Mindestens der bundesdeutsche katholische mainstream ist sprachlos angesichts solch linksradikaler Gesellschaftskritik. Der Klerus übt sich in weiten Teilen in vornehmer, vermutlich ratloser Zurückhaltung (vom Limburger Bischof mal abgesehen). Ermutigt dürfen sich allerdings all jene in der Kirche fühlen, die an deren Rande schon lange auf der Seite der Flüchtlinge und Migranten, auf der Seite der Armen und Obdachlosen standen, die auch in Institutionen und Werken Kirche für die Armen sein wollen. Der neue Papst hat uns einen Raum eröffnet, in einer Sprache, die viele von uns noch sprachlos macht. Hier ist es an der Zeit, sich zu Wort zu melden. (Wie z.B. hier)

Die Worte zur notwendigen Kirchenreform, zur Infragestellung der Unfehlbarkeit des Papstes in gewissen Fragen, zur Kollegialität der Bischöfe, zur Bedeutung der Bischofskonferenzen weisen darauf hin, dass der Papst bereit ist, jene Strukturen in Frage zu stellen, die, neben dem konservativen Mittelschichtskatholizismus das größte Hindernis einer armen Kirche für die Armen sind. Aber jenes angedeutete Kirchenverständnis eines mündigen Christentums fordert gerade von uns, unser Schweigen über die gegenwärtigen Verhältnisse in Kirche und Welt aufzugeben. Dieser Papst wird ohne uns mit seinem Programm scheitern: an uns und an der Kurie.

Der Linkskatholizismus ist durch den Papst zugleich allerdings auch vor große Herausforderungen gestellt: In Gesellschaftsanalyse und Kirchenreform (Kurie und Eucharistieverständnis) gibt es viele Übereinstimmungen. An einem Punkt aber doch erheblichen Dissens: Franziskus hält am alleinigen Priesterstand für Männer fest und verkennt damit die Bedeutung des patriarchalen Klerikalismus für die unerträgliche Stagnation der Kirche, die er selbst kritisiert. Und er ist offenkundig nicht bereit, die Einstellung der Kirche zur Abtreibung zu ändern („Die Kirche werde ihre Einstellung in der Frage der Abtreibung nicht ändern“ 214). Was werden die Frauen dazu sagen?

Die Zitate stammen aus Evangelii Gaudium von:

http://de.radiovaticana.va/news/2013/11/26/papstschreiben_evangelii_gaudium:_eine_zusammenfassung/ted-750010

* Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik. Stimmen der Weltkirche Nr. 41, S. 55f.